DAS HAUS DES STOLZES

Percival Ford fragte sich, weshalb er eigentlich gekommen war. Er tanzte nicht. Er machte sich auch nicht viel aus Militärangehörigen. Aber er kannte sie alle, die dort über den breiten Lanai des Hotel Seaside dahinglitten und sich im Kreise drehten, die Offiziere in ihren frischgestärkten weißen Uniformen, die Zivilisten in Weiß und Schwarz und die Damen mit entblößten Schultern und Armen. Nach zweijährigem Aufenthalt in Honolulu sollte das Zwanzigste Regiment nun zu seinem neuen Standort in Alaska abziehen, und Percival Ford mußte als einer der wichtigen Männer auf den Inseln nun einmal mit den Offizieren und ihren Damen Umgang pflegen.

Doch zwischen Kennen und Mögen lagen Welten. Die Offiziersfrauen machten ihm ein wenig Angst. Sie waren in ihrer Art ganz anders als die Frauen, die ihm am besten gefielen - die älteren Frauen und die alten Jungfern, die bebrillten jungen Mädchen und die überaus seriösen Damen jeden Alters, denen er in Kirchen-, Bibliotheks- und Kindergartenkomitees begegnete und die ihn demütig um Geldspenden und Rat baten. Diese Frauen beherrschte er durch seinen überlegenen Geist, seinen großen Reichtum und den hohen Rang, den er in der Geschäftswelt Hawaiis einnahm. Und vor ihnen hatte er auch keinerlei Scheu. Ihr Geschlecht drängte sich bei ihnen nicht in den Vordergrund. Ja, das war es. Sie besaßen etwas anderes oder etwas mehr als die lebensbejahende grobe Sinnlichkeit. Er war da eigen; das gestand er sich selbst ein; und diese Offiziersfrauen mit ihren bloßen Schultern und nackten Armen, ihrem direkten Blick, ihrer Vitalität und herausfordernden Weiblichkeit verletzten sein Zartgefühl.

Nicht viel besser erging es ihm mit den männlichen Armeeangehörigen, die das Leben von der leichten Seite nahmen, sich durch die Welt tranken, rauchten und fluchten und nicht weniger schamlos als ihre Frauen der Derbheit des Fleisches anhingen. Er fühlte sich in ihrer Gesellschaft stets unbehaglich. Auch sie schienen sich in seiner Gegenwart nicht recht wohl zu fühlen. Und immer glaubte er, daß sie ihn heimlich auslachten oder bemitleideten oder sich eben einfach mit ihm abfanden. Zudem schienen sie durch ihre bloße Nähe das hervorzuheben, was ihm fehlte, die Aufmerksamkeit auf Eigenschaften zu lenken, die er nicht besaß, Gott sei dank nicht besaß. Pfui! Sie waren wie ihre Frauen!

Tatsächlich war Percival Ford ebensowenig ein Freund der Frauen, wie er ein Freund der Männer war. Schon der erste Blick verriet den Grund dafür. Er besaß zwar eine kräftige Konstitution, hatte noch nie nähere Bekanntschaft mit Krankheiten gemacht, nicht einmal mit leichten Unpäßlichkeiten, aber es mangelte ihm an Vitalität. Sein Organismus war negativ. Kein heiß aufwallendes Blut konnte dieses lange, schmale Gesicht, diese dünnen Lippen, diese mageren Wangen und diese kleinen, scharfen Augen genährt und geformt haben. Der sandfarbene, struppige und spärliche Haarschopf zeigte den kargen Nährboden an ebenso wie die schmale, fein modellierte Nase, die entfernt an einen Schnabel erinnerte. Sein verwässertes Blut hatte ihm viel vom Leben vorenthalten und ihm die Ausschweifung nur in einem gestattet, und das war Tugendhaftigkeit. Er rang verzweifelt um untadeliges Verhalten und grübelte darüber nach; und das Rechte zu tun war für seine Natur ebenso notwendig, wie es für den gewöhnlichen Sterblichen notwendig ist, zu lieben und geliebt zu werden.

