Nach dem fünften Rennen verkündete Chanter düster, ungefähr fünfzig Studenten der Bildhauerklasse warteten darauf, daß er ihrem Ego ein paar Streicheleinheiten verpaßte, und obwohl er das System verachtete, würde es mit dem Essen und so weiter wahrscheinlich schwierig werden, wenn er es tatsächlich auf eine Kündigung ankommen ließ. Den Abschied von Nancy nutzte er, um sie mit den Händen ausgiebig zu betasten — vorne und hinten — und ihr mit offenem Mund einen Kuß zu verpassen, der dank ihrem blitzschnellen Ausweichmanöver auf ihrem Ohr landete.
Er warf mir einen wütenden Blick zu, als sei das meine Schuld. Da Nancy unerbittlich war, sah er sie schmollend an und murmelte etwas von Salz, drehte sich dann auf seinem nicht vorhandenen Absatz um, so daß das Tischtuch mitsamt allen Haaren und Fransen und Perlen mit zentrifugaler Kraft herumwirbelte, und eilte im Laufschritt dem Ausgang entgegen.
«Seine Fußsohlen sind wie Leder«, sagte sie.»Ekelhaft. «Aber aus einem Anflug von Nachsicht in ihrer Miene schloß ich, daß Chanters Sache noch nicht völlig verloren war.
Sie sagte, sie habe wieder Durst und könne eine Cola vertragen, und da sie mich anscheinend immer noch mitschleppen wollte, ließ ich mich schleppen. Diesmal — ohne Chanter — gingen wir in die für Mitglieder des Rennver-
eins reservierte Bar in den Klubräumen; sie lag ebenerdig und war von der Haupteingangshalle her erreichbar.
Der Mann mit dem Gipsbein war auch wieder da. Anderes Publikum, gleiche Geschichte. Seine lautstarke, fröhliche Stimme dröhnte durch die kleine Bar und hallte noch durch den ganzen Eingangsbereich nach draußen.
«Man versteht ja sein eigenes Wort nicht«, sagte Nancy.
In einer Ecke am anderen Ende des Raums saßen Major Tyderman und Eric Goldenberg an einem kleinen Tisch mit Gläsern vor sich, die nach dreifachem Whisky aussahen. Sie steckten ihre Köpfe dicht zusammen, damit sie in dem ganzen Lärm hören konnten, was der andere sagte, ohne daß irgend jemand sie belauschen konnte. Ihre Beziehung schien im Augenblick nicht gerade eitel Sonnenschein zu sein. Ihre gesenkten Köpfe verrieten eine gehörige Portion Starrsinn und die flüchtigen Seitenblicke, mit denen sie einander gelegentlich bedachten, keinerlei Freundlichkeit.
«Der Sporting-Life-Mann«, sagte Nancy, die meinem Blick gefolgt war.
«Ja. Der größere ist auch einer meiner Passagiere.«
«Sie sehen nicht übermäßig glücklich aus.«
«Sie waren schon auf dem Hinweg nicht übermäßig glücklich.«
«Besitzer chronischer Verlierer?«
«Nein — das heißt, ich glaube nicht. Sie sind wegen Rudiments hergekommen, den Kenny Bayst für Annie Villars geritten hat, aber im Rennprogramm werden sie nicht als Besitzer genannt.«
Sie blätterte kurz ihr Programm durch.»Rudiments. Herzog von Wessex. Tja, das ist jedenfalls keiner von den beiden. Armer alter Trottel.«»Wer, der Herzog?«
«Ja«, sagte sie.»Ich glaube, er ist eigentlich noch gar nicht so alt, aber furchtbar einfältig. Großer Mann, der was hermacht, mit einem großen Titel, der was hermacht. Wirklich ein ganz lieber Kerl, aber nichts als Stroh im Kopf.«
«Sie kennen ihn gut?«
«Ich sehe ihn häufig.«
«Feiner Unterschied.«
«Ja.«
Schrammend schoben die beiden Männer ihre Stühle zurück und gingen auf den Ausgang der Bar zu. Der Mann mit dem Gipsbein erblickte sie, und sein breites Lächeln wurde noch breiter.
«Also, wenn das nicht Eric ist — Eric Goldenberg, ausgerechnet! Komm rüber, alter Sportsfreund, komm und laß uns was trinken.«
Goldenberg schien nicht sonderlich begeistert von der Einladung zu sein, und der Major machte hastig einen Schritt zur Seite, damit es ihn nicht auch erwischte. Er bedachte den Australier mit einem Blick, in den er die ganze Abscheu des Militärs gegen alles Grelle legte.
