NACHWORT

Es ist die Südsee, die um 1620 Francis Bacons Schiffsreisende auf ihrem imaginären Weg von Peru nach Japan und China durchqueren müssen: eine unerforschte Region mit mythischer Ausstrahlung, in der sie - man hätte es fast erwarten können -auf einen utopischen Staat, Neu-Atlantis nämlich, stoßen. Während der nächsten Jahrhunderte vermuten waghalsige Seefahrer dort in allem Ernst die legendäre »Terra Australis Incognita«, und unzählige »Robinsone«, so Immanuel Kant in seinem Kommentar zu J. J. Rousseau, treibt die Suche nach dem »reinen Genuß eines sorgenfreien in Faulheit verträumten oder mit kindischem Spiel vertändelten Lebens«, treibt der Wunsch »zur Rückkehr in jene Zeit der Einfalt und Unschuld« eines »goldenen Zeitalters«. Ohne Zweifel: Europäer fühlen sich - von Montaigne über Chateaubriand und Herder bis zu Stevenson und Gauguin - immer wieder fasziniert von der -vermuteten oder selbst erfahrenen - vermeintlichen Ursprünglichkeit und Wildheit, die sich inmitten der südpazifischen Wasserwüste plötzlich auftut. Allerdings: von Anfang an treibt unerschrockene Seefahrer und Entdeckungsreisende auch die Suche nach neuen kolonialen Märkten in die Südsee, und sind sie gefunden, strömen nicht nur die sprichwörtlichen Europamüden in die paradiesischen Refugien, sondern auch Missionare und Händler, die nach dem Rechten sehen. Der eine oder andere muß dann wohl auch das Schicksal jenes Captain James Cook erleiden, der die Neuen Hebriden, die Salomonen und 1778 schließlich die nach seinem aristokratischen Freund und Gönner benannten Sandwich-Inseln entdeckt, um - als er 1779 noch einmal zur größten dieser Inseln vulkanischen Ursprungs, nach Hawaii, zurückkehrt - von Eingeborenen erschlagen zu werden. Andere, wie Herman Melville, dessen autobiographischer Erstlingsroman Taipi. Ein Blick auf polynesisches Leben (1846) die Lektüre der Cookschen Berichte und der Schilderungen des Tahiti-Entdeckers Louis-Antoine de Bougainville verrät, vermitteln zwar das Bild eines sorglosen und sexuell freizügigen Lebens; aber das Paradies der Südsee hat auch bei Melville neben dem Reiz des Exotisch-Fremden seine düsteren Seiten: den Kannibalismus, wie sein Held ahnt.

Trotzdem: der junge, dem »sozialen Abgrund« seines proletarischen Elends entfliehende Jack London ist von derartigen Schilderungen fasziniert, vor allem von Melvilles Zeichnung der paradiesisch scheinenden Marquesas-Inseln. Nie wieder - so bemerkt er später in seinem Seereisebuch Die Fahrt der Snark (1911) - sei er vom Traum dieser »terra australis« losgekommen. Freilich sind es nicht Tahiti oder Samoa, nicht die Marquesas oder die Salomonen, die den inzwischen weltberühmten Autor jener in der trostlosen Eiswüste Alaskas spielenden Erzählungen anlocken: es ist Hawaii, es ist Waikiki Beach, es sind die gewaltigen, aus dem Meer emporragenden Vulkankrater, der Haleakala etwa auf der Nachbarinsel Maui mit seinen etwa 33 Kilometern Umfang, es ist das noch liebliche, erst Jahrzehnte später zu traurigem Ruhm gelangende Pearl Harbor, es sind vor allem die Menschen, deren Grußwort »Aloha« - »meine Liebe sei mit dir« - für London die Andersartigkeit, den Unterschied zum kapitalistischen Konkurrenzkampf und zum Elend der Großstädte so sinnfällig macht.