Er saß unter den Johannisbrotbäumen zwischen dem Lanai und dem Strand. Sein Blick schweifte über die Tanzenden, dann wandte er den Kopf und starrte über die sanft rauschende Brandung hinweg aufs Meer hinaus zu dem tief unten am Horizont leuchtenden Kreuz des Südens. Die entblößten Schultern und Arme der Frauen irritierten ihn. Hätte er eine Tochter, er würde ihr so etwas nie erlauben, niemals. Aber seine Hypothese war rein abstrakter Natur. Die Überlegung wurde von keinem Phantasiebild begleitet. Vor seinem geistigen Auge entstand keine Tochter mit Armen und Schultern. Statt dessen lächelte er über die entfernte Möglichkeit einer Heirat. Er war fünfunddreißig, und da er bis jetzt die Liebe noch nicht selbst erlebt hatte, sah er sie nicht als etwas Mythisches, sondern als etwas Animalisches an. Heiraten konnte jeder. Die japanischen und chinesischen Kulis, die sich auf den Zuckerrohrplantagen und Reisfeldern plagten, heirateten auch. Sie heirateten unweigerlich bei der erstbesten Gelegenheit. Und zwar deshalb, weil sie auf einer so niederen Lebensstufe standen. Für sie gab es keine Alternative. Sie waren wie die Soldaten und ihre Frauen. Doch er war für andere, höhere Dinge bestimmt. Er unterschied sich von ihnen, ihnen allen, und war stolz darauf, so zu sein, wie er war. Er war nicht aus einer unbedeutenden Liebesbeziehung entstanden, sondern aus der hehren Auffassung von Pflicht und Hingabe an eine Sache. Sein Vater hatte nicht aus Liebe geheiratet. Liebe war eine Tollheit, die Isaac Ford nie heimgesucht hatte. Als er der Berufung folgte, den Heiden die Botschaft des Lebens zu bringen, verschwendete er keinen Gedanken an Heirat, noch hatte er das Verlangen danach. Darin glichen sie einander, sein Vater und er. Aber der Missionsrat dachte ökonomisch. Mit neuenglischer Sparsamkeit wog er das Für und Wider ab, entschied, daß verheiratete Missionare pro Kopf billiger kämen und wirksamer seien. Also ordnete der Missionsrat an, daß Isaac Ford zu heiraten habe. Darüber hinaus besorgte er ihm eine Ehefrau, eine ebenso glaubenseifrige Seele, der der Sinn nicht nach Verehelichung stand, sondern die nur danach strebte, bei den Heiden das Werk des Herrn zu verrichten. Sie sahen sich zum ersten Mal in Boston. Der Missionsrat brachte sie zusammen, arrangierte alles, und gegen Ende der Woche waren sie verheiratet und begaben sich auf die weite Reise um das Kap Hoorn.

Percival Ford war stolz darauf, aus einer solchen Verbindung zu stammen. Er war hochgeboren und hielt sich für einen geistigen Aristokraten. Und er war stolz auf seinen Vater. Das war ihm zur Leidenschaft geworden. Die aufrechte, strenge Gestalt Isaac Fords hatte sich seinem Stolz unauslöschlich eingeprägt. Auf seinem Schreibtisch stand eine Miniatur dieses Streiters für den Herrn. In seinem Schlafzimmer hing das Porträt Isaac Fords, zu der Zeit gemalt, als er unter der Monarchie als Premierminister gedient hatte. Nicht etwa, daß Isaac Ford nach Rang und weltlichem Reichtum verlangt hätte, doch als Premierminister und später als Bankier konnte er der Sache der Mission von größerem Nutzen sein. Die deutsche Kolonie, die englische Kolonie und die ganze übrige Handelsclique hatten über Isaac Ford als seelenrettenden Krämer die Nase gerümpft, aber er, sein Sohn, wußte es besser. Als die Eingeborenen sich plötzlich von ihrem Feudalsystem befreiten und ihnen ihre großen Felder durch die Finger rannen, weil sie die Bedeutung und den Wert des Grundbesitzes nicht ermessen konnten, war es Isaac Ford, der zwischen die Händler und ihre Beute getreten war und ausgedehnte, fruchtbare Ländereien in Besitz genommen hatte. Kein Wunder, daß die Handelsleute sein Andenken nicht hochhielten. Aber er hatte seinen enormen Reichtum nie als sein eigen betrachtet. Er hatte sich stets als Verwalter des Herrn gesehen. Von den Einnahmen hatte er Schulen, Krankenhäuser und Kirchen gebaut. Auch war es nicht seine Schuld, daß Zucker nach der Absatzkrise vierzig Prozent Gewinn brachte, daß die von ihm gegründete Bank beim Eisenbahnbau eine glückliche Hand hatte und daß beispielsweise die zwanzigtausend Hektar Weideland auf Oahu, die er für einen halben Dollar pro Hektar gekauft hatte, jetzt alle achtzehn Monate einen Ertrag von zwanzig Tonnen Zucker pro Hektar abwarfen. Nein, Isaac Ford war wahrhaftig eine heroische Gestalt und hätte es verdient gehabt, davon war Percival Ford im stillen überzeugt, neben der Statue Kamehamehas I. vor dem Justizgebäude zu stehen. Isaac Ford war gestorben, aber er, sein Sohn, führte das gute Werk mindestens ebenso unerschütterlich, wenn auch nicht so meisterhaft fort.

Er wandte den Blick wieder dem Lanai zu. Worin bestand der Unterschied, so fragte er sich, zwischen den schamlosen Hulatänzen in Grasröcken und den Tänzen dieser dekolletierten Frauen seiner eigenen Rasse? War es ein grundlegender oder nur ein gradueller Unterschied?

Während er noch über dieses Problem nachsann, legte sich eine Hand auf seine Schulter.

»Hallo, Ford, was machen Sie denn hier? Geht es Ihnen hier nicht zu ausgelassen zu?«

»Ich versuche, Nachsicht walten zu lassen, Dr. Kennedy, wenn ich zusehe«, entgegnete Percival Ford ernst. »Wollen Sie nicht Platz nehmen?«

Dr. Kennedy setzte sich und klatschte laut in die Hände. Rasch kam ein weißgekleideter japanischer Diener herbei.

Kennedy bestellte schottischen Whisky mit Soda, wandte sich dann dem andern zu und meinte: »Sie brauche ich natürlich erst gar nicht zu fragen.«

»Aber sicher werde ich etwas trinken«, entgegnete Ford bestimmt. Die Augen des Doktors zeigten Verwunderung, und der Diener blieb abwartend stehen. »Boy, eine Limonade, bitte.«

Der Doktor lachte herzlich, als hätte sich der andere einen Scherz mit ihm erlaubt, und spähte zu den Musikern unter dem Hau-Baum hinüber.

