KOOLAU, DER AUSSÄTZIGE

»Weil wir krank sind, nehmen sie uns unsere Freiheit. Wir haben die Gesetze befolgt. Wir haben nichts Unrechtes getan. Und doch wollen sie uns ins Gefängnis stecken. Denn Molokai ist ein Gefängnis. Das wißt ihr. Nehmt Niuli dort, seine Schwester wurde vor sieben Jahren nach Molokai geschickt. Seither hat er sie nicht mehr gesehen. Und er wird sie auch nie wiedersehen. Sie muß dort bleiben, bis sie stirbt. Das ist nicht ihr Wille. Es ist auch nicht Niulis Wille. Es ist der Wille der weißen Männer, die das Land beherrschen. Und wer sind diese weißen Männer?

Wir wissen es. Wir haben es von unseren Vätern und den Vätern unserer Väter. Sie kamen wie die Lämmer und machten schöne Worte. Sie hatten allen Grund dazu, denn wir waren viele, und wir waren stark, und alle Inseln gehörten uns. Wie gesagt, sie machten schöne Worte. Sie waren von zweierlei Art. Die einen baten uns um Erlaubnis, um unsere gütige Erlaubnis, uns das Wort Gottes zu predigen. Die anderen baten um Erlaubnis, um unsere gütige Erlaubnis, Handel zu treiben. Das war der Anfang. Heute gehören alle Inseln ihnen, alles Land, alles Vieh - alles gehört ihnen. Die, die das Wort Gottes, und die, die das Evangelium des Rums verkündeten, haben sich zusammengetan und sind große Häuptlinge geworden. Sie leben wie Könige in Häusern mit vielen Zimmern, mit Unmengen von Dienern, die für sie sorgen. Sie, die nichts hatten, besitzen jetzt alles, und wenn ihr oder ich oder irgendein Eingeborener hungrig ist, so lachen sie höhnisch und sagen: >Nun, warum arbeitest du nicht? Es gibt doch die Plantagen.<«

Koolau hielt inne. Er hob eine Hand, und mit knotigen, verkrümmten Fingern nahm er den flammendroten Hibiskuskranz ab, der sein schwarzes Haar krönte. Der Mond tauchte die Landschaft in silbernes Licht. Es war eine friedliche Nacht, wenn auch seine Zuhörer, die um ihn herumsaßen, wie die übel zugerichteten Überlebenden einer Schlacht aussahen. Sie hatten Löwengesichter. Hier gähnte in einem Gesicht ein Loch, wo eine Nase hätte sein sollen, dort zeigte ein Armstumpf, wo eine Hand abgefallen war. Sie waren Männer und Frauen außerhalb der menschlichen Gesellschaft, alle dreißig, denn das Zeichen des Tieres war ihnen aufgedrückt worden.

Mit Blumenkränzen geschmückt saßen sie in der von Wohlgerüchen erfüllten, klaren Nacht, ihre Lippen brachten seltsame Laute hervor, und aus ihren Kehlen löste sich nach Koolaus Rede zustimmendes heiseres Gekrächze. Einst waren diese Geschöpfe Männer und Frauen gewesen. Doch nun waren sie keine Männer und Frauen mehr. Sie waren Ungeheuer - von Angesicht und Gestalt groteske Karikaturen alles Menschlichen. Sie waren schrecklich verstümmelt und entstellt und sahen aus wie Wesen, die jahrtausendelang in der Hölle gefoltert worden waren. Ihre Hände, sofern sie welche besaßen, glichen Harpyienkrallen. Ihre Gesichter waren die Ausrutscher und Verirrungen eines wahnsinnigen Gottes, der an der Maschinerie des Lebens herumgespielt und sie dabei verunstaltet und deformiert hatte. Hier und da sah man Züge, die der wahnsinnige Gott zur Hälfte ausgelöscht hatte, und eine Frau weinte heiße Tränen aus zwei entsetzlichen Höhlen, wo einst Augen gewesen waren. Einige hatten Schmerzen und stöhnten aus tiefer Brust. Andere husteten, daß es klang, als würde Stoff zerrissen. Zwei waren schwachsinnig und glichen eher riesigen Mißgeburten von Affen, so daß im Vergleich mit ihnen ein Affe geradezu als Engel erschien. Sie schnitten Grimassen und plapperten im Mondlicht unter Kränzen welk herabhängender goldener Blüten. Einer, dessen aufgetriebenes Ohrläppchen wie ein Fächer bis auf seine Schulter hing, hob eine herrliche orange- und scharlachrote Blume auf und schmückte damit sein monströses Ohr, das bei jeder Bewegung hin und her pendelte.

Und über diese Geschöpfe war Koolau König. Und dies war sein Königreich - eine blumenüberwucherte Schlucht mit Felsvorsprüngen und Klippen, von denen das Meckern wilder Ziegen erscholl. Auf drei Seiten ragten schroffe, mit phantastischen Vorhängen aus tropischen Pflanzen geschmückte Wände empor, durchbohrt von Höhleneingängen - den Felsbehausungen der Untertanen Koolaus. Auf der vierten Seite tat sich ein ungeheurer Abgrund auf, in dessen Tiefe man die Gipfel kleinerer Bergspitzen und Felsen sehen konnte, an deren Fuß die Brandung des Pazifiks rauschte und schäumte. Bei gutem Wetter konnte ein Boot am felsigen Strand landen, der den Zugang zum Kalalau-Tal bildete, aber es mußte schon sehr gutes Wetter sein. Und ein kaltblütiger Bergsteiger konnte wohl vom Strand zum Kalalau-Tal hinaufklettern, zu dieser Schlucht zwischen den Bergkuppen, wo Koolau herrschte; aber ein solcher Bergsteiger mußte schon sehr kaltblütig sein, und er mußte auch die Steige der wilden Ziegen kennen. Ein Wunder war es, daß diese Menge von menschlichen Wracks, die das Volk Koolaus bildeten, imstande gewesen sein sollte, ihr hilfloses Elend auf den schwindelerregenden Ziegenpfaden zu diesem unzugänglichen Ort zu schleppen.