Bevor Jack London aber den Spruch »Neapel sehen und sterben« in das Motto »Hawaii sehen und leben« umformulieren sollte, durfte der begeisterte Melville-Leser jene Inseln, die für ihn an die Stelle der Marquesas traten, vorerst nur aus der Ferne sehen: als der siebzehnjährige Matrose 1893 auf dem Robbenfänger »Sophia Sutherland« vorbeisegelte. Elf Jahre später machte der Reporter London auf seinem Weg in das Kriegsgebiet des russisch-japanischen Konfliktes im Januar 1904 für einen Tag in Waikiki Station, und sechs Monate später genoß er erneut in Honolulu Sonne und Wellen. 1905 kam er urplötzlich auf die Idee, es jenem wagemutigen Captain Joshua Slocum gleichzutun, der zwischen 1895 und 1898 mit seiner kleinen Jacht »Spray« den Erdball umrundet hatte. Deshalb entwarf und baute er, von manchem belächelt und verspottet, aber zielstrebig, wie er nun einmal war, ohne alle professionelle Hilfe die eigene Jacht, die »Snark«, benannt in Anspielung auf Lewis Carrolls The Hunting of the Snark. Der Stapellauf wurde - zuletzt durch das Erdbeben in San Francisco im April 1906 - immer wieder verzögert: nicht, wie ursprünglich vorgesehen, am 1. Oktober 1906, sondern erst am 23. April 1907 verließ das Schiff die Docks an der Franklin Street in San Francisco. Einige hundert Freiwillige hatten sich gemeldet, um in die Crew aufgenommen zu werden - Millionärssöhne und Professoren, Doktoren und Rancher, Sozialisten und Stenographen. Aber London nahm neben seiner zweiten Frau Charmian nur noch ihren Onkel Roscoe Eames, den zum Koch erkorenen Martin Johnson, einen später berühmten Afrika-Filmer, Herbert Stolz, einen jungen Studenten der Stanford-Universität, und einen japanischen Kajütenjungen mit. London meinte, für alles vorgesorgt zu haben: aber Eames kannte eben nur die Bucht von San Francisco und war als Navigator auf hoher See ein Versager. Jack London selbst mußte erst noch den Umgang mit dem Sextanten üben, Martin Johnson konnte gerade einmal Biskuits backen, und für Bert Stolz erwies sich die für Notfälle eingebaute Maschine als Rätsel. Und außerdem: die Orangen froren ein, Kerosindämpfe machten die Karotten ungenießbar und den Aufenthalt unter Deck zu einem Wagnis, Kohle war in verrotteten Säcken angeliefert worden, der Dynamo versagte, das Rettungsboot war leck. Obwohl London statt der zunächst eingeplanten 7000 Dollar nicht weniger als 30000 Dollar investiert hatte, schien die Snark auf dem Weg in ein Fiasko. Als die Jacht nach 27 Tagen doch noch im Hafen von Honolulu einlief, hatte man die Seeabenteurer bereits aufgegeben. Es war ein Fiasko, das später zum endgültigen Abbruch der Reise führen sollte, das aber London zunächst zu einem zweimonatigen Aufenthalt auf den Inseln zwang, um in der Zeit bis zum 15. August die Jacht reparieren zu lassen.

Aber im Grunde war es ein produktives Fiasko. Denn London sollte ein Inselreich kennenlernen, dessen Bewohner Ende des 18. Jahrhunderts unter dem König Kamehameha politisch geeint worden waren, die dann von Missionaren, wenig später von amerikanischen und europäischen Händlern und Investoren heimgesucht wurden, zwei Verfassungen nach amerikanischem Vorbild (1840 und 1852) erhalten hatten und nach der Annexion Kaliforniens (1853) das Interesse der sich immer weiter nach Westen ausdehnenden Vereinigten Staaten auf sich zogen: Zuckerrohrplantagen gingen in amerikanischen Besitz über, Lohnarbeiter wurden aus China und Japan importiert, 1887 wurde in Pearl Harbor ein Marinestützpunkt eingerichtet, und im Verlauf der unblutigen Revolution von 1893, die zur Absetzung der letzten Königin führte, forderte mancher den Anschluß an die USA. Nachdem am 4. Juli 1894 die Unabhängigkeit erklärt worden war und 1895 die formelle Abdankung der Königin erfolgte, annektierten die USA am 12. August 1898 - es war die Zeit des expansionistischen spanisch-amerikanischen Krieges - dann tatsächlich Hawaii, das aber erst 1959 zum fünfzigsten Bundesstaat erklärt wurde.

Jack London fand in Hawaii ein wahres Naturparadies - ein Naturparadies allerdings mit einer kolonialen und gemischtrassigen Gesellschaft, an der Spitze die alte Aristokratie und die neuen amerikanischen Kapitalisten: eigentlich eine delikate Situation für einen Sozialisten, der den für die Zeitschrift Cosmopolitan des Zeitungszaren W. R. Hearst geschriebenen Essay zum Thema »Was das Leben für mich bedeutet« mit der Zuversicht beschlossen hatte, daß ihm zu kämpfen vergönnt sein werde, »das Brecheisen in der Faust, Schulter an Schulter mit den Intellektuellen, den Idealisten, den klassenbewußten Arbeitern, den Hebel ansetzen zu können und das ganze Gebäude zum Wanken zu bringen«. Hatte er, während er sich auf Hawaii aufhielt, jenen Klang des »aufsteigenden Holzschuhs und des herabsteigenden polierten Stiefels« vergessen, den er zum Schluß des Essays zum Symbol gesellschaftlichen Umsturzes erklärt hatte? Es schien so zu sein: London dinierte mit seiner Frau im Royal Hawaiian Hotel, verkehrte mit Richtern, Kongreßabgeordneten, Finanzmagnaten, er traf sich mit der früheren Königin Liliuokalani, fischte bei Fackellicht mit dem Prinzen David Kawanakoa, war Gast auf der Ranch Lorrin A. Thurstons, des Verlegers des Pacific Commercial Advertiser.