»Das ist doch das Aloha-Orchester«, sagte er, »ich dachte, die würden am Dienstagabend immer im Hawaiian Hotel spielen. Hat vermutlich Krach gegeben.«

Sein Blick blieb für einen Moment an dem Mann hängen, der die Gitarre spielte und zur Begleitung der übrigen Instrumente ein hawaiisches Lied sang. Sein Gesicht wurde ernst, als er den Sänger betrachtete, und war immer noch ernst, als er sich wieder zu seinem Tischgenossen umdrehte.

»Sagen Sie, Ford, wäre es nicht langsam an der Zeit, daß Sie Joe Garland in Ruhe ließen. Wie ich höre, sind Sie dagegen, daß die Werbekommission ihn zu diesen SurfingVorführungen in die Staaten schicken will, und ich wollte schon lange mit Ihnen darüber sprechen. Ich dachte, Sie wären froh, wenn er außer Landes geht. Da böte sich doch eine gute Gelegenheit, mit der Jagd auf ihn Schluß zu machen.«

»Jagd?« Die Brauen Percival Fords hoben sich fragend.

»Nennen Sie es, wie Sie wollen«, fuhr Kennedy fort, »Sie haben diesen armen Teufel jahrelang verfolgt. Er kann nichts dafür. Selbst Sie werden das zugeben müssen.«

»Er kann nichts dafür?« Percival Ford preßte seine dünnen Lippen für einen Augenblick fest aufeinander. »Joe Garland ist liederlich und faul. Er ist immer schon ein Taugenichts, ein lasterhafter Mensch gewesen.«

»Aber das ist doch kein Grund, daß Sie ihm ständig auf diese Art und Weise zusetzen. Ich habe Sie von Anfang an beobachtet. Das erste, was Sie taten, als Sie von der Universität zurückkamen und ihn auf der Plantage als Luna arbeiten sahen, war, daß Sie ihn hinauswarfen - Sie mit Ihren Millionen, und er mit seinen sechzig Dollar im Monat.«

»Nicht das erste«, entgegnete Percival Ford sachlich, in dem richterlichen Ton, wie er ihn bei Ausschußsitzungen anzuschlagen pflegte. »Er erhielt von mir eine Verwarnung. Der Verwalter meinte, er sei ein fähiger Aufseher. In dieser Beziehung hatte ich also nichts gegen ihn einzuwenden. Wohl aber gegen das, was er außerhalb der Arbeitszeit tat. Er zerstörte mein Werk schneller, als ich es aufbauen konnte. Was nützten die Sonntagsschulen, der Abendunterricht und die Nähkurse, wenn anschließend dieser Joe Garland mit seinem schrecklichen, ewigen Gitarren- und Ukulelegeklimper, seinem Alkohol und seinen Hulatänzen kam? Nachdem ich ihn verwarnt hatte, traf ich ihn zufällig - ich werde das nie vergessen - unten bei den Hütten. Es war abends. Ich konnte die Hula-Gesänge bereits hören, ehe ich sah, was sich abspielte. Und als ich es dann sah, erkannte ich die Mädchen, die schamlos im Mondlicht tanzten - jene Mädchen, denen ich mühsam einen einwandfreien Lebenswandel und anständiges Benehmen beizubringen versuchte. Und drei Mädchen waren darunter, das weiß ich noch, die gerade erst die Missionsschule absolviert hatten. Natürlich entließ ich Joe Garland. Ich weiß, in Hilo war es dasselbe. Die Leute sagten, ich hätte alle Hebel in Bewegung gesetzt, um Mason und Fitch dazu zu bringen, ihn zu entlassen. Aber die Missionare baten mich darum. Durch sein verwerfliches Beispiel machte er alle ihre Anstrengungen zunichte.«

»Später, als er bei der Eisenbahn, Ihrer Eisenbahn, untergekommen war, hat man ihm ohne Grund gekündigt«, wandte Kennedy ein.

»Keineswegs«, wurde ihm lebhaft widersprochen. »Ich ließ ihn in mein Privatkontor kommen und unterhielt mich eine halbe Stunde mit ihm.«

»Sie entließen ihn wegen Unfähigkeit?«

»Wegen seines unmoralischen Lebenswandels, wenn Sie gestatten.«

Dr. Kennedy lachte trocken auf. »Wer, zum Teufel, hat Sie zum Richter und Geschworenen eingesetzt? Verleiht Ihnen Ihr Grundbesitz die Macht über die unsterblichen Seelen jener Menschen, die für Sie arbeiten? Ich bin immer Ihr Arzt gewesen. Muß ich deshalb morgen Ihren Ukas erwarten, daß ich entweder auf meinen Whisky mit Soda oder auf Ihre Gönnerschaft zu verzichten habe? Pah! Ford, Sie nehmen das Leben viel zu ernst. Außerdem, als Joe in diese Schmuggel affäre geraten war (er stand damals nicht in Ihren Diensten), Ihnen eine Nachricht schickte und Sie bat, die Geldstrafe für ihn zu bezahlen, da ließen Sie ihn lieber seine sechs Monate Schwerarbeit auf dem Riff ableisten. Vergessen Sie nicht, daß Sie damals Joe Garland schmählich im Stich gelassen haben. Sie ließen ihn fallen, und er fiel hart; aber ich erinnere mich noch an den Tag, als Sie an unsere Schule kamen - wir gehörten zum Internat, und Sie waren nur ein Externer - und Ihre Feuertaufe erhalten sollten. Dreimal Untertauchen im Schwimmbecken - Sie wissen, das war die übliche Dosis, die jeder neue Junge bekam. Und Sie sträubten sich. Sie sagten, Sie könnten nicht schwimmen. Sie hatten einfach Angst, schreckliche Angst.«