Der Gipsbein-Mann legte unbeholfen einen Arm um Goldenberg, wobei seine Krücke einen weiten Bogen beschrieb und Nancy traf.
«Also«, sagte er.»Tut mir leid, junge Dame. Ich hab den Dreh mit diesen Dingern noch nicht raus.«
«Schon gut«, sagte sie, und Goldenberg sagte etwas zu ihm, das ich nicht hören konnte, und bevor wir wußten, wie uns geschah, gehörten wir plötzlich zur Runde des Australiers dazu, und er bestellte fleißig Drinks für alle.
Aus der Nähe sah der Mann ausgesprochen seltsam aus, sein Gesicht und sein Haar waren nämlich beinahe farblos.
Die Haut war weißlich, der halbkahle Schädel von seidenweichem Haar umrahmt, das einmal blond gewesen und dann weiß geworden war; die Wimpern und Augenbrauen hoben sich ebenfalls nicht von der weißen Haut ab, und die Lippen seines lächelnden Mundes waren von milchiger Blässe. Er sah aus, als hätte man ihn für die Rolle eines großen, fröhlichen Geistes zurechtgemacht. Anscheinend hieß er Acey Jones.
«Ach, komm schon, Mann«, sagte er angewidert zu mir.»Cola ist was für Milchbubis, nicht für Männer. «Selbst seine Augen waren blaß — ein helles, unentschiedenes, bläuliches Grau.
«Laß ihn in Ruhe, Ace«, sagte Goldenberg.»Er fliegt mich nach Hause. Auf einen betrunkenen Piloten kann ich gut verzichten.«
«Pilot, was?«Die lautstarke Stimme gab diese Information an etwa fünfzig Leute weiter, die sich nicht im mindesten dafür interessierten.
«Ein Mitglied der fliegenden Zunft? Die meisten Piloten, die ich kenne, sind richtige Fetzer. Leben, lieben, saufen. Echte Kerle, diese Burschen. «Seine Worte wurden von einem breiten Lächeln begleitet, das die dahinterliegende Kränkung versteckte.»Na, kommen Sie schon, Sportsfreund, riskieren Sie was. Sie dürfen doch nicht all den Leuten ihre Illusionen rauben.«
«Na, dann bitte ein Bier«, sagte ich.
Auch Nancy zeigte mir ihre Geringschätzung, aber aus dem entgegengesetzten Grund.»Warum haben Sie einen Rückzieher gemacht?«
«Es ist töricht, Leute gegen sich aufzubringen, wenn es nicht unbedingt nötig ist. Als werfe man seinen Müll ins Wasser. Eines Tages wird er vielleicht wieder angetrieben und stinkt noch scheußlicher als vorher.«
Sie lachte.»Chanter würde das unmoralisch finden. Man muß sich an seine Prinzipien halten.«
«Ich trinke das Bier nur zur Hälfte. Reicht das?«
«Sie sind unmöglich.«
Acey Jones reichte mir das Glas und sah zu, wie ich einen Schluck nahm, bevor er sich weiter über tollkühne Piloten und Kapriolen am Himmel ausließ und über das Leben dieser energiegeladenen Zigeuner. Aus seinem Mund klang das alles sehr reizvoll, und sein Publikum lächelte und nickte, und keiner von den Leuten schien zu wissen, daß das Bild, das er da zeichnete, seit fünfzig Jahren passe war und daß ein Pilot heute vor allem eins sein mußte, vorsichtig — nüchtern, peinlich genau, reaktionsschnell und vorsichtig. Es gibt alte Piloten und dumme Piloten, aber keine alten und dummen Piloten. Ich, ich war alt, jung, klug, dumm, vierunddreißig. Außerdem deprimiert, geschieden und pleite.
Nach dem kurzen Ausflug in die Fliegerei kehrte Acey Jones wieder zum Thema Versicherung zurück und erzählte Goldenberg und Nancy und mir und den fünfzig anderen Leuten, daß er tausend dafür bekommen hatte, sich den Knöchel zu brechen, und wir mußten uns das Ganze noch einmal anhören, wobei wir uns nach Kräften bemühten, eine Mischung aus Überraschung und Bewunderung an den Tag zu legen.
