Kapitel 13

Der Diener des Herzogs war in der Tat so freundlich, wie seine Stimme geklungen hatte: ein etwas kurz geratener, selbstsicherer Mann von nicht ganz fünfzig Jahren mit leicht hervortretenden Augen, dessen Auftreten etwas von der natürlichen Güte des Herzogs hatte. Das Haus, über das er herrschte, war, wie ein Schild verriet, vom 1. März bis 30. November täglich für das Publikum geöffnet. Der Herzog selbst lebte, wie ich erfuhr, im oberen Drittel des Südwestflügels.

«Der Herzog erwartet Sie, Sir. Wenn Sie mir bitte folgen wollen.«

Ich folgte ihm. Die Strecke, die wir zurücklegten, erklärte die vier Minuten, die ich hatte warten müssen, bis der Herzog ans Telefon kam, und auch seine Atemlosigkeit. Wir gingen drei Treppen hinauf, eine vierhundert Meter lange Gerade entlang und eine weitere Treppe hinauf ins Dachgeschoß. Vom Dachgeschoß eines herrschaftlichen Anwesens aus dem 18. Jahrhundert bis zur Eingangshalle war es ein langer Weg. Der Diener öffnete eine weiß gestrichene Tür und bat mich hinein.

«Mr. Shore, Euer Gnaden.«

«Kommen Sie herein, kommen Sie herein, mein lieber Junge«, sagte der Herzog.

Ich ging hinein und mußte vor Begeisterung spontan lächeln. In dem niedrigen, quadratischen Raum war auf einem unregelmäßigen Ring von breiten, grün bezogenen

Tischplatten eine gewaltige elektrische Eisenbahn aufgebaut. Ein Kopfbahnhof, Nebengleise, zwei kleine Städtchen, eine Zweiglinie, Tunnel, Steigungen, Überführungen

— der Herzog hatte einfach alles. Im Zentrum des Rings stand er mit seinem Neffen Matthew hinter einer großen Schalttafel, von der aus sie ungefähr sechs Züge auf verschiedenen Kursen über die Anlage rasseln ließen.

Der Herzog stieß seinen Neffen an.»Siehst du, habe ich es dir nicht gesagt? Es gefällt ihm.«

Der kleine Matthew warf mir einen flüchtigen Blick zu und wandte sich dann wieder einer schwierigen Folge von Weichenstellungen zu.»Das war doch klar. Sieht man ihm ja an.«

Der Herzog sagte:»Sie können am besten unter diesem Tisch dort mit dem Stellwerk und dem Bahnübergang hindurchkriechen. «Er zeigte mir, welchen er meinte, und ich ließ mich auf alle Viere nieder und machte mich auf den Weg. Stand im Zentrum der Anlage wieder auf, ließ meinen Blick über die vielen parallelen Gleise schweifen und mußte an die hoffnungslose Sehnsucht denken, die ich als Kind in Spielzeugläden empfunden hatte: Mein Vater war ein schlecht bezahlter Schulmeister gewesen, der sein Geld für Bücher ausgab.

Die beiden Modellbahner zeigten mir, wo die Strecken sich kreuzten und wie man die Züge umleiten konnte, ohne daß es zu Zusammenstößen kam. Ihre Stimmen waren erfüllt von Zufriedenheit, ihre Augen glänzten, und ihren Gesichtern sah man an, wie sehr sie bei der Sache waren.

«Hab das alles natürlich nach und nach aufgebaut«, sagte der Herzog.»Hab schon als Junge damit angefangen. Bin dann jahrelang nicht mehr hier heraufgekommen. Erst wieder, als der kleine Matthew alt genug war. Und jetzt haben wir hier zusammen, wie Sie ja selbst sehen, einen Mordsspaß.«

«Wir überlegen, ob wir nicht eine Nebenstrecke durch die Wand ins nächste Zimmer legen«, sagte Matthew.»Hier ist nicht mehr genug Platz.«

Der Herzog nickte.»Nächste Woche vielleicht. Zu deinem Geburtstag.«

Der kleine Matthew bedachte ihn mit einem breiten Grinsen und ließ geschickt einen Zug mit Pullmanwagen drei Sekunden vor einem dampfenden Güterzug über eine Kreuzung fahren.»Es wird dunkel«, stellte er fest.»Zeit für die Beleuchtung.«

«So ist es«, stimmte der Herzog zu.

