GEBEINE

Sie sind mit ihren Waffen in die Grube gefahren und haben ihre Schwerter unter die Köpfe gelegt.

»Es war schlimm, mit anzusehen, wie die alte Dame wieder in den alten Glauben zurückfiel.« Prinz Akuli warf einen besorgten Blick zur Seite, dorthin, wo sich gerade eine alte Wahine im Schatten eines Kukui-Baumes niederließ, um sich an irgendeine Arbeit zu machen.

»Ja«, nickte er mir fast traurig zu, »in ihren letzten Lebensjahren kehrte Hiwilani zu den alten Bräuchen und dem alten Glauben zurück - heimlich, natürlich. Und, glaube mir, sie war selbst eine beachtliche Sammlerin. Du hättest ihre Knochen sehen sollen. Sie hatte sie in jeder Ecke ihres Schlafzimmers in großen Gefäßen herumstehen, und ihre Verwandten waren fast vollständig vertreten, abgesehen von etwa einem Dutzend, bei denen Kanau ihr zuvorgekommen war. Die Art und Weise, wie die beiden um diese Gebeine zu streiten pflegten, war furchteinflößend. Und als Junge überlief es mich jedesmal eiskalt, wenn ich in ihr großes, stets im Halbdunkel liegendes Zimmer ging und mir klar machte, daß sich in diesem Krug alles befand, was von meiner Großmutter mütterlicherseits übriggeblieben war, und daß in jenem Topf mein Urgroßvater ruhte, daß in all diesen Gefäßen die Knochenreste der zu Staub verfallenen Körper meiner Vorfahren aufbewahrt wurden, deren Erbteil auf mich gekommen und in meinem lebendigen, atmenden Ich aufgegangen war. Hiwilani war zuletzt ganz in die Eingeborenenbräuche zurückgefallen, schlief auf dem harten Fußboden auf Matten - sie hatte das große, prächtige, vierpfostige Himmelbett hinausgeworfen, das ihre Großmutter von Lord Byron, der der Vetter des dichtenden Schwerenöters Byron war und im Jahre 1825 auf der Fregatte Blonde hierherkam, geschenkt bekommen hatte.

Sie führte zuletzt ganz das Leben einer Eingeborenen, und ich sehe sie noch vor mir, wie sie aus dem rohen Fisch ein Stück herausbiß, ehe sie ihn ihren Frauen hinschob. Und sie ließ sie auch ihren Poi aufessen oder was immer sie sonst nicht ganz verzehrte. Sie - «

Doch plötzlich brach er ab, und an der merklichen Blähung seiner Nasenflügel und der Veränderung seines lebhaften Gesichtsausdrucks sah ich, daß er die Luft eingesogen und den Geruch, der ihn beleidigte, identifiziert hatte.

»Der Kuckuck soll das Zeug holen!« rief er mir zu. »Es stinkt zum Himmel. Und ich werde dazu verurteilt sein, es so lange zu tragen, bis man uns abholt.«

Es gab keinen Zweifel über den Gegenstand seiner Abscheu. Die alte Frau war dabei, einen Liebes-Lei (Kranz) aus der Frucht der Hala, der Schraubenpalme oder Pandanus des südlichen Pazifiks, zu winden. Sie schnitt die zahlreichen Unterteilungen oder Schalen der Frucht glockenförmig auf, um sie dann auf die zusammengedrehte und zähe innere Rinde des Hau-Baumes aufzufädeln. Es stank gewiß zum Himmel, doch mir, einem Malihini, schien der Geruch eher weinig herb und fruchtig und nicht unangenehm.

Prinz Akulis Limousine war einen halben Kilometer von hier mit einem Achsenbruch liegengeblieben, und er und ich hatten in diesem laubenähnlichen Berghaus Schutz vor der Sonne gesucht. Bescheiden und mit Gras gedeckt war das Haus, aber es stand in einem kostbaren Garten voller Begonien, die ihre zarten Blüten etwa sechs Meter über unseren Köpfen ausbreiteten, Bäumen gleich mit ihren biegsamen Stämmen, die so dick wie der Arm eines Mannes waren. Hier erfrischten wir uns mit Trinkkokosnüssen, während ein Cowboy etwa zwanzig Kilometer zum nächsten Telefon ritt und einen Wagen aus der Stadt anforderte. Die Stadt selbst, Olokona, Metropole der Insel Lakanaii, konnten wir sehen, und zwar als einen Rauchfleck über der Küstenlinie, sobald wir über die sich kilometerweit ausdehnenden Zuckerfelder, die wellenumspülten Konturen des Riffs und den blauen Dunst des Ozeans zu der Insel Oahu hinüberschauten, die wie ein blasser Opal am Horizont schimmerte.