»Brüder«, begann Koolau.

Aber eine der Fratzen schneidenden, affenartigen Karikaturen stieß ein wildes und irres Geheul aus, und Koolau wartete, während das schrille Gelächter von den Felswänden hin- und hergeworfen wurde und in der Ferne und der nächtlichen Stille widerhallte.

»Brüder, ist es nicht seltsam? Uns gehörte das Land, und seht, das Land gehört uns nicht mehr. Was haben diese Verkünder des Wortes Gottes und des Evangeliums des Rums uns für das Land gegeben? Hat einer von euch einen Dollar, auch nur einen einzigen Dollar für das Land erhalten? Und doch gehört es ihnen, und zum Dank sagen sie uns, daß wir auf dem Land, ihrem Land, arbeiten können und daß das, was wir mit Mühe und Plage erzeugen, ihnen gehören soll. Doch früher brauchten wir nicht zu arbeiten. Und wenn wir krank werden, nehmen sie uns auch noch unsere Freiheit.«

»Wer brachte uns die Krankheit, Koolau?« fragte Kiloliana, ein magerer, sehniger Mann mit einem Gesicht, das so sehr dem eines lachenden Fauns glich, daß man fast erwartete, seine Beine in gespaltenen Hufen enden zu sehen. Gespalten waren seine Füße tatsächlich, aber die Furchen rührten von großen Geschwüren und bläulicher Fäulnis her. Und doch war er, Kiloliana, der verwegenste Kletterer von allen, der Mann, der jeden Ziegenpfad kannte und der Koolau und sein unglückseliges Gefolge in die Schlupfwinkel von Kalalau geführt hatte.

»Das ist eine gute Frage«, erwiderte Koolau. »Weil wir die riesigen Zuckerrohrfelder nicht abernten wollten, auf denen einst unsere Pferde weideten, brachten sie chinesische Sklaven übers Meer. Und mit ihnen kam die chinesische Krankheit - an der wir jetzt leiden und deretwegen sie uns auf Molokai einsperren möchten. Wir sind auf Kauai geboren. Wir waren auch auf den anderen Inseln, einige hier, andere dort, auf Oahu, Maui, Hawaii, in Honolulu. Und doch sind wir immer wieder nach Kauai zurückgekehrt. Und warum sind wir zurückgekommen? Das muß doch seinen Grund haben. Weil wir Kauai lieben. Wir sind hier geboren. Wir haben hier gelebt.

Und hier werden wir sterben - es sei denn - es sei denn - es gibt Feiglinge unter uns. Die können wir nicht gebrauchen. Die passen besser nach Molokai. Und wenn solche unter uns sind, so sollen sie nicht bleiben. Morgen landen die Soldaten am Strand. Laßt die Furchtsamen zu ihnen hinuntergehen. Dann werden sie schnell nach Molokai geschickt. Wir anderen aber werden hierbleiben und kämpfen. Doch wißt, daß wir nicht sterben werden. Wir haben Gewehre. Ihr kennt die schmalen Pfade, auf denen einer hinter dem anderen kriechen muß. Ich, Koolau, der ich einst Cowboy auf Niihau war, kann einen solchen Pfad allein gegen tausend Mann verteidigen. Hier ist Kapalei, der einst über Menschen zu Gericht gesessen hat und ein angesehener Mann war, jetzt aber eine gejagte Ratte ist wie ihr und ich. Hört ihn an. Er ist weise.«

Kapalei erhob sich. Einst war er Richter gewesen. Er hatte die Universität in Punahou besucht. Er hatte mit Fürsten und Häuptlingen und den hohen Repräsentanten fremder Mächte, die die Interessen der Händler und Missionare schützten, an einer Tafel gespeist. Das war Kapalei gewesen. Jetzt aber war er, wie Koolau gesagt hatte, eine gejagte Ratte, eine Kreatur außerhalb des Gesetzes, so tief im Morast menschlichen Grauens versunken, daß er sowohl über dem Gesetz als auch unter ihm stand. Sein Gesicht besaß keine Züge mehr, außer den klaffenden Öffnungen und den lidlosen Augen, die unter haarlosen Brauen brannten.

»Wir wollen niemandem Ärger machen«, begann er. »Wir verlangen nur, daß man uns in Frieden läßt. Lassen sie uns aber nicht in Frieden, dann sollen sie ihren Ärger bekommen und haben sich das selbst zuzuschreiben. Meine Finger sind nicht mehr da, wie ihr seht.« Er hielt seine Handstümpfe hoch, damit es alle sehen konnten. »Aber das Glied eines Daumens ist mir noch geblieben, und mit dem kann ich einen Gewehrabzug ebenso sicher betätigen, wie früher mit dem verlorenen Nachbarfinger. Wir lieben Kauai. Laßt uns hier leben oder hier sterben, aber laßt uns nicht ins Gefängnis von Molokai gehen. Es ist nicht unsere Krankheit. Wir haben nicht gesündigt. Die Männer, die das Wort Gottes und das Evangelium des Rums predigten, brachten die Krankheit mit den Kulis, die das gestohlene Land bearbeiten. Ich bin Richter gewesen. Ich kenne das Gesetz und die Gerechtigkeit, und ich sage euch, daß es Unrecht ist, einem Mann das Land zu stehlen, ihm die chinesische Krankheit anzuhängen und dann diesen Mann auf Lebenszeit ins Gefängnis zu sperren.«

»Das Leben ist kurz, und die Tage sind voller Schmerzen«, sagte Koolau. »Laßt uns trinken und tanzen und so glücklich wie möglich sein.«