Matthew drückte mit schwungvoller Gebärde auf einen Knopf, und dann beobachteten beide meinen Gesichtsausdruck. An allen Haltestellen, Bahnhöfen, Stellwerken und auch in den Signalen selbst leuchteten mit einem Schlag winzige elektrische Lichter auf. Für meine Augen ein überwältigender Anblick.

«Da siehst du es«, sagte der Herzog.»Es gefällt ihm.«

«War doch klar«, sagte der kleine Matthew.

Sie spielten noch eine geschlagene Stunde lang mit der Eisenbahn, denn sie hatten einen Fahrplan ausgearbeitet und wollten nun feststellen, ob sie die Zeiten darin auch einhalten konnten, bevor sie ihn an die Anschlagtafel im Kopfbahnhof hefteten. Der Herzog entschuldigte sich nicht übermäßig reumütig, daß er mich warten ließ, aber es sei, so erklärte er, Matthews erster Abend in den Ferien, und sie hatten das ganze Schuljahr über auf diese Gelegenheit gewartet.

Um zwanzig vor elf hielt der letzte Vorortzug am Puffer im Kopfbahnhof, und Matthew gähnte. Mit dem zufriedenen Gefühl, ihre Sache gut gemacht zu haben, entfalteten die beiden Eisenbahner einige große Staub schutzdecken und breiteten sie sorgfältig über die stillen Gleise aus, und dann krochen wir alle drei unter der Platte mit dem Bahnübergang hindurch.

Der Herzog ging voran — eine Treppenflucht hinunter, dann die Gerade von vierhundert Metern entlang, wo wir, wie es den Anschein hatte, seine Wohnräume erreichten.

«Du flitzt jetzt besser ins Bett, Matthew«, sagte er zu seinem Neffen.»Wir sehen uns morgen früh. Punkt acht Uhr draußen bei den Ställen.«

«Geht klar«, sagte Matthew.»Und danach dann die Rennen. «Er seufzte vor Zufriedenheit.»Besser als Schule«, sagte er.

Der Herzog führte mich in einen kleineren, weiß gestrichenen Wohnraum mit Orientteppichen, Ledersesseln und zahllosen Sportfotos.

«Etwas zu trinken?«schlug er vor und deutete auf ein Tablett.

Ich warf einen Blick auf die Flaschen.»Whisky bitte.«

Er nickte, schüttete zwei Whisky ein, verlängerte mit Wasser, gab mir mein Glas und wies auf einen der Sessel.

«Also, mein lieber Junge?«

Mir kam es plötzlich schwierig vor, ihn zu fragen, wonach ich ihn fragen wollte; wie sollte ich es ihm erklären? Er war so offenkundig ehrlich, eines Betruges so wenig fähig: Ich fragte mich, ob er wohl je eine Schurkerei durchschaut hatte.

«Annie Villars hat mir von Ihrem Pferd Rudiments erzählt«, sagte ich.

Ein leichtes Runzeln auf seiner Stirn.»Sie hat sich über mich geärgert, weil ich mich von ihrem Freund Rupert Tyderman habe beraten lassen… Bereite Annie gar nicht gerne Kummer, aber ich hatte es versprochen… Jedenfalls, sie hat sich dann sehr gut damit abgefunden, glaube ich, und jetzt, da sich herausgestellt hat, daß ihr Freund so ungewöhnlich… mit dieser Bombe, meine ich… Ich glaube nicht, daß er sich weiter um Rudiments kümmern will.«

«Hat er Ihnen irgendwelche Freunde vorgestellt, Sir?«

«Meinen Sie Eric Goldenberg? Ja, das hat er. Kann aber nicht sagen, daß ich diesen Burschen sehr gemocht hätte. Habe ihm nicht getraut, wissen Sie. Der kleine Matthew konnte ihn auch nicht leiden.«

«Hat Goldenberg mit Ihnen jemals über Versicherungen gesprochen?«

«Versicherungen?«wiederholte er.»Nein, ich kann mich nicht erinnern, daß er das jemals getan hätte.«

Ich überlegte. Es mußte die Versicherung sein.