Maui ist die Insel der Täler und Kauai die Garteninsel Hawaiis, doch Lakanaii, die Oahu gegenüber liegt, ist heute ebenso wie schon von altersher als das Juwel der Gruppe bekannt. Weder die größte noch auch nur annähernd die kleinste, gilt Lakanaii doch als die unberührteste, die auf ihre wildromantische Art schönste und bei ihrer Größe fruchtbarste Insel des Archipels. Der Zuckerrohrertrag dort ist der höchste, ihre Bergrinder sind die fettesten, ihre Niederschläge am ergiebigsten, ohne je Überschwemmungen zu verursachen. Mit Kauai hat sie gemeinsam, daß sie zuerst entstanden und daher die älteste Insel ist, so daß sie genügend Zeit hatte, ihre Lava in fruchtbaren Boden zu verwandeln und die Bergschluchten zwischen den früheren Kratern so auszuwaschen, daß sie den Grand Canyons des Colorado gleichen mit ihren zahlreichen Wasserfällen, die Hunderte von Metern senkrecht herabstürzen oder sich in Nebelschleier auflösen und in der Luft verschwinden, um sanft und unsichtbar in einer Fata Morgana von Regenbogen als Tau oder leichte Schauer auf dem Grund der Schlucht niederzugehen.

Dennoch ist Lakanaii leicht zu beschreiben. Aber wie soll man Prinz Akuli schildern? Wenn man ihn begreifen will, muß man ganz Lakanaii durch und durch kennen. Außerdem muß man auch von der übrigen Welt einiges wissen. Erstens hat Prinz Akuli kein anerkanntes oder verbrieftes Recht darauf, als >Prinz< angesprochen zu werden. Des weiteren bedeutet >Akuli< so viel wie >Tintenfisch<. So daß Prinz Tintenfisch wohl kaum der würdige Titel für den direkten Nachfahren der ältesten und höchsten Alii Hawaiis sein dürfte - einem alten und vornehmen Geschlecht, in dem, wie einst bei den ägyptischen Pharaonen, Brüder und Schwestern sich auf dem Thron miteinander vermählten, da sie nicht unter ihrem Rang heiraten wollten, es auf der ganzen ihnen bekannten Welt aber niemanden gab, der über ihnen stand, und die Dynastie um jeden Preis fortgeführt werden mußte.

Ich habe Prinz Akulis singende Chronisten (die er von seinem Vater geerbt hatte) ihre endlos langen Genealogien vortragen hören, mit denen sie bewiesen, daß er der höchste Alii von ganz Hawaii war. Angefangen bei Wakea, der ihr Adam ist, und Papa, ihrer Eva, lassen sie sich durch so viele Generationen hindurch, wie es Buchstaben in unserem Alphabet gibt, bis zu Nanakaoko, dem ersten auf Hawaii geborenen Vorfahren, und dessen Frau Kahihiokalani zurückverfolgen. Später, doch immer auf höchster Ebene, spaltete sich ihre Linie von der Uas ab, der der Begründer der beiden separaten Königsgeschlechter von Kauai und Oahu war.

Im elften Jahrhundert nach Christus und den Chronisten von Lakanaii zufolge zu der Zeit, als Brüder und Schwestern untereinander heirateten, da es niemanden gab, der über ihnen stand, erhielt ihre Linie eine Auffrischung mit neuem edlen, ja beinahe göttlichem Blut. Ein gewisser Hoikemaha, der nach den Sternen und den alten Überlieferungen steuerte, traf mit einem großen Doppelkanu aus Samoa ein. Er heiratete eine niedrigere Alii von Lakanaii und kehrte dann, als seine drei Söhne erwachsen waren, mit ihnen nach Samoa zurück, um seinen eigenen jüngsten Bruder zu holen. Doch zusammen mit ihm brachte er auch Kumi, den Sohn Tui Manuas, dessen Adel der höchste in ganz Polynesien und der nur noch den Halbgöttern und Göttern untergeordnet war. So hatte das wertvolle Erbe Kumis vor acht Jahrhunderten Eingang in die Aliis von Lakanaii gefunden und war von ihnen in direkter Linie weitergegeben worden, um in Prinz Akuli bewahrt zu werden.