»Ja, ich weiß«, sagte Percival Ford langsam. »Ich hatte Angst. Und es war eine Lüge, denn ich konnte schwimmen. Und ich hatte wirklich Angst.«

»Und erinnern Sie sich noch, wer sich für Sie einsetzte? Wer für Sie log, schlimmer, als Sie selbst lügen konnten, und alles bestätigte und beschwor? Wer ins Bassin sprang und Sie nach dem ersten Untertauchen herauszog und dafür von den anderen Jungen, die inzwischen herausgefunden hatten, daß Sie doch schwimmen konnten, fast ertränkt wurde?«

»Natürlich weiß ich das«, entgegnete der andere kühl. »Aber eine edelmütige Tat als Knabe entschuldigt nicht ein lebenslanges Fehlverhalten.«

»Er hat Ihnen doch nie etwas Unrechtes getan? - Ihnen persönlich und direkt, meine ich?«

»Nein«, lautete Percival Fords Antwort. »Das ist es ja, was meine Position unangreifbar macht. Ich hege keinen persönlichen Groll gegen ihn. Er ist schlecht, das ist alles. Sein Leben ist schlecht - «

»Was anders ausgedrückt heißt, daß er bei der Frage, wie man sein Leben führen soll, nicht Ihrer Auffassung ist«, unterbrach ihn der Doktor.

»Nennen Sie es meinetwegen so. Es ist nebensächlich. Er ist ein Tagedieb - «

»Aus gutem Grund«, kam der Einwurf, »wenn man bedenkt, aus wieviel Arbeitsstellen Sie ihn vertrieben haben.«

»Er ist unmoralisch - «

»Jetzt hören Sie aber auf, Ford. Reiten Sie nicht dauernd darauf herum. Sie stammen aus einer rein neuenglischen Familie. Joe Garland ist zur Hälfte Südseeinsulaner. Ihr Blut ist dünn. Das seine ist heiß. Sie verstehen unter Leben etwas ganz anderes als er. Er lacht und singt und tanzt durchs Leben, heiter, selbstlos, wie ein Kind und als jedermanns Freund. Sie gehen durchs Leben wie eine wandelnde Gebetsmühle, sind nur der Freund der Rechtschaffenen, und die Rechtschaffenen sind jene, die mit Ihnen darin übereinstimmen, was recht ist. Aber wer weiß das schließlich schon? Sie leben als Eremit. Joe Garland lebt als liebenswürdiger Zeitgenosse. Wer hat dem Leben mehr abgewonnen? Wir werden für das Leben belohnt. Ist der Lohn zu dürftig, werfen wir die Arbeit hin. Das ist der Grund, glauben Sie mir, für jeden vernunftbedingten Selbstmord. Joe Garland würde bei dem Lohn, den Sie vom Leben erhalten, verhungern. Sehen Sie, er ist anders beschaffen. Und ebenso würden Sie verhungern bei seinem Lohn, der Singen ist und Liebe - «

»Sinnliche Begierde, wenn Sie gestatten«, unterbrach Ford ihn.

Dr. Kennedy lächelte.

»Liebe ist für Sie ein Wort mit fünf Buchstaben und eine Definition, die Sie dem Lexikon entnommen haben. Aber Liebe, wirkliche Liebe, die zärtlich, erquickend wie Tau ist und die das Herz höher schlagen läßt, kennen Sie nicht. Wenn Gott Sie und mich und Männer und Frauen erschaffen hat, glauben Sie mir, dann hat er auch die Liebe erschaffen. Aber um darauf zurückzukommen - es ist jetzt an der Zeit, daß Sie aufhören, Jagd auf Joe Garland zu machen. Es ist Ihrer unwürdig, und es ist feige. An Ihnen ist es jetzt, ihm die Hand zu reichen und ihm zu helfen.«

»Warum ausgerechnet ich und nicht Sie?« fragte der andere. »Warum helfen Sie ihm nicht?«