«Nein, wirklich — Scherz beiseite, Sportsfreund«, sagte er zu Goldenberg und zeigte dabei zum ersten Mal einen gewissen Ernst.»Sie sollten auch einen Vertrag mit diesem Laden machen. Der bestangelegte Fünfer, den ich je ausgegeben habe.«
Einige der fünfzig Zuschauer rückten etwas näher heran, um zuzuhören, und Nancy und ich ließen uns an den äußeren Rand der Gruppe zurückdrängen. Ich stellte das kaum angetrunkene Bier auf einen Tisch draußen in der Halle, während Nancy der unteren Hälfte ihrer Cola den Garaus machte, und dann ließen wir uns hinaustreiben an die frische Luft.
Die Sonne schien immer noch, aber die kleinen, runden, weißen Wolken wuchsen sich zu größeren runden Wolken mit dunkelgrauen Kernen aus. Ich sah auf meine Uhr. Zwanzig nach vier. Immer noch fast eine Stunde, bis der Major den Rückflug antreten wollte. Je länger wir blieben, um so turbulenter würde der Flug wahrscheinlich werden, weil sich die Vorhersage von vereinzelten Gewittern am Nachmittag zu bewahrheiten schien.
«Da bilden sich Gewitterwolken«, sagte Nancy mit Blick in den Himmel.»Scheußlich.«
Wir sahen am Führring zu, wie ihr Bruder fürs letzte Rennen aufs Pferd stieg, und dann sahen wir von der» Be-sitzer-und-Trainer«-Tribüne aus, wie er das Rennen gewann, und damit hatte es sich dann auch. Am Fuß der Treppe, draußen vor dem Waageraum, verabschiedete sie sich von mir.
«Danke für den Geleitschutz.«
«Gern geschehen.«
Ihre Haut war glatt und goldbraun, ihre Augen graubraun. Gerade, dunkle Augenbrauen. Nicht viel Lippenstift. Kein Parfüm. Genau das Gegenteil von meiner blonden, bemalten und geschiedenen Ehefrau.
«Ich schätze«, sagte sie,»daß wir uns mal wiedersehen, weil ich manchmal mit Colin fliege, wenn ein Platz frei ist.«
«Fliegen Sie ihn denn nicht manchmal selber zum Rennen?«
«Gütiger Gott, nein. «Sie lachte.»Er würde mir nicht zutrauen, daß ich ihn rechtzeitig hinbringe. Und außerdem gibt es zu viele Tage, an denen das Wetter meine Fähigkeiten überfordert. Aber eines Tages, vielleicht…«
Sie hielt mir die Hand hin, und ich schüttelte sie. Ein Händedruck, der dem ihres Bruders sehr ähnlich war und genauso kurz.
«Bis dann also«, sagte sie.
«Würde mich freuen.«
Sie nickte mit einem schwachen Lächeln und ging davon. Ich sah ihrer adretten, blauweißen Kehrseite nach und unterdrückte den plötzlichen, unerwarteten Impuls, hinter ihr herzulaufen und ihr einen Abschied Marke Chanter zuteil werden zu lassen.
Als ich über die Bahn auf das Flugzeug zuging, begeg-nete ich Kenny Bayst, der mit seinem Regenmantel überm Arm gerade von dort kam. Seine Haut war wieder einmal fleckig und gerötet vor Zorn, was unschön mit seinem ka-rottenfarbenen Haar kontrastierte.
«Ich komme nicht mit Ihnen zurück«, sagte er angespannt.»Erzählen Sie Miss Großkotz Annie Villars, daß ich nicht mit Ihnen zurückkomme. Man kann es dem Weib einfach nicht recht machen. Das letzte Mal hätte sie mich beinahe gefeuert, weil ich gewonnen habe, und diesmal bin ich fast geflogen, weil ich nicht gewonnen habe. Als hätte ich beide Male auch nur die geringste Wahl gehabt. Ich sag Ihnen was, Sportsfreund, ich fliege nicht mit Ihrem verdammten kleinen Flugzeug zurück und lasse mich den ganzen Flug lang anschnauzen und nochmals anschnauzen.«
«Ist gut«, sagte ich. Ich machte ihm keinen Vorwurf.