Es mußte einfach.

«Es war sein anderer Freund«, sagte der Herzog,»der die Versicherungsgeschichte in Gang gebracht hat.«

Ich starrte ihn an.»Welcher andere Freund?«

«Charles Carthy-Todd.«

Ich stutzte.»Wer?«

«Charles Carthy-Todd«, wiederholte er geduldig.»Er war ein Bekannter von Rupert Tyderman. Tyderman hat uns irgendwann bekannt gemacht. Bei den Rennen in Newmarket, denke ich. Jedenfalls war es Charles, der den Vorschlag mit der Versicherung machte. Sehr guter Plan, wie ich fand. Grundsolide. Wurde dringend gebraucht. Ein echter Segen für sehr viele Leute.«

«Die Unfallversicherung für Rennbahnbesucher«, sagte ich.»Deren Schirmherr Sie sind.«

«Richtig. «Er lächelte.»Hat große Zustimmung gefunden, daß ich meinen Namen dafür zur Verfügung gestellt habe. Alles in allem ein ganz ausgezeichnetes Vorhaben.«

«Könnten Sie mir etwas mehr darüber erzählen, wie es zustande kam?«

«Interessieren Sie sich für Versicherungen, mein lieber Junge? Ich könnte Sie bei Lloyd’s einführen… aber…«

Ich lächelte. Wer bei Lloyd’s einsteigen wollte, für den durfte ein Einsatz von hunderttausend Pfund nicht mehr als Kleingeld sein. Der Herzog in seiner stillen, gutmütigen Art war in der Tat ein sehr reicher Mann.

«Nein, Sir. Ich interessiere mich nur für diese Unfallversicherung. Wie sie zustande kam und wie sie geführt wird.«

«Charles kümmert sich um das alles, mein lieber Junge. Sieht ganz so aus, als seien diese Dinge für mich völlig unbegreiflich, wissen Sie. Technische Einzelheiten. Beschäftige mich lieber mit Pferden, das wissen Sie doch, oder?«

«Ja, Sir, das weiß ich. Können Sie mir dann vielleicht etwas über Mr. Carthy-Todd sagen? Welchen Eindruck er macht und so weiter?«

«Er hat ungefähr Ihre Größe, ist aber viel schwerer, hat dunkles Haar und trägt eine Brille. Ich glaube, er hat einen Schnurrbart… Ja, so ist es, einen Schnurrbart.«

Mir fuhr es durch alle Glieder. Des Herzogs Beschreibung von Charles Carthy-Todd stimmte fast genau mit der Nancys von dem Mann überein, den sie zusammen mit Tyderman im Auto gesehen hatte. Allerdings gab es Dutzende von Männern mit dunklem Haar, mit Schnurrbart, mit Brille…

«Ich meinte eigentlich, Sir, seinen — ähh — Charakter.«

«Mein lieber Junge. Solide. Grundsolide. Ein durch und durch guter Kerl. Versicherungsexperte, war jahrelang bei einer großen Firma in London.«

«Und — seine Herkunft?«hakte ich nach.

«War in Rugby. Hat danach gleich eine Stelle angetreten. Gute Familie natürlich.«

«Haben Sie sie kennengelernt?«

Die Frage überraschte ihn.»Nicht persönlich, nein. Reine Geschäftsbeziehung, die mich mit Charles verbindet. Ich glaube, seine Familie kommt aus Herfordshire. Er hat Fotos in unserem Büro… Land, Pferde, Hunde, Frau und Kinder — Sie wissen schon. Warum fragen Sie?«

Ich zögerte.»Ist er mit dem vollständig ausgearbeiteten Plan für die Versicherung an Sie herangetreten?«