»Das habe ich getan. Ich helfe ihm gerade im Moment. Ich versuche, Sie dazu zu bringen, daß Sie den Vorschlag der Werbekommission, ihn ins Ausland zu schicken, nicht boykottieren. Ich habe ihm die Stellung in Hilo bei Mason und Fitch besorgt. Ich habe ihm ein halbes Dutzend Jobs verschafft, und aus jedem haben Sie ihn vertrieben. Aber lassen wir das. Vergessen Sie nur eins nicht - ein wenig Offenheit wird Ihnen nicht schaden -, es ist nicht fair, Joe Garland den Fehler eines anderen zur Last zu legen; und Sie wissen, daß Sie, Sie am allerwenigsten das Recht dazu haben. Mann, das ist doch geschmacklos. Es ist geradezu unanständig.« »Jetzt kann ich Ihnen nicht mehr folgen«, antwortete Percival Ford. »Sie schweben in den Wolken irgendeiner unverständlichen wissenschaftlichen Theorie über Vererbung und persönliche Unverantwortlichkeit. Aber wie selbst die abstruseste Theorie Joe Garland seine Missetaten abnehmen und gleichzeitig mich persönlich dafür verantwortlich machen kann - verantwortlicher als jeden anderen, einschließlich Joe Garland -, das geht über meinen Verstand.«

»Vermutlich sind es wieder die Gebote des Feingefühls oder des guten Geschmacks, die Sie daran hindern, mir zu folgen«, brauste Dr. Kennedy auf. »Es mag ja schön und gut sein, in Gesellschaft gewisse Dinge stillschweigend zu übergehen, aber Sie tun mehr, als sie schweigend zu übergehen.«

»Darf ich fragen, was ich stillschweigend übergehe?«

Dr. Kennedy wurde zornig. Eine tiefere Röte als die übliche von Whiskey mit Soda hervorgerufene überzog sein Gesicht, als er antwortete:

»Den Sohn Ihres Vaters.«

»Was wollen Sie damit sagen?«

»Verdammt noch mal, Mann, Sie können doch von mir nicht verlangen, daß ich noch deutlicher werde. Aber schön, wenn Sie unbedingt wollen - Sie übergehen Isaac Fords Sohn Joe Garland, Ihren Bruder.«

Percival Ford rührte sich nicht, sein Gesicht zeigte einen verstörten und entsetzten Ausdruck. Kennedy sah ihn neugierig an, dann, als die Minuten sich endlos hinzogen, wurde er verlegen und bekam es mit der Angst zu tun.

»Mein Gott!« rief er schließlich, »Sie wollen mir doch nicht etwa weismachen, daß Sie nicht im Bilde waren!«

Als Antwort wurden Percival Fords Wangen allmählich aschfahl.

»Das ist ein abscheulicher Witz«, sagte er, »ein abscheulicher Witz.«

Der Doktor hatte sich wieder in der Gewalt.

»Jeder weiß es«, sagte er. »Ich dachte, Sie wüßten es auch. Andernfalls wird es höchste Zeit, daß Sie es endlich erfahren, und ich bin froh, daß sich die Gelegenheit ergeben hat, Ihnen reinen Wein einzuschenken. Joe Garland und Sie sind Brüder -Halbbrüder.«

»Das ist eine Lüge«, rief Ford. »Das ist nicht Ihr Ernst. Joe Garlands Mutter war Eliza Kunilio.« (Dr. Kennedy nickte.) »Ich kann mich noch gut an sie erinnern, mit ihrem Ententeich und ihrem Taro-Feld. Sein Vater war Joseph Garland, der sich immer am Strand herumtrieb.« (Dr. Kennedy schüttelte den Kopf.) »Er starb erst vor zwei oder drei Jahren. Er hat sich immer betrunken. Von ihm hat Joe seine Zügellosigkeit. Da haben Sie Ihre Vererbung.«

»Und keiner hat es Ihnen erzählt?« fragte Kennedy nach einer Weile verwundert.

»Dr. Kennedy, Sie haben da etwas Furchtbares gesagt, das ich nicht einfach so hinnehmen kann. Sie müssen es entweder beweisen, oder.«

»Finden Sie den Beweis doch selbst. Drehen Sie sich um und schauen Sie ihn sich an, dort drüben im Profil. Sehen Sie seine Nase. Es ist die Nase Isaac Fords. Ihre ist nur ein schwacher Abklatsch davon. Ja, das stimmt. Schauen Sie nur. Die Züge sind voller, aber sie sind alle vorhanden.«

Percival Ford betrachtete den Kanakenmischling, der unter dem Hau-Baum spielte, und ihm war, als starrte er dank irgendwelcher Beleuchtungstricks auf seinen gespenstischen Doppelgänger. Zug um Zug offenbarte sich jetzt plötzlich die unverkennbare Ähnlichkeit. Oder vielmehr war er der geisterhafte Zwilling dieses anderen, muskulösen, prachtvoll gebauten Mannes. Und seine Züge erinnerten ebenso wie die Züge des anderen Mannes an Isaac Ford. Und niemand hatte es ihm gesagt. Er kannte jede Linie in Isaac Fords Gesicht.

Miniaturen, Photographien und Porträts seines Vaters ließ er im Geist Revue passieren, und er entdeckte immer wieder, mal hier, mal dort, Ähnlichkeiten und schwache Andeutungen von Gleichartigkeit in dem Gesicht vor sich. Es war ein Werk des Teufels, dieses Wiederaufscheinen der strengen Züge Isaac Fords in jenem weichen und sinnlichen Gesicht dort drüben. Einmal wandte sich der Mann um, und für einen kurzen Moment schien es Percival Ford, als blicke ihn sein längst verstorbener Vater aus John Garlands Gesicht an.