Thurston war es allerdings auch, der London zu einer Rede vor hawaiischen Industriellen über sein Lieblingsthema, die Revolution, animierte. Und zum Erstaunen der Gastgeber besuchte London - ausgerechnet am Nationalfeiertag, dem 4. Juli - die Leprakolonie auf Molokai, auf jener zerklüfteten Insel, die wenige Jahrzehnte zuvor der belgische Priester und Missionar Pater Damien zum Ort seines heldenhaften Dienstes an den Kranken erkoren hatte, eine Insel, die als Verbannungsort für die Leprakranken des Landes diente. Allerdings schreibt er dann im Snark-Reisebuch, die Sensationspresse habe die Schrecken Molokais übertrieben, er, Jack London, zöge jederzeit diese »glückliche Kolonie« einem Leben in den »Jauchegruben« des Londoner Ostens oder der New Yorker East Side vor. Jack Kersdale, der amerikanische Held der Erzählung »Leb wohl, Jack«, weist sogar mit fast den gleichen Worten wie London selbst darauf hin, daß sich nach der Einführung eines relativ sicheren bakteriologischen Tests zahlreiche nach Molokai Verbannte, die nachträglich für gesund erklärt wurden, strikt geweigert hätten, die Kolonie wieder zu verlassen - London fügt hinzu, sie seien schließlich als Helfer und Krankenschwestern geblieben.

Trotz dieser Argumente zeichnete London in den seit Juni

1909 in verschiedenen Zeitschriften veröffentlichten Leprageschichten, die später in die Sammlung The House of Pride (1912) aufgenommen wurden, ein völlig anderes Bild, ein Bild, das bei Einheimischen doch einige Empörung hervorrief. Denn in »Koolau, der Aussätzige« etwa dramatisiert London - ganz im Gegensatz zu den Bemerkungen im Snark-Reisebuch - den Widerstand von Leprakranken gegen die zwangsweise Deportierung, und er wählt dafür sogar noch die Binnenperspektive der Betroffenen selbst. Die geben durchaus stichhaltige Gründe für ihren Widerstand, der sich vor dem Hintergrund einer paradiesisch anmutenden Landschaft abspielt. Die Erzählung beginnt mit der Anklagerede des von der Lepra gezeichneten Helden gegen die europäischamerikanischen Missionare und Händler, die sich - so betont er - doppelzüngig des Landes bemächtigt und die dann die Plantagenwirtschaft eingeführt hätten, mit der Folge, billige chinesische Sklavenarbeiter importieren zu müssen und auf diese Weise die Lepra einzuschleppen. Koolau und seine dreißig Männer und Frauen verstehen nicht, daß man sie ihres Bodens berauben und in das Gefängnis der fernen Leprastation werfen darf. Die Verstümmelten und Entstellten, »Ausrutscher und Verirrungen eines wahnsinnigen Gottes, der an der Maschinerie des Lebens herumgespielt« hatte, in deren »verwesenden Körpern immer noch das Leben liebte und sich sehnte«, ziehen sich in unwegsames Gelände zurück, trotzen den Angriffen der Soldaten, werden aber schließlich auf brutale Weise in die Knie gezwungen. Bis auf den schußgewaltigen Koolau, einen ehemaligen Cowboy, geben die Überlebenden auf. Koolau hält sich noch zwei Jahre lang im unwegsamen Gebirge, dann stirbt er, sich an die »Unversehrtheit seiner ungezügelten Jugend« erinnernd, aber immerhin in Freiheit.

London griff mit »Koolau, der Aussätzige« auf die Historie Hawaiis zurück. Es war übrigens der Vater seines Begleiters Bert Stolz, der auf Kauai, wo die Geschichte spielt, als Deputy Sheriff beim Versuch, die Leprakranken wieder einzufangen, getötet wurde. Eine typische Jack London-Story also, in deren Mittelpunkt der heldenhaft kämpfende einzelne steht, der am Leben und an der Freiheit hängt, der allem trotzt, aber schließlich doch - Opfer der »Verirrungen eines wahnsinnigen Gottes« - unterliegt.