Aus einer der Felsenhöhlen wurden Kalebassen gebracht und herumgereicht. Sie waren mit dem scharfen Destillat aus den Wurzeln der Ti-Pflanze gefüllt; und als das flüssige Feuer sie durchströmte und ihnen zu Kopf stieg, vergaßen sie, daß sie einst Männer und Frauen gewesen waren, denn sie wurden es wieder. Das Geschöpf, das heiße Tränen aus offenen Augenhöhlen weinte, verwandelte sich wirklich in eine lebensvolle Frau, als sie die Saiten eines Ukulele zupfte und einem wilden Liebeswerben ihre Stimme lieh, wie es einst aus den dunklen Tiefen eines vorzeitlichen Urwaldes aufgestiegen sein mochte. Sogar die Luft schwang mit bei ihrem unwiderstehlichen und verführerischen Gesang. Auf einer Matte tanzte Kiloliana nach dem Rhythmus des Liedes, das die Frau sang. Was er tanzte, war unverkennbar. Liebe sprach aus all seinen Bewegungen, und zu ihm gesellte sich eine Frau, deren volle Hüften und üppige Brüste ihr von der Krankheit zerfressenes Gesicht Lügen straften, und tanzte mit ihm. Es war ein Tanz lebender Leichname, denn in ihren verwesenden Körpern liebte und sehnte sich immer noch das Leben. Unentwegt sang die Frau, deren blinde Augen heiße Tränen weinten, ihr Liebeslied, unentwegt gaben die Tanzenden in der warmen Nacht ihrer Liebe Ausdruck, unentwegt kreisten die Kalebassen, bis in jedem Hirn die Maden der Erinnerung und des Verlangens sich zu regen begannen. Und mit der Frau auf der Matte tanzte ein schlankes junges Mädchen, dessen Gesicht schön und unversehrt war. Die verkrümmten Arme jedoch, die sich hoben und senkten, zeigten die Verwüstungen der Krankheit. Und abseits tanzten die beiden Idioten, plappernd und seltsame Laute ausstoßend, grotesk und phantastisch ihr Zerrbild der Liebe, so wie sie selbst durch das Leben zu Zerrbildern geworden waren.

Doch abrupt brach das Liebeslied der Frau ab, die Kalebassen wurden gesenkt, und die Tänzer hielten inne, während alle in den Abgrund über dem Meer blickten, wo eine Rakete wie ein bleiches Phantom in der mondhellen Nacht aufflackerte.

»Das sind die Soldaten«, sagte Koolau. »Morgen wird es zum Kampf kommen. Es ist gut, wenn wir jetzt schlafen, um gerüstet zu sein.«

Die Aussätzigen gehorchten und krochen zu ihren Felsenlagern, bis nur noch Koolau übrigblieb, der mit dem Gewehr über den Knien reglos im Mondlicht saß und seinen Blick nicht von den tief unten am Strand anlegenden Booten abwendete.

Der obere Teil des Kalalau-Tales war ein gut gewählter Zufluchtsort. Mit Ausnahme von Kiloliana, der die Schleichwege über die Steilwände kannte, konnte kein Mensch in die Schlucht gelangen, ohne einen messerscharfen Grat zu überqueren. Dieses Wegstück war etwa neunzig Meter lang, und seine breiteste Stelle betrug höchstens dreißig Zentimeter. Zu beiden Seiten gähnte der Abgrund. Ein Fehltritt, und man stürzte rechts oder links in den Tod. Doch wem es geglückt war, mit heiler Haut hinüberzugelangen, der fand sich in einem Paradies auf Erden wieder. Ein Meer von Vegetation überflutete die Landschaft, ergoß seine grünen Wogen von Wand zu Wand, troff in üppigen Rankenmassen von den Klippenrändern herab und schleuderte eine Gischt von Farnen und Luftwurzeln in die unzähligen Risse und Spalten. In den vielen Monaten von Koolaus Herrschaft hatten er und seine Gefolgsleute gegen dieses Pflanzenmeer angekämpft. Der erstickende Dschungel mit seinem Blütengewirr war von wildwachsenden Bananen, Orangen und Mangos zurückgedrängt worden. Auf kleinen Lichtungen gedieh wilde Pfeilwurz; auf Steinterrassen, die mit mühsam zusammengekratzter Erde aufgefüllt waren, wurden Taro und Melonen angebaut, und auf jedem freien Fleckchen, wohin die Sonne drang, gab es die mit goldgelben Früchten beladenen Papaya-Bäume.

Koolau war aus dem tiefergelegenen Tal in der Nähe des Strandes hierher abgedrängt worden. Und sollte er auch von diesem Zufluchtsort vertrieben werden, dann kannte er Schluchten in dem Gewirr der Bergspitzen weiter landeinwärts, wohin er seine Untertanen führen und wo er sich niederlassen konnte. Und jetzt lag er da, sein Gewehr neben sich, und spähte durch ein verfilztes Laubgeflecht zu den Soldaten am Strand hinunter. Er bemerkte, daß sie große Geschütze bei sich hatten, die das Sonnenlicht wie Spiegel reflektierten. Der messerscharfe Paß lag genau vor ihm. Auf dem Pfad, der zu ihm hinaufführte, konnte er winzige Punkte kriechen sehen. Er wußte, daß es nicht das Militär, sondern die Polizei war. Hatte sie keinen Erfolg, dann würden sich die Soldaten einmischen.

Liebevoll strich er mit seiner verkrüppelten Hand über den Gewehrlauf und vergewisserte sich, daß das Visier sauber war. Er hatte als Jäger auf Niihau schießen gelernt, und seine Fertigkeiten als Scharfschütze blieben auf dieser Insel unvergessen. Als die Menschenpunkte sich näher heranarbeiteten und größer wurden, schätzte er die Entfernung, die Abdrift durch den Wind, der im rechten Winkel zur Schußlinie wehte, und die Wahrscheinlichkeit ab, über Ziele, die so weit unterhalb seines Standortes lagen, hinwegzuschießen. Aber er feuerte nicht. Erst als sie den Anfang des Passes erreicht hatten, machte er sich bemerkbar. Er zeigte sich ihnen nicht, sondern redete aus dem Dickicht heraus.