Ihn traf ich zum erstenmal im Offizierskasino der Black Watch in Südafrika, und er sprach mit einem Oxforder Akzent. Das war, kurz bevor dieses berühmte Regiment im Magersfontein völlig aufgerieben wurde. Das Recht, sich in diesem Kasino aufzuhalten, besaß er in eben dem Maße, in dem ihm auch der Akzent zustand, denn er war in Oxford erzogen worden und hatte ein Offizierspatent. Als Gast und Kriegsbeobachter befand sich Prinz Cupido bei ihm, so jedenfalls lautete sein Spitzname, obwohl er in Wirklichkeit Prinz von ganz Hawaii einschließlich Lakanaiis war und den offiziellen Titel Prinz Jonah Kuhio Kalanianaole führte. Er hätte der Herrscher über Hawaii sein können, wäre da nicht die Revolution der Haoles und die Annektierung gewesen - und das, obgleich Prinz Cupidos Alii-Geschlecht weniger nobel war als der Stammbaum des Prinzen Akuli, zu dem der Himmel selbst beigetragen hatte. Denn Prinz Akuli hätte König von Lakanaii und vielleicht von ganz Hawaii sein können, wäre sein Großvater nicht von dem ersten und größten der Kamehamehas vernichtend geschlagen worden.

Das war im Jahr 1810 gewesen, in der Blütezeit des Sandelholzhandels, und im gleichen Jahr kam auch der König von Kauai an die Reihe, hielt sich daraufhin ruhig und fraß Kamehameha aus der Hand. Prinz Akulis Großvater hatte in diesem Jahr seine Prügel bezogen und war unterworfen worden, weil er noch der »alten Schule« angehörte. Er hatte sich die Inselherrschaft nicht in Form von Schießpulver und Haoleschützen vorstellen können. Der weitsichtigere Kamehameha aber versicherte sich der Dienste der Haoles, einschließlich solcher Männer wie Isaac Davis, Maat und einziger Überlebender der niedergemetzelten Mannschaft des Schoners Fair American und John Young, gefangengenommener Bootsmann der Schnau Eleanor. Und Isaac Davis und John Young und noch etliche andere ihres unberechenbaren, abenteuerlustigen Schlages hatten mit sechspfündigen Bronzekanonen von den aufgebrachten Schiffen Iphigenia und Fair American die Kriegskanus zerstört und die Moral der zu Lande kämpfenden Krieger des Königs von Lakanaii zermürbt. Dafür bekamen sie von Kamehameha ordnungs- und abmachungsgemäß folgenden Lohn: Isaac Davis erhielt sechshundert ausgewachsene und fette Schlachtschweine und John Young fünfhundert Stück desselben, noch auf seinen gespaltenen Hufen herumlaufenden Schweinefleisches.

Und so entspringt aus all diesen Inzesten und Begierden der primitiven Kulturen, aus dem sich Vortasten des aufrechten Tieres in Richtung Mannhaftigkeit, aus all den blutigen Morden, brutalen Kämpfen und Paarungen mit den jüngeren Brüdern der Halbgötter der weltgewandte, mit einem Oxforder Akzent ausgestattete Prinz Akuli, Prinz Tintenfisch und doch ganz zwanzigstes Jahrhundert, reinblütiger Polynesier, eine lebende Brücke zwischen tausend Jahrhunderten, Kamerad, Freund und Reisegefährte, der aus seiner beschädigten Siebentausend-Dollar-Limousine steigt, sich mit mir zusammen in einem von der Außenwelt abgeschnittenen Begonienparadies fünfhundert Meter über dem Meer und Olokona, der Hauptstadt seiner Insel, wiederfindet und mir von seiner Mutter erzählt, die auf ihre alten Tage zu der althergebrachten Religion und Ahnenverehrung zurückkehrte und sich mit den Gebeinen all derer umgab, die in grauer Vorzeit ihre Vorfahren gewesen waren.