Wenn die Alaskaerzählungen den Kampf des vitalen Individuums gegen die Erstarrung des Eises dramatisieren, tragen die Südseegeschichten auch noch die Handschrift des Sozialisten London, der in den Mittelpunkt von »Leb wohl, Jack« und »Der Sheriff von Kona« Weiße - Amerikaner -stellt: sie gehören zur administrativen und gesellschaftlichen Elite Hawaiis, sie glauben sich als Herren gegen die Lepra gefeit. Sozialkritik also? So scheint es zunächst. »Der Sheriff von Kona« etwa ist eine Rahmenerzählung, die auf der paradiesischen Insel Hawaii spielt, dem »Land immerwährender Stille«. Der Binnenerzähler, ein junger Amerikaner, seit achtzehn Jahren hier, berichtet von einem auf der Insel geborenen, kerngesunden Supermann, dessen Optimismus nie zu erschüttern war. Als der Sheriff ein versteckt gehaltenes leprakrankes Mädchen suchen läßt, spricht ihm deren Bruder das Recht dazu ab: er selbst sei - und das stimmt, er weiß es nur nicht - von der Krankheit befallen. Damit rückt die eigentliche Lepra-Problematik in den Hintergrund: im Zentrum der Geschichte steht die psychologisch packende Zeichnung eines scheinbar in sich ruhenden Menschen, dessen Sicherheit urplötzlich zusammenbricht. Zwar weiß London mit der Befreiung des ehemaligen Sheriffs durch wagemutige Freunde - der Erzähler wird dabei von einem Leprakranken in die Hand gebissen, wartet sieben Jahre lang auf die Krankheitssymptome - doch noch ein gehöriges Maß an abenteuerlicher Spannung in die Geschichte zu bringen. Aber der Schwerpunkt liegt auf den psychischen Reaktionen, und das auf die gleiche Weise wie in »Leb wohl, Jack«. Jack Kersdale, Missionarssohn, mit Universitätsstudium in Yale, erfolgreicher Kaufmann, Zuckerplantagenbesitzer, Millionär, ein physischer und intellektueller Supermann, immer mit dem Lächeln absoluter Selbstsicherheit: er weiß genauestens über die Lepra Bescheid, und er rechtfertigt, mit den bereits genannten Gründen, die Politik der Ausgrenzung. Als ihm ein wunderschönes polynesisches Mädchen, in das sich viele Weiße verliebt hatten, eine Sängerin mit einer himmlischen Stimme, von Deck aus ihr Lebewohl zuruft, bricht Kersdale - wie der Sheriff von Kona - zusammen: hatte er doch nichts von ihrer Krankheit gewußt. Auch hier spürt man die Sozialkritik Londons, aber die Bemerkung des Ich-Erzählers, »daß wir mitten im Leben vom Tod umfangen sind«, deutet auf eine tiefere Aussagedimension. Auch in den Südseegeschichten geht es, wie in den Alaskaerzählungen, um den Kampf des Individuums gegen die Erstarrung des Todes. Aber während im Norden Schnee und Eis allgegenwärtig sind, ist Hawaii ein Paradies, in dem Siechtum und Tod durch die Lepra ausgegrenzt zu sein scheinen. Und das Erschrecken, dem Tod wider Erwarten ganz nahe zu sein, ließ sich in den »rein fiktiven Geschichten«, wie London sie einem Freund gegenüber bezeichnete, sehr viel eindringlicher darstellen als mit manch anderem Motiv.

Andererseits kann London trotz allem das Unrecht der Klassengesellschaft darstellen, den unerträglichen gesellschaftlichen Snobismus der Weißen brandmarken. So etwa in der Geschichte »Das Haus des Stolzes«: Sie handelt von dem sich seines »überlegenen Geistes, seines großen Reichtums und des hohen Ranges, den er in der Geschäftswelt Hawaiis einnahm«, sicheren Sohn eines englischen Missionars, der sich wie ein Musterbeispiel puritanischer Selbstgerechtigkeit ausnimmt und auf alles und jeden herabschaut. Dieser selbsternannte geistige Aristokrat muß urplötzlich erfahren, was alle wissen: daß Joe Garland, zur Hälfte von Eingeborenen abstammend, den er überall aus Gründen der Moral verfolgt, in Wahrheit sein Halbbruder ist.

Auch hier der Sturz: »Es war, als habe er plötzlich erfahren, daß sein Vater ein Aussätziger gewesen sei und daß er auch in seinem eigenen Blut den Keim dieser schrecklichen Krankheit mit sich herumtragen könnte.« Aber Percival Ford kleistert sich, ohne viel zu überlegen, eine Rechtfertigung zusammen: Der Vater, ein Missionar, war zwar schon auf dem richtigen Weg, aber erst Percival hat auf der Leiter der moralischen Evolution eine höhere Stufe erklimmen können. Dem weißen Rassisten fallen also, so zeigt London eindringlich, beizeiten die passenden Argumente ein, und er kann sich dann auch noch des Geldes bedienen, um den an den Fehltritt des Vaters erinnernden Halbbruder aus dem Land zu verbannen.

Die Faszination, die vom Thema Lepra ausging, hatte zweifellos für den während seiner letzten Lebensjahre körperlich gezeichneten London auch persönliche Gründe. Aber jenseits der gesellschaftskritischen Aspekte ist doch auch der Zusammenhang mit den Alaskaerzählungen unübersehbar.

Die vermeintlichen Herren - die moralischen, intellektuellen, physischen Supermenschen - müssen erfahren, daß sie mitten im Leben bereits mit dem Tod konfrontiert sind. In dieser Hinsicht ähneln sie jenem einsamen Helden in Londons Meistererzählung »Feuermachen«, deren zweite und endgültige Version nicht zufälligerweise während der Reparatur der Snark entstand. Auch wenn London häufig aus finanziellen Gründen vieles zu schnell, ohne zu korrigieren, ohne zu überarbeiten, niederschrieb: wenn man genauer liest, tun sich Zusammenhänge auf, die in einer integrierten »Philosophie des Lebens« gründen. Das gilt auch für jene Südseegeschichten, die nicht auf einer der Inseln Hawaiis spielen, die aber Londons Ernüchterung über die Zerstörung jener paradiesischen Welt offenbaren, die er aus der Lektüre Melvilles in Erinnerung hatte: Während die Bewohner der Marquesas einst ihre Feinde kannibalisch zu verspeisen pflegten, sind sie nunmehr selbst zum kannibalischen Opfer der durch die Weißen eingeschleppten Mikroorganismen geworden, »von denen sie jetzt gefressen werden« (London schrieb später auch einen Science-fiction-Roman zum Thema der Vernichtung der Menschheit durch Mikroorganismen -The Scarlet Plague, 1915). Gefressen werden sie - so machen andere Südseegeschichten wie die hier nicht aufgenommenen Titel »The Terrible Solomons« oder »Mauki« deutlich - im übertragenen Sinn von den weißen Eroberern.