»Was wollt ihr?« fragte er.

»Wir wollen Koolau, den Aussätzigen«, antwortete der Mann, der die eingeborenen Polizisten anführte, er selbst ein blauäugiger Amerikaner.

»Ihr müßt umkehren«, sagte Koolau.

Er kannte den Mann, einen Hilfssheriff, denn er war es gewesen, der ihn von Niihau vertrieben, über ganz Kauai bis zum Kalalau-Tal und aus dem Tal bis in die Schlucht gejagt hatte.

»Wer bist du?« fragte der Sheriff.

»Ich bin Koolau, der Aussätzige«, lautete die Antwort.

»Dann komm heraus. Du wirst gesucht. Tot oder lebendig. Es sind tausend Dollar auf deinen Kopf ausgesetzt. Du kannst uns nicht entkommen.«

Koolau lachte laut in seinem Dickicht.

»Komm heraus!« befahl der Sheriff, erhielt aber nur Schweigen zur Antwort.

Er beriet sich mit seinen Polizisten, und Koolau sah, daß sie ihn überrumpeln wollten.

»Koolau«, rief der Sheriff, »Koolau, ich komme jetzt rüber, um dich zu holen.«

»Dann schau dir vorher die Sonne und das Meer und den Himmel genau an, denn das wird das letzte Mal sein, daß du sie siehst.« »Schon gut, Koolau«, sagte der Sheriff beschwichtigend. »Ich weiß, daß du ein erstklassiger Schütze bist, aber du wirst mich doch nicht erschießen. Ich habe dir nie ein Unrecht zugefügt.«

Koolau in seinem Gebüsch brummte nur.

»Ich sage, du weißt doch, daß ich dir nie ein Unrecht zugefügt habe, nicht wahr?« beharrte der Sheriff.

»Du tust mir Unrecht, wenn du versuchst, mich ins Gefängnis zu stecken«, war die Antwort. »Und du tust mir Unrecht, wenn du versuchst, dir die tausend Dollar zu holen, die auf meinen Kopf ausgesetzt sind. Wenn dir dein Leben lieb ist, dann bleib, wo du bist.«

»Ich muß rüberkommen und dich holen. Es tut mir leid. Aber es ist meine Pflicht.«

»Du wirst sterben, bevor du herüberkommst.«

Der Sheriff war kein Feigling. Dennoch war er unschlüssig. Er starrte in den Abgrund zu beiden Seiten und ließ seinen Blick den messerscharfen Grat entlangwandern, den er überqueren mußte. Dann traf er seine Entscheidung.

»Koolau«, rief er.

Aber das Dickicht blieb stumm.

»Schieß nicht, Koolau. Ich komme jetzt.«

Der Sheriff drehte sich um und gab den Polizisten einige Anweisungen, dann machte er sich auf den gefährlichen Weg. Er ging langsam. Es war, als balanciere er auf einem gespannten Seil. Außer der Luft hatte er nichts, woran er sich festhalten konnte. Das Lavagestein unter seinen Füßen bröckelte ab, und auf beiden Seiten polterten die losgebrochenen Stücke in die Tiefe. Die Sonne brannte auf ihn nieder, und sein Gesicht war schweißgebadet. Immer weiter rückte er vor, bis er die Mitte erreicht hatte.

»Halt!« befahl Koolau aus dem Dickicht. »Noch einen Schritt weiter, und ich schieße.«

Der Sheriff blieb stehen und suchte schwankend das Gleichgewicht zu bewahren, als er über dem Abgrund balancierte. Sein Gesicht war zwar blaß, aber sein Blick drückte Entschlossenheit aus. Er fuhr mit der Zunge über seine trockenen Lippen, ehe er sprach:

»Koolau, du wirst mich nicht erschießen. Ich weiß, daß du es nicht tun wirst.«

Er setzte sich wieder in Bewegung. Die Kugel wirbelte ihn halb herum. Auf seinem Gesicht lag ein Ausdruck ungläubigen Erstaunens, als er den Boden unter den Füßen verlor. Er versuchte sich zu retten, indem er sich mit seinem Körper quer über den Felsgrat warf; doch im selben Augenblick spürte er, daß sein Ende gekommen war. Im nächsten Moment war der messerscharfe Kamm verwaist. Dann folgte der Sturmangriff, fünf Polizisten liefen im Gänsemarsch mit bewundernswerter Sicherheit auf dem Grat entlang. Im gleichen Augenblick eröffneten die übrigen Männer des Trupps das Feuer auf das Dickicht. Es war Wahnsinn. Fünfmal drückte Koolau ab, so schnell, daß seine Schüsse wie ein Rattern klangen. Er wechselte seinen Standort, duckte sich tief unter den Kugeln, die durch die Büsche pfiffen, und sah hinaus. Vier Polizisten waren wie der Sheriff abgestürzt. Der fünfte lag quer über dem Kamm und lebte noch. Auf der anderen Seite standen die übrigen Polizisten und feuerten nicht mehr. Auf dem nackten Fels gab es keine Hoffnung für sie. Ehe sie hinuntergeklettert wären, hätte Koolau auch noch den letzten Mann abschießen können. Aber er tat es nicht, und nach kurzer Beratung zog einer der Überlebenden sein weißes Unterhemd aus und schwenkte es als Fahne. Von einem zweiten gefolgt, arbeitete er sich auf dem Grat bis zu seinem verwundeten Kameraden vor. Koolau rührte sich nicht, sondern sah zu, wie sie sich langsam zurückzogen und wieder zu kleinen Punkten wurden, während sie in das tiefergelegene Tal hinabstiegen.