»Mit König Kalakaua hat diese Sammelleidenschaft begonnen, drüben auf Oahu«, fuhr Prinz Akuli fort. »Und seine Königin, Kapiolani, hat sich von seiner Marotte anstecken lassen. Sie sammelte alles - alte Makaloa-Matten, alte Tapas, alte Kalebassen, alte Doppelkanus und Idole, die die Priester vor der allgemeinen Zerstörung im Jahre 1819 gerettet hatten. Ich habe seit Jahren keinen Angelhaken aus Perlmutt mehr gesehen, aber ich möchte schwören, daß Kalakaua zehntausend davon angehäuft hat, ganz zu schweigen von den Fischhaken aus menschlichen Kieferknochen, den Federmänteln, Umhängen, Helmen, Steinäxten und Poi-Stampfern in Phallusform. Wenn er und Kapioilani ihre königlichen Rundreisen auf allen Inseln machten, mußten ihre Gastgeber ihre gesamten persönlichen Andenken verstecken. Denn theoretisch ist alles, was sein Volk besitzt, Eigentum des Königs, und bei Kalakaua waren, wenn es um die alten Dinge ging, Theorie und Praxis eins.

Von ihm hat mein Vater Kanau den Floh mit der Sammlerei ins Ohr gesetzt bekommen, und Hiwilani war damit ebenso angesteckt worden. Aber Vater war ein durch und durch moderner Mensch. Er glaubte weder an die Götter noch an die Kahunas, die Priester, oder an die Missionare. Er glaubte an nichts anderes als an Zuckeraktien, Pferdezucht und daran, daß sein Großvater ein Narr gewesen war, weil er nicht seinerseits ein paar Isaac Davise, John Youngs und etliche Bronzekanonen zusammengesucht hatte, ehe er gegen Kamehameha in den Krieg gezogen war. So sammelte er diese Raritäten nur aus Spaß an der Sache, doch meiner Mutter war es ganz ernst damit. Deshalb hat sie sich für Knochen begeistert. Ich erinnere mich auch, daß sie ein häßliches altes Steinidol besaß, das sie immer anzurufen pflegte und vor dem sie auf dem Boden herumkroch. Es befindet sich jetzt im Deacon-Museum. Ich habe es nach ihrem Tod dorthin gegeben, und ihre Gebeinsammlung ans Königliche Mausoleum nach Olokona.

Ich weiß nicht, ob du dich daran erinnerst, daß ihr Vater Kaaukuu war. Nun, so war es, und er war ein Hüne. Als sie das Mausoleum bauten, wurden seine schön gesäuberten und gut konservierten Gebeine aus ihrem Versteck geholt und dorthin gebracht. Hiwilani hatte einen alten Gefolgsmann, Ahuna. Sie stahl eines Nachts die Schlüssel von Kanau und schickte Ahuna, die Gebeine ihres Vaters aus dem Mausoleum zu entwenden. Ich weiß es. Und er muß ein Riese gewesen sein. Sie bewahrte ihn in einem ihrer großen Krüge auf. Eines Tages, als ich noch ein kleiner Knirps war und wissen wollte, ob Kaaukuu wirklich so groß war, wie die Überlieferung ihn machte, angelte ich seinen noch intakten Unterkiefer aus dem Behälter und der Umhüllung und hielt ihn mir vors Gesicht. Ich konnte meinen Kopf ganz durchstecken, und er blieb auf meinem Hals und den Schultern wie ein Pferdekummet liegen. Und es steckte noch jeder Zahn in dem Kiefer, weißer als Porzellan, ohne irgendein Loch, und der Zahnschmelz war nicht verfärbt oder abgesplittert. Ich erhielt die schlimmste Tracht Prügel meines Lebens für diese Beleidigung, wenn sie auch den alten Ahuna hereinrufen mußte, um ihr dabei zu helfen. Doch der Vorfall hatte auch sein Gutes. Sie faßte dadurch Vertrauen zu mir, weil ich keine Angst vor den Gebeinen der Toten hatte. Und dieser Streich verschaffte mir im Endeffekt auch meine Erziehung in Oxford, wie du gleich hören wirst, falls dieser Wagen nicht vorher eintrifft.

Der alte Ahuna war einer der wirklich Alten, dem das Zeichen des zum treuen Dienst geborenen Sklaven unauslöschlich eingebrannt war. Er wußte mehr über die Familie meiner Mutter und die meines Vaters als die beiden zusammen. Und er kannte als einziger Mensch auf der Welt die Begräbnisstätte, in der seit Jahrhunderten die Gebeine der meisten ihrer Vorfahren und der Kanaus versteckt worden waren. Kanau konnte dem alten Burschen, der ihn als einen Abtrünnigen ansah, das Geheimnis nicht entlocken.