Ihnen fällt dann auch schon einmal einer ihresgleichen zum Opfer, wie während des hochdramatischen Sturms in »Parlays Perlen«, der Geschichte eines Franzosen, der durch seine Heirat mit einer Herrin über ein Atoll nahe Tahiti nach deren Tod zum »König« avanciert, aber seine in Frankreich erzogene Tochter verliert, als er sie wegen eines Hurrikans nicht rechtzeitig in Papetee abholen kann: Die feine Gesellschaft Tahitis schneidet die nicht Reinrassige. Sie, die aufgrund ihrer französischen Erfahrungen auf derartiges nicht vorbereitet ist, begeht Selbstmord. Mehr als fünfzehn Jahre später will der alte Vater, der inzwischen tonnenweise Perlen auf dem Atoll angehäuft hat, ohne jemals auch nur eine zu verkaufen, Rache nehmen. So kündigt er eine Auktion an, hoffend, daß die einlaufenden Schiffe in die Falle eines Hurrikans gehen werden. Aber nicht nur sie, sondern auch der geistesverwirrt-überhebliche Parlay selbst, der Herr über die Naturgewalten zu sein glaubt, wird Opfer des verheerenden Sturms - und zugleich jene raffgierigen Geister, die er gerufen hat und die nicht einmal - einer von ihnen jedenfalls - vor einem Mordversuch zurückschrecken.

Die bisher genannten Erzählungen wurden während der drei Jahre nach Beendigung der Seereise veröffentlicht, die London wegen zahlreicher Krankheiten abbrechen mußte. Es war eine Zeit ehrgeiziger Pläne - vor allem des Ausbaus und der Vergrößerung der Ranch fünfzig Meilen nördlich von San Francisco nahe dem kleinen Ort Glen Ellen. London wollte Landwirtschaft auf wissenschaftlicher Basis betreiben, baute sterile Schweineställe, pflanzte mit hohen Kosten Eukalyptusbäume, kaufte eine teure Zuchtstute. Aber die Ranch wurde zu einem Alptraum, die finanziellen Probleme verschärften sich trotz der täglich tausend Worte, die London wie eh und je zu Papier brachte; denn auch Investitionen in ein neues lithographisches Verfahren etwa oder in die Verfilmung des Seewolfs erwiesen sich als Fehlschläge. Hinzu kamen persönliche Probleme - eine Fehlgeburt Charmians, der eigene Alkoholismus, Rheuma, Nierenkoliken, schließlich im August

1913 der Brand des fast fertiggestellten »Wolfhauses«, jenes in den Augen der sozialistischen Freunde einigermaßen suspekten feudalen Bauwerks. Aber auch jene die Öffentlichkeit irritierenden Widersprüche mehrten sich: So hatte sich London etwa in einem offenen Brief freimütig auf die Seite der »Sozialisten, Anarchisten, Landstreicher, Hühnerdiebe, Geächteten und unerwünschten Bürger der Vereinigten Staaten« geschlagen und unverhohlen mit den mexikanischen Revolutionären sympathisiert - der boxende Held in der Erzählung »Der Mexikaner« gehört zu ihnen, aber die späteren Berichte über den Krieg in Mexiko für Collier’s Magazine ließen - so jedenfalls die Zeitschrift The Nation - auf einen Autor schließen, der sich offensichtlich die »Finger nach den Millionen von Golddollars (leckte), die dem rechtmäßigen Besitzer, dem mexikanischen Peon, von den räuberischen Handlangern des internationalen Kapitals entrissen worden waren«.