Er schüttelte sein edles Haupt.»Nein, nein, mein lieber Junge. Es entwickelte sich im Gespräch. Wir sprachen darüber, welch trauriges Los die Familie dieses kleinen Hindernistrainers hat, der an seinem freien Tag ertrunken ist, und wie schade es sei, daß es nicht irgendeine Versicherung für alle gebe, die mit Pferderennen zu tun haben, und nicht nur für die Jockeys. Als wir es dann in die Praxis umgesetzt haben, weiteten wir es aus und schlossen auch noch das Rennpublikum mit ein. Charles meinte, wir könnten im Schadensfall um so mehr auszahlen, je höher unsere Einnahme an Prämien wäre.«

«Ich verstehe.«

«Wir haben schon einiges an Gutem bewirkt. «Er lächelte glücklich.»Charles erzählte mir neulich, daß wir inzwischen drei Fälle von Verletzungen erledigt haben und daß die davon Betroffenen so erfreut waren, daß sie fleißig Propaganda für uns machen.«

Ich nickte.»Ich habe einen von ihnen kennengelernt. Er hatte sich den Knöchel gebrochen und tausend Pfund bekommen.«

Er strahlte.»Na also, da sehen Sie es ja.«

«Wann wurde die ganze Sache denn richtig gestartet?«

«Lassen Sie mich überlegen. Im Mai, würde ich meinen. Gegen Ende Mai. Ungefähr vor zwei Monaten. Wir brauchten, nachdem wir uns entschlossen hatten, natürlich noch eine Weile, um alles auf die Beine zu stellen.«

«Hat Charles alles organisiert?«

«Mein lieber Junge, selbstverständlich.«

«Haben Sie einmal einen Ihrer Freunde bei Lloyd’s um seine Meinung dazu gefragt?«

«Nicht notwendig, wissen Sie. Charles ist ja selber ein Fachmann. Er hat alle Papiere fertig gemacht. Ich habe sie nur unterschrieben.«

«Aber Sie haben sie vorher gelesen?«

«O ja«, sagte er beruhigend und lächelte dann wie ein Kind.»Habe natürlich nicht viel davon verstanden.«

«Und Sie persönlich stellen das Geld zur Verfügung?«Seit dem Zusammenbruch einiger Billig-Autoversicherer mußten privat betriebene Versicherungen eine Mindestreserve von fünfzigtausend Pfund nachweisen, damit das Handelsministerium sie genehmigte. Das hatte ich irgendwo gelesen.

«Das ist richtig.«

«Fünfzigtausend Pfund?«

«Wir meinten, hunderttausend seien vielleicht besser. Gibt der ganzen Sache eine bessere Grundlage, mehr Gewicht, meinen Sie nicht auch?«

«Hat Charles das gesagt?«

«Er kennt sich in solchen Dingen aus.«

«Ja.«

«Selbstverständlich brauche ich dieses Geld nicht wirklich zu zahlen. Es handelt sich nur um eine Garantie der

Vertrauenswürdigkeit, damit dem Buchstaben des Gesetzes Genüge getan ist. Die Einnahmen aus den Versicherungsprämien werden ausreichen, um die Schadensfälle zu regulieren und Charles’ Gehalt und alle anderen Kosten zu decken. Charles hat alles genau ausgearbeitet. Und ich habe ihm gleich zu Anfang gesagt, daß ich keinen Gewinn für mich beanspruchen wolle, nur weil ich der Sache meinen Namen geliehen habe. Ich brauche tatsächlich keine Gewinne. Ich habe ihm gesagt, er solle meinen Anteil in den Fonds für die Auszahlungen einfließen lassen, und er fand, das sei ein sehr vernünftiger Vorschlag. Unser ganzes Ziel ist es ja, verstehen Sie, etwas Gutes zu tun.«

«Sie sind ein einmalig freundlicher, zuvorkommender und großzügiger Mann, Sir«, sagte ich.

Das war ihm peinlich.»Mein lieber Junge.«

«Und nach dem, was heute abend in den Nachrichten kam, glaube ich, daß einige Witwen in Newmarket Sie segnen werden.«

«Welche Nachrichten?«

Ich erzählte ihm von dem Unfall, bei dem Kitch und Ambrose und drei Pferdepfleger ums Leben gekommen waren. Er war entsetzt.