Zwei Stunden später beobachtete Koolau von einem anderen Gebüsch aus einen Polizeitrupp, der den Aufstieg von der entgegengesetzten Seite des Tales aus versuchte. Er sah die wilden Ziegen vor den Männern fliehen, als sie immer höher kletterten, bis er schließlich an seinem eigenen Verstand zu zweifeln begann und nach Kiloliana schickte, der zu ihm ins Dickicht gekrochen kam.

»Nein, dort gibt es keinen Weg«, sagte Kiloliana.

»Und die Ziegen?« fragte Koolau.

»Sie kommen aus dem angrenzenden Tal, aber sie können nicht herüberklettern. Es gibt keinen Weg. Diese Männer sind nicht klüger als die Ziegen. Sie werden sich vielleicht zu Tode stürzen. Behalten wir sie im Auge.«

»Es sind tapfere Männer«, sagte Koolau. »Behalten wir sie im Auge.«

Seite an Seite lagen sie zwischen den Purpurwinden, während die gelben Blüten des Hau-Baumes auf sie herabrieselten, und beobachteten die winzigen Figuren, die sich bergauf quälten, bis es passierte und drei von ihnen ins Rutschen kamen, über einen Felsvorsprung schlitterten und senkrecht etwa hundertfünfzig Meter in die Tiefe stürzten.

Kiloliana kicherte.

»Jetzt werden sie uns nicht mehr belästigen«, sagte er.

»Sie haben Geschütze«, entgegnete Koolau. »Noch haben die Soldaten nicht eingegriffen.«

Am schläfrigen Nachmittag lagen die meisten Aussätzigen in tiefem Schlummer in ihren Felslöchern. Koolau, das frischgereinigte und schußbereite Gewehr auf den Knien, döste im Eingang zu seiner Höhle. Das Mädchen mit dem verkrümmten Arm lag unten im Gebüsch und bewachte den schmalen Paß. Plötzlich gab es eine Detonation am Strand; Koolau schreckte auf und war hellwach. Im nächsten Augenblick zerfetzte es die Luft auf unfaßbare Weise. Das furchtbare Geräusch machte ihm Angst. Es war, als hätten alle Götter das Himmelszelt mit ihren Händen gepackt und rissen es entzwei, so wie eine Frau ein Stück Baumwollstoff auseinandertrennt. Doch es war ein so ungeheures Reißen, und es kam rasch näher. Koolau sah besorgt nach oben, als erwarte er, etwas zu sehen. Da explodierte die Granate in der Felswand über ihnen in einer schwarzen Rauchfontäne. Gestein wurde abgesprengt, und die Felsbrocken stürzten bis zum Fuß des Kliffs hinunter.

Koolau wischte sich mit der Hand über die schweißnasse Stirn. Er war furchtbar mitgenommen. Noch nie hatte er Granatfeuer erlebt, und dies war schrecklicher als alles, was er sich vorgestellt hatte.

»Eins«, sagte Kapahei, dem es plötzlich einfiel, mitzuzählen.

Eine zweite und eine dritte Granate flogen heulend über die Felswand hinweg und explodierten außer Sichtweite. Kapahei zählte systematisch mit. Die Aussätzigen versammelten sich auf dem freien Platz vor ihren Höhlen. Anfangs waren sie sehr verängstigt, als aber die Granaten immer wieder über ihre Köpfe hinwegflogen, beruhigten sie sich und begannen das Schauspiel zu bewundern. Die beiden Idioten kreischten vor Vergnügen und führten bei jeder Granate, die über ihnen die Luft zerschnitt, groteske Tänze auf. Koolau wurde langsam wieder zuversichtlicher. Es war noch keinerlei Schaden angerichtet worden. Offenbar konnten sie so große Geschosse auf solche Entfernung nicht mit der Genauigkeit eines Gewehrschusses ins Ziel bringen.

Doch dann änderte sich die Situation. Die Granaten fielen kürzer. Eine explodierte unten in dem Dickicht bei dem schmalen Paß. Koolau erinnerte sich an das Mädchen, das dort auf Wache lag und rannte hinunter, um nachzusehen. Der Rauch stieg noch aus den Büschen auf, als er hineinkroch. Er war verblüfft. Die Zweige waren geborsten und abgebrochen.

Wo das Mädchen gelegen hatte, war jetzt ein Loch im Boden. Das Mädchen selbst war zerfetzt worden. Die Granate war direkt über ihr explodiert.

Nachdem Koolau zuerst hinuntergespäht und sich vergewissert hatte, daß sich keine Soldaten über den Paß wagten, rannte er zu den Höhlen zurück. Während der ganzen Zeit rauschten, winselten, heulten die Granaten vorbei, und das Tal dröhnte und hallte von den Detonationen wider. Als er in die Nähe der Höhlen kam, sah er die beiden Idioten, die herumtollten und sich dabei mit ihren Fingerstümpfen bei der Hand hielten. Noch während Koolau lief, sah er eine schwarze Rauchsäule dicht neben den Schwachsinnigen vom Boden aufsteigen. Sie wurden durch die Explosion auseinandergeschleudert. Der eine blieb reglos liegen, doch der andere schleppte sich auf seinen Händen zur Höhle. Seine Beine schleiften nutzlos nach, und das Blut strömte aus seinem Körper. Er schien in Blut gebadet zu sein und winselte wie ein junger Hund, als er weiterkroch. Die übrigen Aussätzigen waren mit Ausnahme Kapaheis in die Höhlen geflüchtet.

»Siebzehn«, sagte Kapahei. »Achtzehn«, fügte er hinzu... Diese letzte Granate war genau in eine der Höhlen eingedrungen. Die Explosion hatte zur Folge, daß sich alle Höhlen wieder leerten. Doch aus dieser einen kam niemand mehr heraus. Koolau kroch durch den beißenden, stechenden Qualm hinein. Drinnen lagen vier fürchterlich verstümmelte Leichen. Eine von ihnen war die blinde Frau, deren endlose Tränen erst jetzt versiegt waren.