Jack Londons von Problemen überschattete persönliche und berufliche Situation, die zweifellos die zahlreichen Widersprüche und unvermittelten ideologischen Kehrtwendungen erklären hilft, schlägt sich auf direkte Weise in den Kurzgeschichten und Erzählungen dieser Zeit nieder: Neben den profitorientierten und zuweilen rassistischen Figuren begegnet man häufig Gestalten, deren Menschlichkeit und Opferbereitschaft offensichtlich das idealisierte Bild eigener Sehnsüchte sind. Derartiges trifft ohne Zweifel auf die zuerst im September 1909 im London Magazine, dann in der Sammlung Südseegeschichten veröffentlichte Erzählung »Der Heide« zu. Der Ich-Erzähler, ein Perlenhändler, rettet, nachdem das Schiff in einem höllischen Hurrikan untergegangen ist - London schildert ihn ebenso mitreißend wie in »Parlays Perlen« -, einen Kanaken, den der holländische Kapitän einen »schwarzen Heiden« schimpft und den er mit Gewalt von einem Wrackteil vertreibt. Oto’o - so der Name dieses »edlen Wilden« - klammert sich voller Dankbarkeit an den durchaus profitorientierten und mit Arbeitskräften handelnden Weißen: Nachdem sie gleich nach der gemeinsamen Rettung zum Zeichen der Freundschaft die Namen getauscht haben, wird Oto’o, der eigentlich gegen seinen Willen zum Geschäftspartner und gemeinsamen Schiffseigner avanciert, zum zivilisierenden und humanisierenden Einflußfaktor im Leben des Weißen und seiner Familie. Nach siebzehn Jahren endet die Brüderschaft jedoch jäh, als Oto’o - wie London selbst ein Materialist mit Wissen um die Endgültigkeit des Todes - sein eigenes Leben zur Rettung des mit dem Boot Gekenterten und von einem Hai Umkreisten einsetzt. Oto’o ist mutig, aber nicht aggressiv, ein Heide ohne christliche Moralvorstellungen, aber ein guter Mensch. Er verkörpert zu diesem Zeitpunkt, unmittelbar nach der Snark-Fahrt, bereits das, was London mehr als fünf Jahre später in seiner Einleitung zu der von Uptain Sinclair herausgegebenen Anthologie sozialer Protestliteratur The Cry for Justice (1915) als die wichtigsten ethischen Grundsätze bezeichnet, die eine zutiefst ungerechte Welt - Ungerechtigkeit lastet er nicht Gott und der Natur an, sondern dem Menschen -brauche: Sympathie, Mitgefühl, Selbstlosigkeit. Die in der Anthologie vertretenen Sozialisten hätten sich, so London, nicht am kapitalistischen Profit, sondern am Ideal des »Dienstes« orientiert. Eine sich zum Besseren hin entwickelnde Gesellschaft dürfe sich nicht länger durch Gewalt dominieren lassen, müsse vielmehr »Liebe, Dienst am anderen, Brüderlichkeit« praktizieren.

Die 1916 entstandenen letzten Hawaiigeschichten - London hatte nach 1912 zeitweilig das Schreiben von Kurzerzählungen eingestellt - dokumentieren den Bruch mit der proletarischen Vergangenheit, der 1916 im Austritt aus der Sozialistischen Partei gipfelt. London weicht - allerdings nicht unbedingt zu seinem Schaden - vor den persönlichen und beruflichen Problemen endgültig ins Reich der Phantasie, der hawaiischen Geschichte, der alten Mythen aus. Während der erneuten längeren Aufenthalte auf den Inseln 1915 und 1916 gilt er schon als »Kamaaina«, als ein alter Haiwaiianer. Jack London ist jedoch offensichtlich bereits ein gezeichneter, ein todkranker Mann - Rheumaanfälle, Nierenentzündung, Urämie und die Angst, er könne eine Geschlechtskrankheit haben, setzen ihm seit längerem zu. Aber er sammelt nicht nur medizinische Fachliteratur, er vertieft sich seit einiger Zeit auch in die Psychoanalyse, sieht sich bei der Lektüre C. G. Jungs - einiges ist gerade unter dem Titel Psychology of the Unconscious in englischer Sprache erschienen - »auf der Schwelle zu einer Welt, die so neu, so schrecklich, so wunderbar ist, daß ich mich fast fürchte, hinüberzuschauen«. So unterstreicht er in der Einleitung zur amerikanischen Ausgabe Stellen über die Symbolik der Wiedergeburt und über die Figur der Mutter auch eine Bemerkung über den »Charakter und die Intelligenz, die es möglich machen, sich zu überwinden, die eigene nackte Seele zu schauen und die damit verbundenen Schmerzen und Leiden zu ertragen«.

Vom Unterbewußten ist gelegentlich in der Erzählung »Als Alice zur Beichte ging« die Rede. Diese Geschichte der in den Bann des religiösen Erweckungspredigers Abel Ah Yo gezogenen fünfzigjährigen Alice Akana, Besitzerin eines HulaHauses, erinnert noch am ehesten an den alten Jack London, auch wenn der humoristisch-distanzierte Ton nicht allzuoft in seinem Werk zu finden ist. Abel, der sich eigentlich als Judas sieht, aber seine öffentlichen Erweckungsaktionen in Honolulu auf eine Umdeutung der biblischen Gestalt gründet, die er zum Diener Gottes macht, kann Alice zwar auf den Weg der geistigen Erneuerung leiten, aber sie bringt es lange Zeit nicht fertig, öffentlich über ihre Vergangenheit - und das ist die Vergangenheit der feinen Gesellschaft Honolulus - zu reden. Als es dem wortgewaltigen Abel dann doch mit einigen Tricks gelingt, nutzen die bereits angelaufenen Beschwichtigungsversuche alter Bekannter nichts mehr: Dafür kommen jene aus der Oberschicht, die etwas zu verbergen haben, zum ersten Mal in die Veranstaltungen Abels, für den Gott ein Abbild aller Rassen der Welt ist und dessen Lehren den Anstrich des Demokratischen haben. Es liegt nahe, in dem rhetorisch versierten Abel, der die Doppelzüngigen und Heuchler zum Erzittern bringt, jenen seine intellektuellen Gegner niederredenden London zu sehen, dem seine ehemaligen Parteifreunde eben den Vorwurf machten, er habe sie, Judas gleich, verraten. Freilich lehrt Abel-Judas so manchen das Fürchten, ohne allerdings verhindern zu können, daß man ein Komitee gründet: um den nächsten, der vielleicht peinliche Geheimnisse ausplaudert, organisiert zu kaufen.