Hiwilani kämpfte mit dem alten Kauz über viele Jahre hinweg. Wie sie ihr Ziel schließlich doch erreichte, ist mir ein Rätsel. Natürlich war sie auf den ersten Blick eine Anhängerin der alten Religion. Das mochte Ahuna dazu gebracht haben, etwas aufgeschlossener zu werden. Oder vielleicht hat sie ihm auch Angst eingejagt, denn sie wußte eine Menge über die Methoden der alten Huni-Zauberer, und sie verstand es, so viel Aufhebens zu machen, als stünde sie mit Uli, dem höchsten Gott aller Schamanen, auf vertrautestem Fuß. Sie konnte einen gewöhnlichen Kahuna Lanaau, also einen Medizinmann, ohne weiteres in die Tasche stecken, wenn es darum ging, zu Lonopuha und Koleamoku zu beten; sie konnte Träume und Visionen, Zeichen, Omen und Verdauungsstörungen unerhört gut deuten, führte dabei die Maiola-Medizinmänner vor, als seien sie keinen roten Heller wert, legte eine Beschwörung hin, daß ihnen schwindelig wurde, und behauptete, daß ihr Kahuna Hoenoho, eine moderne Art von Spiritismus, die sie praktizierte, unerreicht sei. Ich habe selbst gesehen, wie sie den Wind einatmete, in eine Trance geriet und weissagte. Die Aumakuas waren ihre Brüder, wenn sie ihnen auf den Altären der verfallenen Heiaus Opfergaben darbrachte und dabei Gebete sprach, die für mich ebenso unverständlich wie schauerlich klangen. Und was den alten Ahuna anging, so konnte sie ihn dazu bringen, daß er sich zu Boden warf, jammerte und sich ins eigene Fleisch biß, wenn sie ihn mit einem geheimnisvollen Zauberspruch belegte.

Dennoch ist meine ganz private Meinung, daß es das Anaana-Getue war, das ihn schließlich mürbe machte. Sie schnitt ihm eines Tages mit einer Nagelschere eine Strähne aus seinem Haar. Diese Haarsträhne war das, was man bei uns Maunu, das heißt Köder, nennt. Und sie war sehr darauf bedacht, daß er erfuhr, daß sie ein Haarbüschel von ihm besaß. Dann ließ sie ihm die Warnung zukommen, daß sie es vergraben habe, und war jede Nacht völlig von ihren an Uli gerichteten Opfer- und Beschwörungsritualen in Anspruch genommen.«

»War das das richtige Zu-Tode-Beten?« fragte ich, als Prinz Akuli innehielt, um sich eine Zigarette anzuzünden.

»Ganz genau«, nickte er. »Und Ahuna fiel darauf herein. Zuerst versuchte er, das Versteck seines Haarköders herauszubekommen. Als ihm das nicht gelang, beauftragte er einen Pahiuhiu-Zauberer, es für ihn zu finden. Aber Hiwilani vereitelte seinen Plan, indem sie dem Zauberer drohte, Apo Leo bei ihm anzuwenden, das ist die Kunst, einer Person für immer die Sprache zu rauben, ohne ihr anderweitig zu schaden.

Dann fing Ahuna an, dahinzuschwinden und immer mehr wie ein Leichnam auszusehen. In seiner Verzweiflung wandte er sich an Kanau. Ich war zufällig dabei. Du hast ja bereits gehört, was für ein Mensch mein Vater war.

>Schwein!< nannte er Ahuna. >Du dummes Schwein! Du stinkender Fisch. Stirb und hör endlich auf damit. Du bist ein Narr. Es ist alles Unsinn. Da steckt gar nichts dahinter. Der ewig betrunkene Haole Howard kann beweisen, daß die Missionare unrecht haben. Der billige Fusel beweist, daß auch Howard nicht recht hat. Die Ärzte sagen, er wird keine sechs Monate mehr leben. Selbst der billige Gin lügt. Auch das Leben ist ein Lügner. Und hier haben wir harte Zeiten und einen Verfall der Zuckerpreise. Meine Zuchtstuten sind vom Rotz befallen. Ich wünschte, ich könnte mich hinlegen und hundert Jahre schlafen, und wenn ich aufwachte, wäre der Zucker um hundert Punkte gestiegen.<