«O Gott, die armen Kerle. Die armen Kerle. Man kann nur hoffen, daß Sie recht haben und daß sie unserer Versicherung beigetreten sind.«

«Werden die Einnahmen, die Sie bisher hatten, ausreichen, um so viele große Ansprüche gleichzeitig zu befriedigen?«

Er war nicht beunruhigt.»Das nehme ich an. Charles wird dafür gesorgt haben. Und wenn es nicht der Fall sein sollte, dann werde ich die Differenz selbst übernehmen. Niemand wird Not leiden. Das ist ja gerade der Sinn einer Garantie, Sie verstehen doch?«»Ja, Sir.«

«Kitch und Ambrose«, sagte er.»Die armen Kerle.«

«Und Kenny Bayst liegt im Krankenhaus, schwer verletzt.«

«Oje. «Sein Kummer war echt. Er war betroffen.

«Ich weiß, daß Kenny Bayst sich bei Ihnen versichert hat. Zumindest hat er mir gesagt, er habe vor, es zu tun. Und nach diesem Unfall sollten Sie eigentlich von Aufnahmeanträgen überschwemmt werden.«

«Ich nehme an, daß Sie recht haben. Sie scheinen ja etwas davon zu verstehen, genau wie Charles.«

«Hatte Charles irgendwelche Pläne, um dem Geschäft zu einem schnellen Start zu verhelfen?«

«Ich kann Ihnen nicht recht folgen, mein lieber Junge.«

«Wie hat es sich denn auf die Versicherung ausgewirkt«, fragte ich beiläufig,»daß die Bombe in dem Flugzeug explodierte, mit dem Colin Ross geflogen war?«

Er blickte mich freudig an.»Wissen Sie, da haben mir viele Leute gesagt, sie wollten der Versicherung beitreten. Sie meinten, diese Geschichte habe sie nachdenklich gemacht. Ich fragte Charles dann, ob die Leute es auch wahr gemacht hätten, und er sagte, ja, es seien eine ganze Reihe Anfragen eingegangen. Ich sagte noch, da ja niemand verletzt worden sei, sei die Bombe für die Versicherung wohl eine gute Sache gewesen, und Charles war überrascht und stimmte mir zu.«

Charles hatte den Herzog durch Rupert Tyderman kennengelernt. Und Rupert Tyderman hatte die Bombe gezündet. Daß Charles Carthy-Todd der letzte war, den der Einnahmeanstieg nach der Explosion überrascht hatte, stand außer Frage. Er hatte damit gerechnet. Er hatte richtig gerechnet.

«Charles hat Handzettel ausgegeben, in denen jedermann aufgefordert wird, sich gegen Bomben auf dem Heimweg zu versichern«, sagte ich.

Der Herzog lächelte.»Ja, das ist richtig. Ich glaube, das war sehr effektiv. Verstehen Sie, wir dachten, es sei nichts dabei, da ja niemand verletzt worden war.«

«Und da Colin Ross an Bord der Maschine war, ist über den Bombenanschlag im Fernsehen und in den Zeitungen ausgiebig berichtet worden… Das hat eine größere Wirkung für Ihre Versicherung gehabt, als wenn es irgend jemand anders gewesen wäre.«

Die Stirn des Herzogs legte sich in Falten.»Ich bin mir nicht sicher, ob ich Sie richtig verstehe.«

«Es hatte nichts zu sagen, Sir. Ich habe nur laut gedacht.«

«Kann man sich sehr schnell angewöhnen. Tue das selbst ständig, wissen Sie.«

Der zweite Sabotageakt von Carthy-Todd und Tyderman hatte sich vermutlich nicht so gut ausgezahlt. Zwar hatten sie sicherlich die gleiche öffentliche Wirkung und landesweite Berichterstattung erzielt, indem sie Colin zum Ziel des Anschlags machten, aber ich konnte mir denken, daß sich die Sache damit zu offensichtlich und zu einseitig auf eine Person richtete, um eine große allgemeine Wirkung zu erzielen. Konnte mich natürlich täuschen…

«Das war wirklich ein sehr interessantes Gespräch«, sagte der Herzog.»Aber, mein lieber Junge, es wird spät. Sie wollten doch noch etwas mit mir besprechen?«

«Ähh…«Ich räusperte mich.»Wissen Sie, Sir, ich würde Mr. Carthy-Todd gern kennenlernen. Er scheint ein sehr zielstrebiger, unternehmungsfreudiger Mann zu sein.«

Der Herzog nickte beifällig.