Andererseits entwirft London in den beiden Rahmenerzählungen »Auf der Makaloa-Matte« und »Die sterblichen Überreste Kahekilis« ein durchaus positives Bild der hawaiianischen Führungsschicht. »Auf der Makaloa-Matte« ist die Geschichte der gut sechzigjährigen Bella Castner, die während eines Besuches bei ihrer Schwester Martha Scandwell von einem tiefgreifenden Jugenderlebnis erzählt, als sie, mit neunzehn Jahren dem puritanischasketischen Arbeitstier George Castner vermählt, dem Prinzen Lilolilo begegnete und das von Liebe und Wärme geprägte Leben Hawaiis kennenlernte. In gewisser Weise - allerdings eher oberflächlich psychoanalytisch orientiert - bringt die bereits sehr alte Bella erzählend ins Bewußtsein zurück, was sie zuvor offensichtlich nie jemandem verraten hatte, und London kontrastiert auf eindringliche Weise zwei unterschiedliche Lebensweisen: die des sparsamen, nur auf Gewinn und Mehrung des Besitzes gerichtete, letztlich unsoziale Art, mit der George Castner seine Zukunft plant, und die Weltoffenheit, die Freude am anderen, die das alte Hawaii auszeichnete: Kontraste, die sich in unterschiedlichen Farben und in der atmosphärischen Zeichnung der Natur, des Hauses, der Menschen spiegeln. Im Grunde handelt es sich um die Vision eines Lebens, wie es London auf seiner Ranch führen wollte, mit Dutzenden von täglichen Besuchern, mit wilden Saufgelagen, kindlichen Späßen und Scherzen (von der Verschwendung Londons profitierten freilich häufig genug Schmarotzer).

Die Binnenerzählung von »Die sterblichen Überreste Kahekilis« ist die Erinnerung des alten Kumuhana an ein Ereignis im Jahr 1829, kurz nach der Ankunft der Missionare: an den Tod des Häuptlings Kahekili, dessen Gebeine später angeblich ins Mausoleum in Honaunau auf Kona umgebettet wurden, der aber in Wirklichkeit während der rituellen Todeszeremonie draußen auf dem Meer in einem als Sarg gebauten Boot im Meer versank. Kumuhana weiß davon, weil er durch eine Reihe von Zufällen nicht wie vorgesehen während der Zeremonie geopfert wurde. Die Binnenerzählung, die auf diese Weise in mündlicher Überlieferung eine vorchristliche Vergangenheit mit Reminiszenzen an die größere Maori-Geschichte evoziert - eine durch gleichsam feudale Stammesstrukturen und Menschenopfer geprägte Vergangenheit - , wird mit dem Rahmen kontrastiert: London präsentiert den 1829 nach Hawaii gekommenen Hardman Pool, einen weißen Rancher, dem Kumuhana fünfzig Jahre später das Geheimnis der Gebeine verrät, als einen wahren Patriarchen, der nicht etwa nimmt, sondern seiner Großfamilie (er hat vierzehn Kinder) Leben und Liebe und noch dem geringsten Arbeitsuntüchtigen oder Alten das Lebensnotwendige freigebig spendet. Auch diese Figur des sich gelegentlich über die Notwendigkeit des benevolenten Führers in einer Welt manipulierbarer Massen auslassenden Hardman Pool scheint den Vorstellungen Londons von einer wahren gesellschaftlichen Ordnung zu entsprechen. London kontrastiert zwar die grausame Vergangenheit mit der durch den Einfluß der Weißen veränderten Zivilisation der Gegenwart - jedenfalls auf der Ranch Pools -, aber die resignative und auf die politischen Realitäten der Jahre des Ersten Weltkriegs nicht mehr eingehende regressiv-agrarische Vision, die auch dem ehrgeizigen Ranch-Projekt von Glen Ellen zugrunde lag, macht die Entfremdung von den Sozialisten verständlich.