Vater war selbst so etwas wie ein Philosoph, mit einem bitteren Witz und der Angewohnheit, kurze und treffende Sprüche vom Stapel zu lassen. Er klatschte in die Hände. >Bring mir einen Highballs befahl er, mein, bring mir zwei Highballs. < Dann wandte er sich an Ahuna: >Geh und stirb, alter Heide, du Überbleibsel der geistigen Finsternis, Pesthauch der Hölle, der du bist. Aber stirb nicht in diesem Haus. Ich wünsche Fröhlichkeit und Lachen und das süße Geriesel von Musik und die Schönheit jugendlicher Bewegungen, nicht das Krächzen kranker Kröten und immer noch auf wackligen Beinen um mich herumschleichender Leichname mit verdrehten Augen. Ich werde bald selbst so sein, wenn ich lange genug lebe. Und ich würde es ewig bedauern, wenn es mich zu früh dahinraffte. Weshalb, zum Teufel, habe ich nur diese letzten Zwanzigtausend in Curtis’ Plantage gesteckt? Howard hat mich gewarnt, daß die Absatzkrise kommen würde, aber ich dachte, der Gin hätte ihm dieses Hirngespinst eingegeben. Und Curtis hat sich eine Kugel durch den Kopf gejagt, und sein Oberluna ist mit seiner Tochter durchgebrannt, der Zuckerchemiker hat Typhus, und alles bricht zusammen.<

Er klatschte in die Hände und befahl seinen Dienern: >Bringt mir meine Sänger herbei. Und die Hulatänzerinnen - viele. Und schickt nach dem alten Howard. Irgend jemand muß zahlen, und ich werde die sechs Monate, die er noch zu leben hat, um einen Monat verkürzen. Aber vor allem, Musik. Laßt Musik erklingen. Sie wirkt stärker als Alkohol und schneller als Opium.<

Er mit seiner Droge Musik! Es war sein Vater, der alte Wilde, der auf einer französischen Fregatte eingeladen war und zum erstenmal ein Orchester hörte. Als das kleine Konzert vorüber war, fragte ihn der Kapitän, der wissen wollte, was ihm am besten gefallen hatte, welches Stück er noch einmal hören wollte. Nun, als Großvater mit seiner Beschreibung fertig war, was glaubst du, um welches Stück es sich da handelte?«

Ich gab mich geschlagen, während der Prinz sich noch eine Zigarette ansteckte.

»Nun, es war natürlich das erste. Nicht das erste wirkliche Stück, sondern das ihm vorausgehende Stimmen der Instrumente.«

Ich nickte amüsiert, und nachdem er nochmals einen besorgten Blick auf die alte Wahine und ihren halbfertigen Hala-Lei geworfen hatte, nahm Prinz Akuli seine Erzählung von den Gebeinen seiner Ahnen wieder auf.

»Es war etwa zu diesem Zeitpunkt, als der alte Ahuna Hiwilani gegenüber nachgab. Er gab nicht ganz nach. Er schloß mit ihr einen Vergleich. In diesem Moment komme ich ins Spiel. Wenn er ihr die Knochen ihrer Mutter und ihres Großvaters (der der Vater Kaaukuus war und der Überlieferung nach sogar noch viel größer als sein Riese von Sohn gewesen sein sollte) bringen würde, dann würde sie Ahuna den Köder aus seinem Haar zurückgeben, mit dem sie ihn zu Tode betete. Er seinerseits kam mit ihr überein, daß er ihr die geheime Begräbnisstätte all der früheren Aliis von Lakanaii nicht verraten brauchte. Doch er war zu alt, um das Abenteuer allein zu wagen, es mußte ihm jemand dabei helfen, der dadurch notgedrungen das Geheimnis erfahren würde -und dieser Jemand war ich. Ich war, neben meinem Vater und meiner Mutter, der höchste Alii, und sie standen nicht höher als ich.

So betrat ich die Szene, nachdem ich in das düstere Zimmer zu diesen beiden dubiosen Alten gerufen worden war, die sich mit den Toten beschäftigten. Was für ein Paar! - Mutter hoffnungslos fett bis zur Hilflosigkeit, Ahuna klapperdürr wie ein Skelett und ebenso zerbrechlich. Bei ihr hatte man den Eindruck, daß sie, wenn sie auf dem Rücken lag, sich nicht ohne Hilfe von Block- und Takelwerk umdrehen konnte; bei Ahuna glaubte man, daß er, dürr wie ein Zahnstocher, auseinanderbrechen würde, wenn man gegen ihn stieß.