»Es hat ja gar nichts zu sagen«, hörte er Dr. Kennedy wie aus weiter Ferne sagen. »In jenen frühen Tagen ging alles drunter und drüber. Das wissen Sie auch. Sie haben das selbst Ihr ganzes Leben lang gesehen. Matrosen heirateten Königinnen und zeugten Prinzessinnen und so weiter. Das war nichts Ungewöhnliches auf den Inseln.«

»Aber nicht bei meinem Vater«, unterbrach Percival Ford ihn.

»Da haben Sie’s.« Kennedy zuckte die Schultern. »Kosmische Kraft und brodelndes Leben. Der alte Isaac Ford war sittenstreng und all das, und ich weiß, daß es nicht zu erklären ist, am allerwenigsten war es das für ihn selber. Er verstand es ebensowenig wie Sie. Brodelndes Leben, das ist alles. Und vergessen Sie eines nicht, Ford. Es war ein Schuß unruhigen Blutes im alten Isaac Ford, und Joe Garland erbte das - das alles, das brodelnde Leben und die kosmische Kraft -wohingegen Sie das ganze asketische Blut des alten Isaac Ford mitbekamen. Und nur weil Ihr Blut kalt, ordentlich und gezügelt ist, haben Sie kein Recht, mit Mißbilligung auf Joe Garland herabzublicken. Wenn Joe Garland Ihr Werk zerstört, dann denken Sie daran, daß es auf beiden Seiten nur der alte Isaac Ford ist, der mit der einen Hand zunichte macht, was er mit der anderen schafft. Sie sind, sagen wir, Isaac Fords rechte Hand, Joe Garland ist seine linke.«

Percival Ford antwortete nicht, und in dem Schweigen trank Dr. Kennedy seinen Whisky mit Soda aus, den er ganz vergessen hatte. Auf der anderen Seite der Rasenfläche hupte ein Automobil gebieterisch. »Das ist mein Wagen«, sagte Dr. Kennedy und erhob sich. »Ich muß weiter. Es tut mir leid, daß ich Sie so durcheinandergebracht habe, und gleichzeitig bin ich froh darüber. Und eines sollen Sie wissen: Der Schuß unruhigen Blutes in Isaac Ford war außerordentlich gering, und Joe Garland hat ihn ganz bekommen. Und noch etwas. Wenn die linke Hand Ihres Vaters sie stört, hauen Sie sie nicht ab. Außerdem ist Joe ganz in Ordnung. Offen gestanden, wenn ich die Wahl hätte, mit Ihnen oder Joe auf einer einsamen Insel zu leben, würde ich mich für Joe entscheiden.«

Kleine Kinder mit nackten Beinen tollten um ihn herum und spielten auf dem Gras, aber Percival Ford bemerkte sie nicht. Er starrte unverwandt auf den Sänger unter dem Hau-Baum. Einmal wechselte er sogar den Platz, um näher an ihn heranzukommen. Der Buchhalter des Seaside kam altersschwach vorbeigehumpelt und zog mühsam seine widerstrebenden Füße nach. Seit vierzig Jahren lebte er nun schon auf den Inseln. Percival Ford winkte ihm, und der Buchhalter trat ehrerbietig näher, verwundert darüber, daß Percival Ford überhaupt Notiz von ihm genommen hatte.

»John«, sagte Ford, »ich hätte gern eine Auskunft von Ihnen. Möchten Sie sich nicht setzen?«

Der Buchhalter nahm verlegen Platz, ganz überwältigt von der unverhofften Ehre. Er sah den anderen nicht an und murmelte: »Ja, Sir, vielen Dank.«

»John, wer ist Joe Garland?«

Der Buchhalter starrte ihn an, blinzelte, räusperte sich und sagte nichts.

»Nur heraus damit«, befahl Percival Ford. »Wer ist er?«

»Sie machen sich einen Spaß mit mir«, brachte der andere schließlich heraus.

»Ich meine es ernst.«

Der Buchhalter wich vor ihm zurück.

»Sie wollen damit doch nicht sagen, daß Sie es nicht wissen?« fragte er, und allein die Frage war schon Antwort genug.

»Ich möchte es erfahren.«

»Nun, er ist - « John brach ab und sah ihn hilflos an. »Sollten Sie nicht besser jemand anderen fragen? Jeder dachte, Sie wüßten Bescheid. Wir glaubten immer.«

»Ja, nur zu.«

»Wir glaubten immer, daß Sie ihn deshalb auf dem Kieker hätten.«

Photographien und Miniaturen Isaac Fords zogen im Geist an seinem Sohn vorbei, und Geistererscheinungen Isaac Fords schienen ihn zu umschweben. »Ich wünsche Ihnen eine gute Nacht, Sir«, hörte er den Buchhalter sagen und sah, wie er forthumpeln wollte.

»John«, rief er plötzlich.

John kehrte wieder um und blieb, blinzelnd und sich nervös die Lippen leckend, dicht vor ihm stehen.

»Sie haben es mir ja noch nicht gesagt, wissen Sie.«

»Oh, das mit Joe Garland?«

»Ja, das mit Joe Garland. Wer ist er?«

»Er ist Ihr Bruder, Sir, mit Ihrer gütigen Erlaubnis.«

»Danke, John. Gute Nacht.«

»Und Sie haben es nicht gewußt?« fragte der Alte, der nun, da der kritische Augenblick überstanden war, nichts dagegen hatte, noch länger zu bleiben.