«Ich habe mir nur meinen Regenmantel geholt. Ich fahre mit dem Zug nach Hause — oder per Anhalter.«
«Ihr Regenmantel… Aber das Flugzeug ist abgeschlossen.«
«Nein, ist es nicht. Ich habe mir ja meinen Regenmantel rausgeholt. Also, Sie sagen ihnen, daß ich die Nase voll habe, ja?«
Ich nickte, und während er davoneilte, setzte ich ein wenig verärgert meinen Weg zum Flugzeug fort. Major Tyderman hätte es, nachdem er seine Sporting Life geholt hatte, wieder abschließen müssen, aber offensichtlich hatte er genau das nicht getan.
Beide Türen an Backbord waren unverschlossen, die zur Kabine und die des hinteren Gepäckraumes. Ich war nicht übermäßig begeistert, denn bei Derrydown hatte man mir ausdrücklich ans Herz gelegt, das Flugzeug niemals offenzulassen, da es mehrfach vorgekommen war, daß irgendwelche Lausejungen etwas kaputtgemacht hatten. Aber alles sah völlig normal aus, und es gab auch keine Spuren von klebrigen Fingern.
Ich machte noch einmal eine Außenkontrolle und sah mir den Flugplan für die Rückkehr an. Wenn wir zu vielen Gewittern ausweichen mußten, würden wir vielleicht etwas länger bis nach Newmarket brauchen, aber solange es nicht zu einem heftigen, stationären Gewitter über der Landebahn kam, dürfte es eigentlich keine echten Probleme geben.
Die Passagiere der beiden Polyplane-Maschinen kamen einzeln oder zu zweit herübergeschlendert und zwängten sich in die Maschinen. Die Türen wurden geschlossen, und die Flugzeuge rollten ans andere Ende der Bahn. Dann jagte eins nach dem anderen übers Gras, hob ab und schoß wie ein schwarzer Pfeil vor dem blau-grau-weißen Flickwerk des Himmels davon.
Annie Villars war die erste von meinen Passagieren. Allein, gefaßt, höflich; ließ sich nichts anmerken. Sie gab mir ihren Mantel und den Feldstecher, und ich verstaute die Sachen für sie. Sie dankte mir. In den trügerisch sanften braunen Augen stand eine gewisse Leere, und ein wiederholtes, krampfhaftes Zucken strafte den milden Zug um ihren Mund Lügen. Eine beeindruckende Frau, dachte ich. Aber das wußte sie selbst. Sie war sich der Kraft und der Reichweite ihrer Macht so sehr bewußt, daß sie absichtlich ihrem Äußeren eine entwaffnende Note gegeben hatte, weniger, um den harten Kern zu verbergen, als um ihn den Leuten schmackhaft zu machen. Das ist doch mal eine nette Abwechslung, dachte ich ironisch, wenn man an all jene denkt, die sich gewaltig aufplustern, um ihre inneren Mängel zu verbergen.
«Kenny Bayst hat mich gebeten, Ihnen auszurichten, daß er jemanden gefunden hat, der ihn nach Newmarket mit zurücknimmt, so daß er nicht mit uns fliegen wird«, sagte ich.
Ein winziger Funke in den braunen Augen. Die sanfte Stimme sagte mit völliger Selbstbeherrschung:»Das überrascht mich nicht. «Annie Villars stieg ins Flugzeug, schnallte sich an, saß schweigend da und schaute mit Augen, die sich keineswegs auf das Gras und die Bäume konzentrierten, auf die sich langsam leerende Rennbahn.
Tyderman und Goldenberg kehrten gemeinsam zurück, immer noch tief in ihr Gespräch versunken. Der Beitrag des Majors bestand überwiegend in entschiedenem Nik-ken, während Goldenberg sich in einem wahren Wortschwall erging. Außerdem hatte er mittlerweile den Punkt überschritten, an dem es ihn noch interessierte, was ich von ihrer Unterhaltung mitbekam.
«Es würde mich nicht überraschen, wenn der kleine Mistkerl die ganze Zeit ein doppeltes Spiel getrieben und von dem einen oder anderen Buchmacher noch mehr kassiert hat, als er von uns bekam. Hat uns an der Nase rumgeführt, jawohl. Ich werde den kleinen Schweinehund umbringen. Das habe ich ihm auch gesagt.«
«Und was meinte er dazu?«erkundigte sich der Major.
«Sagte, er würde mir keine Chance dazu geben. Dreister kleiner Bastard.«
Sie warfen ihre Sachen wütend in den Gepäckraum und unterhielten sich an der Kabinentür mit Stimmen, die wie ferner Donner grollten.