Draußen fand Koolau seine Leute in panischer Angst vor; sie waren schon im Begriff, den Ziegenpfad hinaufzuklettern, der aus der Schlucht in das Gewirr von Bergen und Klüften führte. Der verwundete Idiot, der leise vor sich hin wimmerte und sich kraftlos mit den Händen über den Boden schleppte, versuchte, ihnen zu folgen. Doch bei dem ersten Steilstück der Felswand überwältigte ihn seine Hilflosigkeit, und er fiel zurück.

»Es wäre besser, ihn zu töten«, sagte Koolau zu Kapahei, der immer noch am selben Platz saß.

»Zweiundzwanzig«, antwortete Kapahei. »Ja, es wäre das Beste, ihn zu töten. Dreiundzwanzig - vierundzwanzig.«

Der Idiot wimmerte durchdringend, als er das Gewehr auf sich gerichtet sah. Koolau zögerte, dann ließ er die Waffe sinken.

»Es fällt mir schwer«, meinte er.

»Du bist ein Narr, sechsundzwanzig, siebenundzwanzig«, sagte Kapahei. »Komm, ich zeig’s dir.«

Er stand auf und näherte sich der verwundeten Kreatur mit einem schweren Felsbrocken in der Hand. Als er den Arm hob, um zuzuschlagen, explodierte eine Granate genau über ihm. Sie befreite ihn so von der Notwendigkeit, die Tat auszuführen, und machte gleichzeitig dem Mitzählen ein Ende.

Koolau war allein in der Schlucht. Er sah zu, wie die letzten seiner Leute ihre verkrüppelten Leiber über den Bergkamm schleppten und verschwanden. Dann drehte er sich um und ging zu dem Dickicht hinunter, wo das Mädchen getötet worden war. Das Granatfeuer hielt unvermindert an, aber er blieb, denn tief unten konnte er die Soldaten heraufklettern sehen. Eine Granate explodierte sechs Meter von ihm entfernt. Er preßte sich flach auf den Boden und hörte den Splitterhagel über seinen Körper hinwegsausen. Ein Schauer von HauBlüten regnete auf ihn herab. Er hob den Kopf, um zu dem Pfad hinunterzuspähen und seufzte. Er fürchtete sich sehr. Gewehrkugeln hätten ihn nicht geängstigt, doch dieses Granatfeuer war schrecklich. Jedesmal, wenn ein Geschoß vorbeipfiff, durchfuhr ihn ein Schaudern, und er duckte sich; aber jedesmal hob er wieder den Kopf, um den Pfad zu beobachten.

Schließlich hörte der Beschuß auf. Das, so nahm er an, lag daran, daß die Soldaten immer näher kamen. Im Gänsemarsch krochen sie den Pfad entlang, und er versuchte, sie zu zählen, bis er durcheinander geriet. Auf alle Fälle waren es mindestens um die hundert - und alle hatten es auf Koolau, den Aussätzigen, abgesehen. Er fühlte einen Anflug von Stolz in sich aufsteigen. Mit Kriegsgeschütz und Gewehren, Polizeiaufgebot und Soldaten jagten sie ihn, und er war nur ein einzelner Mann, ein verkrüppeltes Wrack von einem Mann obendrein. Sie boten tausend Dollar für ihn, tot oder lebendig. In seinem ganzen Leben hatte er nicht so viel Geld besessen. Dieser Gedanke war bitter. Kapahei hatte recht gehabt. Er, Koolau, hatte nie etwas Böses getan. Nur weil die Haoles Arbeitskräfte brauchten, um das gestohlene Land zu bestellen, hatten sie die chinesischen Kulis hergebracht, und mit ihnen war die Krankheit gekommen. Und weil er sich mit dieser Krankheit angesteckt hatte, war er auf einmal tausend Dollar wert - die aber nicht ihm gehören sollten. Es war sein wertloser Kadaver, sein von der Krankheit zerfressener oder von einer explodierenden Granate zerrissener Körper, der all das Geld aufwog.

Als die Soldaten den schmalen Grat erreichten, fühlte er sich versucht, sie zu warnen. Doch dann fiel sein Blick auf die Leiche des gemordeten Mädchens, und er schwieg. Als sich sechs auf die Felsspitze gewagt hatten, eröffnete er das Feuer. Und er hörte auch nicht auf, als der Grat gesäubert war. Er leerte sein Magazin, füllte und leerte es wieder. Er schoß immer weiter. Alles Unrecht, das ihm widerfahren war, loderte in seinem Gehirn auf, und er raste vor Rachedurst. Den ganzen Ziegenpfad entlang feuerten die Soldaten, und obwohl sie flach auf der Erde lagen und hinter den Bodenwellen Deckung suchten, boten sie sich ihm dar wie Zielscheiben. Kugeln pfiffen und schlugen um ihn herum ein, und hier und da surrte ein Querschläger durch die Luft. Eine Kugel hinterließ eine Furche in seiner Kopfhaut, und eine zweite streifte das Schulterblatt, ohne ihn nennenswert zu verletzen.

Es war ein Massaker, bei dem nur ein einziger Mann tötete. Die Soldaten begannen sich zurückzuziehen und versuchten, ihre Verwundeten zu bergen. Während Koolau sie einzeln abschoß, nahm er den Geruch von verbranntem Fleisch wahr. Er sah sich erst um und entdeckte dann, daß es seine eigenen Hände waren. Das Gewehr war heiß geworden. Die Lepra hatte die meisten Nerven in seinen Händen zerstört. Zwar verbrannte sein Fleisch, und er roch es auch, doch er fühlte nichts.