Während die Begegnung zwischen Pool und Kumuhana, so die Fiktion, im Jahr 1880 stattfindet, also noch vor der Annexion Hawaiis durch die Vereinigten Staaten, spielt die Rahmenerzählung von »Gebeine« während des Ersten Weltkriegs. Auch hier ist das Thema die Frage nach der Geschichte Hawaiis und der Rolle, die sie für die Gegenwart spielen kann. Prinz Akuli, in Oxford erzogen, berichtet während einer reparaturbedingten Unterbrechung einer Autofahrt auf der Insel Lakanaii einem weitgehend im Hintergrund bleibenden Rahmenerzähler von einem entscheidenden Erlebnis seiner Jugend: als er in Begleitung des alten Ahuna die Knochenstätte der hawaiischen Großen vergangener Jahrhunderte sehen durfte. In dieser Geschichte wird die psycho-analytisch-mythologische Wende Londons besonders deutlich: Ahuna ist der einzige, der den Ort kennt, und er fungiert, nach einer langen Fahrt mit dem Boot übers Meer, entlang einer steil abfallenden Küste - das Boot wird von alten Männern gerudert, die bereits dem Tode nahe sind -als Initiationsführer. Nachdem der Alte und der Junge die Nacht in einer Felsnische verbracht haben, tauchen sie in einen See mit unterirdischem Zugang zu einer Höhle. Dort finden sie die Gebeine, von denen Akulis Mutter, besessen vom Knochensammlertick, einige haben will (sie bewahrt alte Gebeine überall im Haus in großen Gefäßen auf, während der Vater, ein moderner Skeptiker, weder an die alten Götter noch an den von den Missionaren verkündeten christlichen Gott glaubt). Akuli wird offensichtlich von dem weisen, geheime Kenntnisse besitzenden Ahuna in die wahre Bedeutung von Geschichte und Sein eingeführt - jedenfalls deuten Bilder wie Bootsfahrt, Höhle, Wasser, Eintauchen hin auf das mythische Thema der Neugeburt, das London leicht mokant verfremdet, weil im Rahmen der christlichen Religion proklamiert, bereits in »Als Alice zur Beichte ging« angeschlagen hatte. Akuli und Ahuna finden die Gebeine, und der Junge nimmt heimlich das zu einer Speerspitze geformte Schienbein eines Mannes mit, der mit der Frau des Königs geflohen war und von ihm dann im Kampf getötet wurde. Der später in Oxford erzogene und also die Moderne akzeptierende Prinz Akuli bewahrt jedoch das Vermächtnis der Gebeine: »Ihnen, diesen beiden armseligen Knochen, schulde ich unendlichen Dank. In der Zeit, als ich zum Mann heranreifte, war ich von ihnen wie besessen. Ich weiß, daß sie den gesamten Verlauf meines Lebens und meine Denkrichtung änderten. Sie verhalfen mir zu Bescheidenheit und Demut in der Welt, und das Vermögen meines Vaters vermochte es nie, mich davon abzubringen. Die nachdenkliche Betrachtung dieser beiden Knochen war stets eine große Hilfe für mich, und man könnte wohl sagen, daß ich meine Religion oder meine Lebensweise auf sie gegründet habe.«

Derartige mythische Dimensionen weist auch die kurze Erzählung »Das Kind des Wassers« auf, die London am 2. Oktober 1916, wenige Wochen vor seinem Tod am 22. November, fertigstellte. Ihr Kern ist das Gespräch zwischen dem Skeptiker John Lakana - Keaka Lakana war Londons Name auf Hawaii - und Kohokumu, einem alten Taucher, für den das Meer die wahre Mutter ist, die ihn wiedergebären wird, bis er zur Sonne emporschreitet. Dies, so betont der Alte, sei Weisheit, die nicht von außen komme, aus Büchern, von anderen Menschen, sondern aus dem Inneren, aus »den Tiefen meines Innern, das so tief ist wie die See«. Und es handelt sich für ihn nicht um eine menschliche Fiktion, sondern im Sinne von C. G. Jung um Archetypen, die unabhängig vom einzelnen in der Tiefe der Existenz schlummern und nur erkannt werden müssen. Der Alte erzählt dann die Geschichte Keikiwais, des »Wasserbabys«: »Seine Götter waren die Meeres- und Fischgötter, und er verstand von Geburt an die Sprache der Fische, was die Fische nicht wußten, bis es die Haie eines Tages herausfanden, als sie ihn sprechen hörten.« Als der König sich angesagt hat und zu seiner Bewirtung nur noch die Hummer aus der Tiefe des Wassers geholt werden müssen, tauchen vierzig Haie auf. Keikiwai versteht die Sprache der Haie, die ihn töten wollen, und er überlistet sie, die sich gegenseitig selbst zerfleischen, bis nur noch einer übrigbleibt. Die Natur ist - ebenso wie die menschliche Gesellschaft -durch Kampf und Not gekennzeichnet. Menschlicher Verstand und Hinhorchen auf die Natur, so der Mythopoet London, machen den Menschen zum Sieger: dies sicherlich eine tragische Einsicht für einen Mann, der seinen eigenen Tod nicht mehr abzuwenden vermag, gerade als er in der Südsee, in Hawaii, so etwas wie sein individuelles Neu-Atlantis gefunden hat.

Uwe Böker

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