«Wissen Sie vielleicht, wo ich ihn finden kann?«

«Heute abend, meinen Sie?«Er war verwirrt.

«Nein, Sir. Morgen ist es noch früh genug.«

«Ich nehme an, daß Sie ihn in unserem Büro antreffen werden. Er wird bestimmt da sein, weil er weiß, daß ich selbst einmal vorbeischauen will. Bei den Rennen in Warwick, verstehen Sie?«

«Das Büro der Versicherung… ist in Warwick?«

«Natürlich.«

«Wie dumm von mir«, sagte ich.»Das wußte ich nicht.«

Der Herzog zwinkerte mir zu.»Sie sind also der Versicherung noch nicht beigetreten.«

«Das werde ich morgen tun. Ich werde in Ihr Büro kommen. Ich werde auch bei den Rennen in Warwick sein.«

«Großartig«, sagte er.»Großartig. Das Büro ist nur ein paar hundert Meter von der Rennbahn entfernt. «Er griff mit zwei Fingern in eine Innentasche und zog eine Visitenkarte hervor.»Hier, bitte, mein lieber Freund. Die Adresse. Und wenn Sie ungefähr eine Stunde vor dem ersten Rennen da sind, werden Sie mich dort treffen, und ich kann Sie Charles vorstellen. Er wird Ihnen gefallen, da bin ich mir sicher.«

«Es wird mir ein Vergnügen sein«, sagte ich. Ich trank meinen Whisky aus und erhob mich.»Es war sehr freundlich von Ihnen, mich zu empfangen. und ich denke, Ihre Eisenbahn ist ganz ausgezeichnet.«

Er strahlte übers ganze Gesicht. Er begleitete mich den langen Weg bis zum Haupteingang und erzählte mir von dem kleinen Matthew und ihren gemeinsamen Plänen für die Ferien. Ob ich es so einrichten könnte, daß ich Donnerstag mit Matthew flöge, fragte er. Am Donnerstag hatte Matthew Geburtstag. Er wurde elf.

«Dann also Donnerstag«, stimmte ich zu.»Ich werde es abends machen, falls wir für tagsüber eine Buchung haben.«

«Sehr schön von Ihnen, mein lieber Junge.«

Ich sah in sein freundliches, vornehmes und argloses Gesicht. Wenn sein Partner Charles Carthy-Todd sich mit den inzwischen eingezahlten Prämien aus dem Staub machte, bevor die Witwen von Newmarket ausbezahlt waren, was er — dessen war ich mir im stillen sicher — zweifellos tun würde, dann würde der ehrenwerte Herzog von Wessex jeden Penny aus seiner eigenen Schatztruhe begleichen. Aller Wahrscheinlichkeit nach konnte er sich das leisten, aber das war nicht der springende Punkt. Es würde ihn verletzen, bestürzen und aufs äußerste bekümmern, in einen Betrug verwickelt worden zu sein, und es kam mir besonders bösartig vor, daß irgend jemand seine verletzliche Einfalt und Güte so ausnutzte.

Charles Carthy-Todd war dabei, einem Kind die Süßigkeiten wegzunehmen und es dann so hinzustellen, als habe das Kind diese Süßigkeiten selbst gestohlen. Man entwik-kelte rein instinktiv das Bedürfnis, den Herzog zu beschützen, und wünschte sich zwangsläufig, diese Sache zu beenden.

Ich sagte impulsiv:»Geben Sie auf sich acht, Sir.«

«Mein lieber Junge… Das werde ich.«

Ich ging die Treppenstufen vor dem Eingang hinunter zu Honeys Mini, der in der Auffahrt stand. Ich sah den Herzog noch einen Moment im gelben Rechteck von Licht stehen, das durch die Tür fiel. Er winkte freundlich und schloß langsam die Tür, und sein gütiger, aber leicht verwirrter Gesichtsausdruck verriet mir, daß er sich immer noch nicht ganz im klaren darüber war, warum ich ihn aufgesucht hatte.