Colin Ross kam als letzter, schlank und unauffällig und wieder in den verblichenen Jeans und dem mittlerweile zerknitterten Sweatshirt.
Ich ging ihm ein paar Schritte entgegen.»Ihre Schwester Nancy hat mich gebeten, Sie zu fragen, ob Sie daran gedacht hätten, das Geschenk für Midge mitzunehmen.«
«O verdammt…«Nicht nur Gereiztheit schwang in seiner Stimme mit, sondern vor allem Müdigkeit. Er hatte sechs harte Rennen geritten und drei davon gewonnen. Er sah aus, als könnte ein Wickelkind ihn umwerfen.
«Ich hole es für Sie, wenn Sie wollen.«
«Würden Sie das tun?«Er zögerte und sagte dann mit einer müden Handbewegung:»Ja, ich wäre Ihnen wirklich dankbar. Gehen Sie in den Waageraum und fragen Sie nach meinem Diener, Ginger Mundy. Das Päckchen liegt auf dem Regal über meinem Haken. Er wird es Ihnen geben.«
Ich nickte und ging quer über die Bahn. Das Päckchen, das mühelos gefunden werden konnte, war ein wenig kleiner als ein Schuhkarton, in rosagoldenes Papier eingeschlagen und mit einer rosafarbenen Schleife verziert. Ich nahm es mit zum Flugzeug, und Colin legte es auf Kenny Baysts leeren Platz.
Der Major hatte seinen Sicherheitsgurt bereits angelegt und trommelte mit den Fingern auf das Futteral seines Fernglases, das wie immer über seiner Brust hing. Er war von Kopf bis Fuß steif vor Anspannung. Ich fragte mich, ob er sich wohl je entspannte.
Goldenberg wartete ohne die Spur eines Lächelns neben der Maschine, bis ich auf meinen Sitz geklettert war, folgte mir dann und zog die Tür in düsterem Schweigen hinter sich zu. Ich seufzte, ließ den Motor an und rollte ans andere Ende der Bahn. Als ich startklar war, drehte ich mich zu meinen Passagieren um und versuchte mich an einem strahlenden Lächeln.
«Alles bereit?«
Gezwungenes Nicken dreier Köpfe als Lohn für meine Mühe. Colin Ross war eingeschlafen. Ohne besonderen Enthusiasmus hob ich mit der fröhlichen Gesellschaft vom Boden ab, umflog die Kontrollzone Manchester und richtete die Nase dann ungefähr Richtung Newmarket. Sobald wir unsere Flughöhe erreicht hatten, spürten wir nur allzu deutlich, daß die Luft mittlerweile ziemlich bewegt war. In den niederen Schichten stießen die von bebauten Flächen aufsteigenden Heißluftpakete das Flugzeug wie eine Marionette umher, und soweit das Auge reichte, türmten sich ringsum am Horizont große Berge von Kumulonimbus-wolken zu enormen Höhen auf.
Ein Wetter zum Luftkrankwerden. Ich sah mich um, um festzustellen, ob die Ausgabe von wasserdichten Tüten notwendig werden würde. Die Mühe hätte ich mir sparen können. Colin schlief immer noch, und die drei anderen hatten viel zu viel mit sich selbst zu tun, um sich wegen ein paar Hüpfern Gedanken zu machen. Ich erklärte Annie Villars, wo man die Tüten im Notfall finden konnte, aber sie schien das als Beleidigung aufzufassen.
Obwohl wir bei viertausend Fuß die schlimmsten Stöße hinter uns hatten, blieb der Flug eine Art Hindernisrennen, da ich immer wieder den sich düster auftürmenden Wol-kenmassen ausweichen mußte. Wir hielten uns überwiegend im Sonnenschein — nur gelegentlich schossen wir durch kleine Wolkenschleier, die als Tupfer zwischen den größeren Wolken lagen. Ich umflog selbst die mittelgroßen, scheinbar harmlosen Wolken, da sich direkt dahinter manchmal eine gefährliche Riesenwolke verbarg, der man bei hundertfünfzig Knoten dann kaum noch ausweichen konnte. In jedem ausgewachsenen Kumulonimbus gab es reißende vertikale Luftströmungen, in denen selbst ein Verkehrsflugzeug wie ein Jo-Jo auf und ab gehüpft wäre. Außerdem mußte man in einer solchen Wolke immer auf Hagel und Eisregen gefaßt sein, und das war für niemanden ein Vergnügen. Also war es richtig, den schwarzen, wild herumwirbelnden Burschen aus dem Weg zu gehen, aber der Flug wurde dadurch ungemütlicher, als man es seinen Passagieren gern zumutet.