»Danke, John. Gute Nacht«, erhielt er zur Antwort.

»Jawohl, Sir, vielen Dank. Ich glaube, es fängt an zu regnen. Gute Nacht, Sir.«

Aus einem klaren, nur mit Sternen und Mondschein erfüllten Himmel fiel ein so feiner und leichter Regen, daß er an zerstäubten Dampf erinnerte. Niemand kümmerte sich darum, die Kinder spielten weiter, liefen mit bloßen Beinen über das Gras und hüpften in den Sand; und nach wenigen Minuten hatte der Regen wieder aufgehört. Im Südosten hob sich die Silhouette des Diamond Head mit seinem Krater als scharf umrissener, schwarzer Klecks gegen die Sterne ab. In einschläfernden Abständen spülte die Brandung ihre Gischt über den Sand bis ins Gras, und weit draußen konnte man die Schwimmer als dunkle Punkte unter dem Mond sehen. Die Stimmen der Männer, die einen Walzer begleiteten, verhallten, und in der Stille stieg von irgendwo unter den Bäumen ein Frauenlachen herauf, das wie ein Liebeswerben klang. Es schreckte Percival Ford auf und erinnerte ihn an Dr. Kennedys Worte. Unten bei den Auslegerkanus, die auf den Sand gezogen waren, sah er Männer und Frauen, Eingeborene, die sich wohlig schlaff wie Lotosesser zurücklehnten, die Frauen in weißen Holokus; und auf einem solchen Holoku entdeckte er den dunklen Kopf des Rudergängers, der an der Schulter der Frau ruhte. Weiter unten, wo der Sandstreifen bei der Laguneneinfahrt breiter wurde, erblickte er, Seite an Seite, einen Mann und eine Frau. Als sie sich dem erleuchteten Lanai näherten, konnte er beobachten, wie die Hand der Frau zur Taille hinunterglitt und den Arm, der sie umfangen hielt, löste. Als sie an ihm vorbeikamen, nickte Percival Ford einem ihm bekannten Hauptmann und der Tochter eines Majors zu. Brodelndes Leben, das war es, ein Ausdruck, der alles sagte. Und wieder ertönte unter den dunklen Johannisbrotbäumen das Lachen einer Frau, das ein Liebeswerben war, und an seinem Sitzplatz wurde ein barfüßiger Junge von einem scheltenden japanischen Kindermädchen vorbeigeführt, um zu Bett gebracht zu werden. Die Sänger stimmten sanft und mit schmelzendem Timbre ein hawaiisches Liebeslied an, und die Offiziere und ihre Damen glitten und wirbelten eng umschlungen über den Lanai; und wieder lachte die Frau unter den Johannisbrotbäumen.

Und Percival Ford konnte all das nur mißbilligen. Er war irritiert durch das Liebeslachen der Frau, den Rudergänger, der seinen Kopf auf den weißen Holoku bettete, die Paare, die am Strand spazierengingen, die tanzenden Offiziere mit ihren Frauen und durch die Stimmen der Sänger mit ihren Liebesliedern und durch seinen Bruder, der mit ihnen dort unter den Hau-Bäumen musizierte. Die lachende Frau irritierte ihn besonders. Ein sonderbarer Gedanke wurde in ihm wach. Er war Isaac Fords Sohn, und was Isaac Ford widerfahren war, konnte auch ihm passieren. Er fühlte bei der Vorstellung die schwache Glut einer Röte in seine Wangen steigen und spürte ein brennendes Schamgefühl. Er war entsetzt über das, was ihm im Blut lag. Es war, als habe er plötzlich erfahren, daß sein Vater ein Aussätziger gewesen sei und daß auch er in seinem eigenen Blut den Keim dieser schrecklichen Krankheit mit sich herumtragen könne. Isaac Ford, der gestrenge Streiter des Herrn - der alte Heuchler!

Welcher Unterschied bestand zwischen ihm und irgendeinem Herumtreiber? Das Haus des Stolzes, das Percival Ford errichtet hatte, stürzte jetzt über ihm zusammen.

Die Stunden verrannen, die Offiziere lachten und tanzten, das Eingeborenenorchester spielte weiter, und Percival Ford kämpfte mit dem jäh aufgetauchten und überwältigenden Problem, das ihm aufgebürdet worden war. Er betete still, den Ellbogen auf den Tisch gestützt, den Kopf in die Hand gelegt, so daß er den Anschein eines müden Zuschauers erweckte. Zwischen den Tänzen kamen die Militärs mit ihren Damen und die Zivilisten zu ihm heraufgeschwärmt und überfielen ihn mit dem üblichen nichtssagenden Geplauder, und wenn sie dann auf den Lanai zurückkehrten, nahm er seinen Kampf dort wieder auf, wo er ihn unterbrochen hatte.