Er lag im Dickicht und lächelte, bis ihm die Kanonen einfielen. Zweifellos würden sie wieder auf ihn zielen, und diesmal genau auf das Gebüsch, von wo aus er das Unheil angerichtet hatte. Kaum hatte er seine Stellung gewechselt und sich in einen geschützten Winkel hinter einem kleinen Felsvorsprung zurückgezogen, weil dort, wie er bemerkt hatte, keine Granaten einschlugen, da setzte das Bombardement wieder ein. Er zählte die Geschosse. Noch weitere sechzig wurden in die Schlucht gefeuert, bevor die Geschütze schwiegen. Das kleine Fleckchen Erde war von den Explosionen ganz durchlöchert worden, und es schien unmöglich, daß irgendein Geschöpf das überlebt haben könnte. Der Ansicht waren auch die Soldaten, denn unter der sengenden Nachmittagssonne kletterten sie wieder den Ziegenpfad herauf. Und wieder wurde ihnen der Übergang über den messerscharfen Grat verwehrt, und wieder mußten sie den Rückzug zum Strand antreten.

Noch zwei Tage lang hielt Koolau den Paß, obwohl sich die Soldaten damit begnügten, Granaten in sein Versteck zu feuern. Dann erschien Pahau, ein aussätziger Junge, auf der Felswand am Ende der Schlucht und rief zu ihm hinunter, daß Kiloliana, als er Ziegen jagte, damit sie etwas zu essen bekämen, abgestürzt und dabei umgekommen sei und daß die Frauen sich fürchteten und nicht wüßten, was sie tun sollten. Koolau rief den Jungen zu sich herunter und ließ ihn mit einem Reservegewehr zurück, um den Grat zu bewachen. Er fand seine Leute entmutigt vor. Die meisten von ihnen waren zu hilflos, um sich unter solch widrigen Umständen selbst mit Nahrung zu versorgen, und alle hatten Hunger. Er wählte zwei Frauen und einen Mann aus, bei denen die Krankheit noch nicht soweit fortgeschritten war, und schickte sie zur Schlucht zurück, um Nahrungsmittel und Matten zu holen. Den übrigen sprach er Mut und Trost zu, bis selbst die Schwächsten dabei halfen, einfache Schutzhütten zu bauen.

Doch jene, die Nahrung holen sollten, kamen nicht zurück, und so machte er sich wieder auf den Weg in die Schlucht. Als er zum Rand der Felswand kam, gingen ein halbes Dutzend Gewehre auf einmal los. Eine Kugel brachte ihm eine Fleischwunde an der Schulter bei, und seine Wange wurde von einem Steinsplitter aufgerissen, als eine zweite Kugel gegen die Felswand prallte. In dem Augenblick, in dem das alles geschah und er zurücksprang, sah er, daß es in der Schlucht von Soldaten nur so wimmelte. Seine eigenen Leute hatten ihn verraten. Das Granatfeuer war zu schrecklich gewesen, und sie hatten dem Gefängnis von Molokai den Vorzug gegeben.

Koolau zog sich zurück und schnallte einen seiner schweren Patronengürtel ab. Zwischen den Felsen liegend, wartete er, bis sich Kopf und Schultern des ersten Soldaten deutlich abzeichneten, ehe er abdrückte. Das geschah zweimal, und dann tauchte nach einer Pause anstatt eines weiteren Oberkörpers eine weiße Fahne über dem Rand der Felswand auf.

»Was willst du?« fragte er.

»Ich will dich, wenn du Koolau, der Aussätzige, bist«, lautete die Antwort.

Koolau vergaß, wo er war, er vergaß alles, als er dalag und sich über die seltsame Hartnäckigkeit dieser Haoles wunderte, die ihren Willen durchsetzen wollten, und wenn der Himmel darüber einstürzte. Ja, sie würden ihn allen Menschen und allen Dingen aufzwingen und selbst den Tod dafür in Kauf nehmen. Er konnte einfach nicht umhin, sie wegen dieses Willens zu bewundern, der stärker als das Leben war und der alles ihrem Gebot unterwarf. Er war von der Aussichtslosigkeit seines Kampfes überzeugt. Diesem furchtbaren Willen der Haoles konnte man sich nicht widersetzen.

Und wenn er tausend Mann tötete, so würden sie doch am Ende so zahlreich werden wie der Sand am Meer und ihn weiter verfolgen. Sie wußten nie, wann sie besiegt waren. Das war ihr Fehler und zugleich ihre Stärke. Das war es, was seiner eigenen Rasse fehlte. Jetzt wurde ihm klar, wie diese Handvoll von Evangelisten Gottes und des Rums das Land erobert hatten. Weil sie.

»Nun, was hast du zu sagen? Wirst du mitkommen?«

Es war die Stimme des unsichtbaren Mannes unter der Fahne. Wie jeder Haole steuerte er ohne Umschweife direkt auf das einmal gesetzte Ziel zu.

»Laß uns darüber reden«, sagte Koolau.

Kopf und Schultern kamen zum Vorschein, dann sein ganzer Körper. Er war ein blauäugiger junger Mann von fünfundzwanzig, mit glattrasiertem Gesicht, schlank und schmuck in seiner Hauptmannsuniform. Er kam näher, bis ihm Halt geboten wurde, und setzte sich dann in etwa vier Metern Entfernung nieder. »Du hast Mut«, sagte Koolau erstaunt. »Ich könnte dich wie eine Fliege töten.«

»Nein, das könntest du nicht«, kam die Antwort.

»Warum nicht?« »Weil du ein Mann bist, Koolau, wenn auch einer von der schlimmen Sorte. Ich kenne deine Geschichte. Du tötest nur auf faire Art.«

Koolau knurrte, aber insgeheim freute es ihn.

»Was habt ihr mit meinen Leuten gemacht?« wollte er wissen. »Mit dem Jungen, den beiden Frauen und dem Mann?«

»Sie haben sich ergeben, wozu ich dich jetzt auch auffordere.«

Koolau lachte ungläubig.