Jeder kennt das schreckliche Brennen auf der Haut, das Herzklopfen, wenn aus dem ganz Normalen plötzlich Schrecken wird, wenn sich inmitten des Harmlosen plötzlich ein Abgrund auftut. Man nennt es Furcht. Und ein Schlachtfeld von Kumulonimbuswolken in viertausend Fuß Höhe ist nicht gerade der beste Ort, um davon überfallen zu werden. Ich war weit schlimmeres Wetter gewohnt. Ich war schlechtes, abscheuliches, ja sogar lebensgefährliches Wetter gewohnt. Es war nicht der Zustand des Himmels, der die ungestüme, kleine, adrenalingeladene Alarmglocke schrillen ließ wie verrückt.
Mit dem Flugzeug war etwas nicht in Ordnung.
Nichts Großartiges. Ich konnte nicht einmal sagen, was es eigentlich war. Aber etwas. Etwas…
Mein Sicherheitsinstinkt war hoch entwickelt, überentwickelt, hatten viele Leute behauptet, damals, als er mich in Schwierigkeiten gebracht hatte. Verdammter Feigling war der Ausdruck, den sie gebraucht hatten.
Aber ich konnte ihn nicht ignorieren. Wenn der Instinkt auf Gefahr schaltete, durfte man es nicht wagen, ihn zu ignorieren, nicht mit Passagieren an Bord. Was man tun konnte, wenn man allein war, stand auf einem ganz anderen Blatt, aber zivile Berufspiloten haben selten Gelegenheit, allein zu fliegen.
Keine Fehlfunktion der Instrumente. Kein Problem mit dem Motor.
Aber irgend etwas mit der Steuerung.
Als ich eine sanfte Kurve flog, um wieder einmal einem dräuenden Kumulonimbus auszuweichen, ging die Nase des Flugzeugs nach unten, und ich hatte minimale Schwierigkeiten, sie wieder hochzuziehen. Sobald wir uns wieder in der Waagerechten befanden, schien alles in Ordnung zu sein. Alle Meßinstrumente schienen richtig anzuzeigen. Blieb nur der Instinkt. Instinkt und die Erinnerung an eine leicht verzögerte Reaktion.
Bei der nächsten Kurve passierte dasselbe wieder. Die Nase wollte nach unten und brauchte mehr Druck, als sie hätte brauchen dürfen, um in der Waagerechten zu bleiben. Bei der dritten Kurve war es noch schlimmer.
Ich blickte auf die Landkarte auf meinen Knien. Wir waren zwanzig Minuten von Haydock entfernt. südlich von Matlock. kurz vor Nottingham. Noch achtzig Seemeilen bis Newmarket.
Es sind die beweglichen Klappen an den Höhenflossen, die die Nase der Maschine heben und senken. Die sogenannten Höhenruder. Sie sind durch Drähte mit dem Steuerknüppel verbunden, so daß der Schwanz hochgeht und die Nase runter, wenn man den Steuerknüppel nach vorn schiebt. Und umgekehrt.
Die Drähte verlaufen durch Ringe und über Rollen zwischen dem Kabinenboden und der Außenhaut des
Rumpfes. Spürbare Reibung sollte es keine geben, wenn man die Ruder bewegte.
Aber ich spürte eine Reibung.
Ich überlegte, ob sich möglicherweise einer der Drähte während des rauhen Flugs von den Rollen gelöst haben könnte. Ich hatte zwar noch nie gehört, daß so etwas vorgekommen war, aber das hieß ja nicht, daß es nicht sein konnte. Oder vielleicht hatte sich auch eine ganze Rolle aus der Verankerung gelöst oder war gar zerbrochen. Wenn etwas lose herumrollte, konnte das die Steuerung erheblich beeinträchtigen.
Ich drehte mich zu der fröhlichen Gesellschaft um.
«Es tut mir sehr leid, aber es wird eine kleine Verzögerung geben. Wir werden auf dem Flughafen East Midlands in der Nähe von Nottingham zwischenlanden, wo ich vorsichtshalber eine kurze Kontrolle des Flugzeugs veranlassen werde.«
Ich stieß auf Widerstand.