Es war nach eins, als ich wieder im Wohnwagen saß. Ich war müde, hungrig und fühlte mich wegen Nancy hundsmiserabel, so daß ich in der Nacht nicht durchschlief. Um vier war ich wieder wach, hatte mein Bett zerwühlt wie im Fieber. Ich stand auf und wusch meine juckenden Augen mit kaltem Wasser: legte mich wieder hin, stand wieder auf, machte einen Gang über das Flugfeld. Die kühle, sternenklare Nacht durchdrang mein Hemd und tat meiner Haut gut, konnte aber auch nichts an dem hoffnungslosen Schmerz zwischen meinen Ohren ändern.

Um acht Uhr morgens holte ich Honey ab, nachdem ich ihren Mini an der nächstbesten Tankstelle vollgetankt hatte. Sie hatte ein paar Liter verdient bei dem Handel. Das ging in Ordnung.

Aber was nicht in Ordnung ging, waren die Neuigkeiten, mit denen sie mich begrüßte.

«Colin Ross möchte, daß Sie ihn anrufen. Er meldete sich gestern abend, ungefähr eine halbe Stunde, nachdem Sie abgedampft waren.«

«Hat er gesagt. weswegen?«

«Er bat mich, Ihnen eine Nachricht zu hinterlassen, aber ich habe es ehrlich gesagt vergessen. Ich war bis neun Uhr im Tower, und dann wollte mein Onkel schnell nach Hause, und ich bin mit ihm und habe völlig vergessen, Ihnen die Nachricht herunterzubringen. Und was machen ein paar Stunden auch schon aus?«

«Wie lautete denn die Nachricht?«

«Ich sollte Ihnen sagen, daß seine Schwester niemanden namens Chanter in Liverpool getroffen hat. Irgend etwas von einem Streik, und daß dieser Chanter nicht dort gewesen sei. Ich weiß es nicht mehr genau… Ich hatte gerade zwei Flugzeuge am Funkgerät und habe nicht so genau darauf achtgegeben. Wenn ich es mir jetzt überlege, dann hat er wohl großen Wert darauf gelegt, daß ich Ihnen die Nachricht gestern abend überbrachte, aber wie gesagt, ich habe es vergessen. Tut mir leid und so weiter. War es wichtig?«

Ich holte tief Luft. Wenn ich an die letzte Nacht dachte, hätte ich sie mit Wonne erwürgen mögen.»Danke fürs Ausrichten.«

Sie musterte mich prüfend.»Sie wirken ja völlig entkräftet. Haben Sie es die ganze Nacht über getrieben? Sie sehen nicht so aus, als seien Sie fit fürs Fliegen.«

«Habe mich selten besser gefühlt«, sagte ich wahrheitsgemäß.»Und nein, habe ich nicht.«

«Schonen Sie sich für mich.«

«Rechnen Sie nicht darauf.«

«Biest.«

Als ich vom Telefon im Wartesaal aus Colins Nummer wählte, kam Midge an den Apparat. Die Erleichterung in ihrer Stimme war genauso überwältigend wie meine eigene.