»Ich bin ein freier Mensch«, verkündete er. »Ich habe nichts Unrechtes getan. Ich verlange nur, daß man mich in Frieden läßt, das ist alles. Ich habe als freier Mensch gelebt, und ich will als freier Mensch sterben. Ich werde mich nicht ergeben.«

»Dann sind deine Leute klüger als du«, entgegnete der junge Hauptmann. »Sieh nur - dort kommen sie.«

Koolau drehte sich um und sah den Rest seiner Schar näherwanken. Stöhnend und seufzend schleppten sie ihr Elend an ihm vorbei - ein gespenstischer Zug. Koolau waren noch bittere Augenblicke beschieden, denn im Vorbeigehen überschütteten sie ihn mit Verwünschungen und Beschimpfungen; und das keuchende alte Weib, das den Zug beschloß, blieb stehen, streckte ihre dürren Harpyienkrallen aus, wiegte knurrend ihren Totenschädel hin und her und stieß einen Fluch aus. Einer nach dem andern überquerte den Kamm und ergab sich den in Deckung gegangenen Soldaten.

»Du kannst dich jetzt zurückziehen«, sagte Koolau zu dem Hauptmann. »Ich werde mich nie ergeben. Das ist mein letztes Wort. Leb wohl.«

Der Hauptmann verschwand hinter dem Felsen bei seinen Soldaten. Gleich darauf hob er ohne Parlamentärsflagge die Mütze auf seiner Säbelscheide in die Höhe, und Koolaus Kugel durchschlug sie. An diesem Nachmittag beschossen sie ihn vom Strand aus mit Granaten, und als er sich in die hochgelegenen, unzugänglichen Schlupfwinkel weiter oben zurückzog, folgten ihm die Soldaten.

Sechs Wochen lang jagten sie ihn von einem Versteck zum andern, über die Vulkangipfel und die Ziegenpfade entlang. Als er sich im Lantanendschungel verbarg, bildeten sie Reihen von Treibern und hetzten ihn wie ein Kaninchen durch das Guavengestrüpp. Aber immer wieder wechselte er die Richtung, schlug Haken und entwischte ihnen. Sie konnten ihn nicht in die Enge treiben. Kamen sie ihm zu nahe, stellte sein zuverlässiges Gewehr den gebührenden Abstand wieder her, und sie trugen ihre Verwundeten den Ziegenpfad hinunter zum Strand. Zuweilen feuerten auch sie, wenn sein brauner Körper sich für einen Augenblick im Unterholz zeigte. Einmal erwischten ihn fünf von ihnen auf einem ungeschützten Ziegenpfad zwischen den Verstecken. Sie schossen ihre Gewehre auf ihn leer, während er hinkend den schwindelerregenden Steig emporkletterte. Danach fanden sie Blutspuren und wußten, daß er verletzt war. Nach sechs Wochen gaben sie auf. Soldaten und Polizei kehrten nach Honolulu zurück, und das Kalalau-Tal wurde ganz ihm überlassen, wenngleich sich von Zeit zu Zeit Kopfgeldjäger dorthin wagten und in ihr Verderben rannten.

Zwei Jahre später verkroch sich Koolau zum letzten Mal in einem Dickicht und legte sich zwischen Ti-Blättern und wilden Ingwerblüten nieder. Als freier Mann hatte er gelebt, und als freier Mann starb er. Ein leichter Nieselregen setzte ein, und er zog eine zerlumpte Decke über seine verstümmelten Gliederreste. Sein Körper war mit einem Mantel aus Ölzeug bedeckt. Quer über die Brust legte er sich sein Mausergewehr und wischte zärtlich die Feuchtigkeit vom Lauf. Die Hand, mit der er das tat, besaß keinen einzigen Finger mehr, um abzudrücken.

Er schloß die Augen, denn an der Schwäche in seinem Körper und dem benommenen Aufruhr, der in seinem Gehirn herrschte, erkannte er, daß sein Ende nahte. Wie ein wildes Tier hatte er sich zum Sterben in einem Versteck verkrochen. Nur halb bei Bewußtsein und ziellos umherschweifend, durchlebte er in Gedanken noch einmal die Zeit als junger Mann auf Niihau. Während das Leben erlosch und das Tropfen des Regens in seinen Ohren immer schwächer wurde, schien es ihm, als sei er gerade dabei, Pferde zuzureiten, als bockten und bäumten sich die wilden Hengstfüllen unter ihm, der mit unter dem Pferdebauch zusammengebundenen Steigbügeln ritt, oder als jagten sie wie verrückt in der Zureitkoppel umher und scheuchten die Cowboys, die helfen wollten, über das Gatter. Im nächsten Augenblick sah er sich - und es schien ihm ganz natürlich - die wilden Bullen auf den Hochlandweiden verfolgen, sie mit dem Lasso einfangen und ins Tal bringen. Wieder brannten der Schweiß und der Staub des Brandpferchs in seinen Augen und stachen ihm in die Nase.

Seine ganze fröhliche, unversehrte Jugend stand vor ihm auf, bis die bohrenden Schmerzen der nahen Auflösung ihn in die Wirklichkeit zurückbrachten. Er hob seine verstümmelten Hände und starrte sie verwundert an. Aber wie? Warum? Warum mußte die Unversehrtheit seiner ungezügelten Jugend sich in so etwas verwandeln? Dann erinnerte er sich, und einen Augenblick lang war er wieder Koolau, der Aussätzige. Seine Lider sanken müde herab, und seine Ohren nahmen das Geräusch der Regentropfen nicht länger wahr. Ein anhaltendes Zittern überfiel seinen Körper. Dann hörte auch das auf. Er hob den Kopf ein wenig, aber der fiel zurück. Dann öffneten sich die Augen und schlossen sich nicht wieder. Sein letzter Gedanke galt seinem Mausergewehr, und er preßte es mit seinen zusammengelegten, fingerlosen Händen an die Brust.

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