Goldenberg sagte streitlustig:»Aber was soll denn nicht in Ordnung sein?«Sein Blick glitt über die Meßinstrumente und bemerkte, daß sämtliche Nadeln auf sämtlichen Anzeigen für den Motor im grünen Sicherheitsbereich waren.»Für mich sieht alles genauso aus wie immer.«
«Sind Sie sicher, daß das nötig ist?«fragte Annie Villars.
«Ich möchte unbedingt rechtzeitig zurück sein, um mir meine Pferde bei der Abendstallzeit anzusehen.«
Der Major sagte heftig:»Verdammt noch eins!«, rollte die Augen, runzelte finster die Stirn und wirkte angespannter denn je.
Sie weckten Colin Ross.
«Der Pilot will hier landen und eine Sicherheitskontrolle vornehmen, wie er es nennt. Wir wollen direkt weiterfliegen. Wir wollen unsere Zeit nicht verschwenden. Soweit wir sehen können, ist mit dem Flugzeug alles o. k.«
Colin Ross’ Stimme klang klar und entschieden zu mir herüber.»Wenn er sagt, wir gehen runter, gehen wir runter. Er ist der Boß.«
Ich sah mich noch einmal um. Außer Colin waren sie alle noch übellauniger und verdrossener als zuvor. Colin sah mich mit einem kurzen, unerwarteten Augenzwinkern an. Mein Grinsen galt mir so sehr wie ihm, als ich nun per Funk East Midlands rief, unsere Absicht zu landen kundtat und darum bat, dafür zu sorgen, daß sich ein Mechaniker für uns bereithielt.
Auf dem Weg nach unten bedauerte ich meine Entscheidung. Die Reibung schien nicht schlimmer geworden zu sein — eher besser. Selbst in den Turbulenzen in Bodennähe hatte ich keine großen Schwierigkeiten, die Höhenruder zu bedienen. Ich würde mich zum Narren und die Passagiere wütend machen, bei Derrydown würde man mich mit bissigen Bemerkungen über unnötige Kosten empfangen, und im Handumdrehen dürfte ich mich dann nach meinem siebten Job umsehen.
Es war eine normale Landung. Ich hielt auf dem Rollfeld, dort, wo man mich hindirigiert hatte, und schlug vor, auszusteigen und im Flughafen einen Drink zu nehmen, da die Überprüfung der Maschine eine halbe Stunde dauern würde und vielleicht länger.
Mittlerweile waren meine Passagiere ziemlich gereizt. In der Luft waren ihnen wohl doch letzte Zweifel geblieben, ich könne möglicherweise recht haben. Jetzt, mit sicherem Boden unter den Füßen, fanden sie schnell zu der Überzeugung, die Landung sei nicht nötig gewesen.
Ich ging ein Stück mit ihnen zusammen über die Rollbahn auf den Passagiereingang des Flughafens zu, drehte dann ab in Richtung Kontrolle, um den Routinebericht, der nach jeder Landung fällig ist, abzugeben und einen Mechaniker darum zu bitten, sobald wie möglich einen Blick auf die Maschine zu werfen. Ich würde sie von der Bar abholen, sagte ich, sobald die Überprüfung beendet war.
«Machen Sie dalli«, sagte Goldenberg rüde.
«Sehr ärgerlich. Wirklich sehr ärgerlich. «Der Major.
«Ich war schon gestern abend nicht da. wollte heute unbedingt rechtzeitig zurück sein. Könnte genausogut mit dem Wagen fahren, hat ja keinen Sinn, für Geschwindigkeit zu bezahlen, die man nicht kriegt. «Annie Villars’ Verärgerung brachte die Krallen unter den Samthandschuhen hervor.
Colin sagte:»Wenn dein Pferd hustet, laß es nicht starten.«
Die anderen sahen ihn ungehalten an. Ich sagte erleichtert» Danke «und zweigte nach links ab. Aus den Augenwinkeln sah ich, wie sie noch einen letzten kurzen Blick auf das Flugzeug warfen, bevor sie ohne die geringste Begeisterung auf die großen Glastüren zusteuerten.
Hinter mir nahm ich ein leises Knacken wahr, wie einen zerbrechenden Zweig, dann einen fürchterlichen Donnerschlag und dann einen brüllenden Windstoß.
Diese Abfolge von Geräuschen war mir bekannt. Entgeistert fuhr ich herum.
Wo vorher eine hübsche, kleine, blauweiße Cherokee gestanden hatte, gab es jetzt nur noch einen explodierenden Feuerball.