Er begann sein lädiertes Idealbild von Isaac Ford wieder zusammenzuflicken, und als Kitt benutzte er eine ausgeklügelte und verzwickte Logik. Sie war von der Art, wie sie in den Geheimlaboratorien von selbstgefälligen Menschen, von Egoisten, konstruiert wird, und sie tat ihre Wirkung. Es war unbestritten, daß sein Vater aus einem feineren Holz geschnitzt war als die Menschen, die ihn umgaben; aber doch war der alte Isaac erst im Prozeß des Werdens begriffen, während er, Percival Ford, bereits vollendet war. Zum Beweis rehabilitierte er seinen Vater und erhöhte dadurch gleichzeitig sich selbst. Sein mageres kleines Ego blähte sich zu ungeheuren Dimensionen auf. Er war groß genug, um zu verzeihen. Bei dem Gedanken glühte er vor Stolz. Isaac Ford war groß gewesen, doch er war größer, denn er konnte Isaac Ford vergeben und ihn sogar wieder in den heiligen Schrein seines Andenkens einsetzen, wenn auch dieser Schrein nicht mehr ganz so heilig war wie vordem. Auch zollte er Isaac Ford dafür Beifall, daß er die Folge seines einzigen Fehltritts ignoriert hatte. Sehr gut, er würde sie auch ignorieren.

Der Tanzabend ging zu Ende. Die Kapelle hatte »Aloha Oe« gespielt und schickte sich an, nach Hause zu gehen. Percival Ford klatschte in die Hände, um den japanischen Diener herbeizurufen.

»Sag dem Mann dort, daß ich mit ihm reden will«, befahl er und zeigte auf Joe Garland. »Sag ihm, er soll herkommen, sofort.«

Joe Garland näherte sich und blieb respektvoll in einigen Schritten Entfernung stehen, wobei er nervös an seiner Gitarre zupfte, die er immer noch umhängen hatte. Der andere bot ihm keinen Platz an.

»Du bist mein Bruder«, sagte er.

»Ja, das weiß doch jeder«, lautete die verwunderte Antwort.

»Wie ich höre, stimmt das«, sagte Percival Ford kühl. »Aber ich habe es bis zum heutigen Abend nicht gewußt.«

Der Halbbruder wartete unbehaglich in dem Schweigen, das nun folgte, während Percival Ford gelassen überlegte, was er als nächstes sagen würde.

»Erinnerst du dich noch daran, als ich zum ersten Mal in die Schule kam und die Jungen mich untertauchten?« fragte er. »Warum hast du für mich Partei ergriffen?«

Der Halbbruder lächelte verlegen.

»Weil du es wußtest?«

»Ja, deshalb.«

»Aber ich wußte es nicht«, bemerkte Percival Ford in demselben kühlen Ton.

»Ja«, sagte der andere.

Wieder trat Schweigen ein. Diener begannen die Lichter auf dem Lanai zu löschen.

»Sie wissen. es jetzt«, sagte der Halbbruder schlicht.

Percival Ford runzelte die Stirn. Dann musterte er den anderen nachdenklich.

»Wieviel muß ich dir geben, damit du die Insel verläßt und nie wiederkommst?« wollte er wissen.

»Nie wiederkommen?« stammelte Joe Garland. »Das ist das einzige Land, das ich kenne. Andere Länder sind kalt. Ich kenne keine anderen Länder. Hier habe ich viele Freunde. In anderen Ländern würde keine einzige Stimme zu mir sagen: >Aloha, Joe, mein Junge<.«

»Ich sagte, damit du nie wiederkommst«, wiederholte Percival Ford. »Die Alameda läuft morgen nach San Francisco aus!«

Joe Garland war bestürzt.

»Aber weshalb?« fragte er. »Sie wissen jetzt, daß wir Brüder sind.« »Eben deshalb«, war die Antwort. »Wie du selbst sagtest: Alle Leute wissen es. Ich werde dich gut dafür bezahlen.«

Alle Unbeholfenheit und Verlegenheit fiel von Joe Garland ab. Die durch Geburt und Rang bedingte Ungleichheit wurde überbrückt, ja umgekehrt.

»Sie möchten, daß ich fortgehe?« fragte er.

»Ich möchte, daß du fortgehst und nie mehr zurückkehrst«, erwiderte Percival Ford.

Und in diesem einen flüchtigen Moment war ihm eine Vision beschieden, in der sein Bruder ihn wie ein Berg überragte und er selbst einschrumpfte und zu mikroskopischer Bedeutungslosigkeit verkümmerte. Aber die Wahrheit bekommt einem Menschen nicht, und keiner kann sich lange so wahrnehmen und dabei am Leben bleiben; und nur in diesem einzigen, flüchtigen Augenblick sah Percival Ford sich und seinen Bruder unverzerrt. Im nächsten Moment wurde er schon wieder von seinem mageren, unersättlichen Ego beherrscht.

»Wie ich schon sagte, es wird sich für dich lohnen. Es soll dein Schaden nicht sein. Ich will dich gut dafür bezahlen.«

»Schön«, sagte Joe Garland. »Ich werde abreisen.«

Er wandte sich zum Gehen.

»Joe«, rief der andere. »Du kannst morgen früh meinen Anwalt aufsuchen. Fünfhundert sofort und zweihundert jeden Monat, solange du fortbleibst.«

»Sie sind sehr freundlich«, entgegnete Joe Garland sanft. »Zu freundlich, aber wie dem auch sei, ich will Ihr Geld nicht. Ich fahre morgen mit der Alameda ab.«

Er ging davon, ohne Lebewohl zu sagen.

Percival Ford klatschte in die Hände.

»Boy«, sagte er zu dem Japaner, »eine Limonade.«

Und über seiner Limonade lächelte er lange und zufrieden in sich hinein.

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