«Matt!.. «Ich hörte sie schlucken und wußte, daß sie mit den Tränen kämpfte.»O Matt — ich bin so froh, daß Sie anrufen. Sie ist Chanter nicht nachgelaufen. Sie hat es nicht getan. Es ist alles gut. Oje… nur einen Augenblick…«Sie schniefte und hatte danach ihre Stimme wieder unter Kontrolle.»Sie rief gestern abend an, und wir haben lange mit ihr gesprochen. Sie sagte, es tue ihr leid, daß sie uns so aufgeregt habe; sie sei im Grunde fortgegangen, weil sie so wütend auf sich selbst war, sich so gedemütigt fühlte, weil sie sich in solch dumme Träumereien über Sie verstrickt hatte… Sie sagte, es sei alles ihre eigene Schuld, daß Sie sie in keiner Weise getäuscht hätten, daß sie sich vielmehr selbst getäuscht hätte… Sie wollte uns sagen, daß sie nicht fortgelaufen ist, weil sie wütend auf Sie war, sondern weil sie glaubte, sich selbst zum Narren gemacht zu haben… Jedenfalls meinte sie, sie sei schon wieder ganz ruhig gewesen, als ihr Zug in Liverpool ankam, nur ein bißchen elend, und als sie dann feststellte, daß Chanter wegen des Streiks gar nicht da war, habe sie das wirklich erleichtert. Chanters Vermieterin habe ihr erzählt, wo er stecke — irgendwo in Manchester, um Fabrikschornsteine zu bemalen, meinte sie —, aber Nancy war sich inzwischen klar darüber, daß sie Chanter gar nicht wollte… und sie wußte nicht mehr recht weiter, sie war immer noch etwas verwirrt. und dann traf sie an der Kunstakademie eine ehemalige Kommilitonin von uns aus Londoner Zeiten. Sie war gerade im Aufbruch zu einem Campingurlaub in der Nähe von Stratford, und… nun, Nancy entschloß sich, mit ihr zu gehen. Sie meinte, ein paar Tage Ruhe und etwas Landschaftsmalerei würden ihr wieder auf die Beine helfen… Also rief sie zu Hause an und hatte unsere Reinemachefrau am Apparat… Nancy schwört, sie hätte ihr gesagt, daß sie mit Jill zusammen sei und nicht mit Chanter, aber wir haben natürlich diesen Teil der Botschaft nie erhalten…«Sie schwieg, und als ich nicht sofort antwortete, sagte sie ängstlich:»Matt, sind Sie noch da?«

«Ja.«

«Sie waren so still.«

«Ich habe über die letzten vier Tage nachgedacht.«

Vier erbärmliche, zähe Tage. Vier endlose Nächte, die sich qualvoll langsam dahinschleppten. Und alles war unnötig gewesen. Sie war gar nicht mit Chanter zusammengewesen. Wenn ihr das, was sie mir unterstellt hatte, das Herz zerrissen hatte, so war es mir umgekehrt nicht besser ergangen. Womit wir, dachte ich, in etwa quitt wären.

«Colin hat ihr gesagt, sie hätte Sie nach dieser Verurteilung fragen sollen, statt selbst voreilige Schlüsse zu ziehen«, sagte Midge.

«Sie hat sie nicht selbst gezogen, sie wurde dazu verleitet.«

«Ja. Das weiß sie jetzt. Sie ist ziemlich fassungslos. Am liebsten würde sie Sie in Warwick gar nicht treffen — nachdem sie alles so vermasselt hat…«

«Ich werde ihr schon nicht den Kopf abreißen.«

Sie lachte ein wenig.»Ich werde sie beschützen. Ich fahre zusammen mit Colin hin, wir werden uns also sehen.«

«Wunderbar.«

«Colin ist gerade draußen beim Galopp. Wir brechen auf, wenn er zurück ist und etwas gegessen hat.«

«Sagen Sie ihm, er soll vorsichtig fahren. Er soll an Ambrose denken.«

«Ja… Ist das nicht entsetzlich mit diesem Unfall?«

«Wissen Sie genau, was passiert ist?«

«Offensichtlich hat Ambrose versucht, in einer Kurve einen langsamen Laster zu überholen, und dabei kam ihm ein weiterer entgegen. Mit dem stieß er frontal zusammen, woraufhin sich einer der Lastwagen überschlug und das nächste Auto, in dem die drei Pferdepfleger saßen, zerquetschte. In der Sporting Life von heute wird ausführlich darüber berichtet.«

«Dann werde ich es ja wohl zu lesen bekommen. Und Midge… Sagen Sie Colin dankeschön für seine Nachricht von gestern abend.«

«Das mache ich. Er sagte, er wolle nicht, daß Sie sich weiter quälen. Er meinte offenbar, daß Sie sich fast so viel Sorgen um Nancy gemacht haben wie wir.«

«Fast«, stimmte ich trocken zu.»Wir sehen uns in Warwick.«

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