Und als sie die Angelegenheit zur Sprache gebracht hatten, gab es weitere Pilikia (Schwierigkeiten). Die Haltung meines Vaters bestärkte mich in meinem Entschluß. Ich weigerte mich, auf Knochenraub auszuziehen. Ich sagte, ich mache mir nicht das geringste aus den Gebeinen all der Aliis meiner Familie und Rasse. Weißt du, ich hatte gerade Jules Verne entdeckt, den mir der alte Howard geliehen hatte, und las, bis mir der Kopf rauchte. Knochen? Wenn es Nordpole und Erdmittelpunkte und geschweifte Kometen gewesen wären, auf denen man im Weltraum zwischen den Sternen hätte umherreiten können! Natürlich wollte ich auf keine Expedition gehen, um Knochen zu holen. Ich sagte, daß mein Vater kerngesund und kräftig sei, daß er ja gehen und sich mit ihr alle Knochen, die er heimbrächte, teilen könne. Aber sie meinte, bei ihm sei das nur ein verdammtes Hobby, oder gebrauchte ähnliche, nur stärkere Ausdrücke gleichen Inhalts.

>Ich kenne ihn<, versicherte sie mir. >Er würde die Gebeine seiner Mutter bei einem Pferderennen oder beim Pokern verwetten.<

Ich hielt zu Vater, was modernen Skeptizismus betraf, und gab ihr zu verstehen, daß die ganze Geschichte völliger Quatsch sei. >Knochen?< sagte ich. >Was sind schon Knochen? Selbst Feldmäuse und eklige Ratten und Küchenschaben haben Knochen, wenn auch die Schaben ihre Knochen auf der Außenseite anstatt im Fleisch mit sich herumtragen. Was den Menschen von den anderen Tieren unterscheidet<, erklärte ich ihr, >sind nicht die Knochen, sondern der Verstand. Also, ein Rind hat stärkere Knochen als ein Mensch, und ich habe mehr als einen Fisch gegessen, der mehr Knochen hat, während ein Wal mit seinen Knochen die ganze Schöpfung schlägt.<

Es war eine ziemlich freimütige Sprache, wie es, wie du bereits seit langem weißt, unsere hawaiische Art ist. Im Gegenzug bedauerte sie ebenso unverblümt, daß sie mich nicht bei meiner Geburt zu Adoptiveltern gegeben hatte. Als nächstes beklagte sie, daß sie mich überhaupt je in die Welt gesetzt hatte. Und von da war es nur noch ein kleiner Schritt bis zu dem Einfall, mich mit dem Anaana-Zauber zu verhexen. Sie drohte mir damit, und ich tat das Tapferste, was ich je getan hatte. Der alte Howard hatte mir ein Messer mit vielen verschiedenen Klingen, Korkenziehern und allen möglichen Schikanen, einschließlich einer kleinen Schere, geschenkt. Ich begann, mir die Fingernägel zu schneiden.

>Hier<, sagte ich, als ich ihr die abgeschnittenen Nägel in die Hand legte. >Nur damit du siehst, was ich davon halte. Da hast du Köder und noch Ersatz dazu. Fang an und mache deinen Anaana-Zauber bei mir, wenn du kannst.<

Ich habe gesagt, daß es tapfer war. Das war es wirklich. Ich war erst fünfzehn, und ich hatte mein ganzes Leben mitten in dieser zaubergläubigen Umgebung verbracht, während meine erst vor kurzem erworbene Skepsis kaum bis unter die Haut reichte. Ich mochte wohl im hellen Sonnenlicht ein Skeptiker sein. Aber ich fürchtete mich vor der Dunkelheit. Und in diesem dämmrigen Raum, um mich herum all die Gebeine der Toten in den großen Gefäßen, hatte mich die alte Dame wahrhaftig zu Tode erschreckt. Wie wir heute sagen, war ich auf hundertachtzig. Nur hielt ich mich tapfer und ließ mir nichts anmerken. Und ich hatte mit meinem Bluff Erfolg, denn meine Mutter warf mir die Nagelschnipsel ins Gesicht und brach in Tränen aus. Nun sind Tränen bei einer älteren, etwa zweihundertneunzig Pfund schweren Frau nicht besonders wirkungsvoll, und ich bluffte noch dreister.

Sie änderte ihre Angriffstaktik und ging dazu über, mit den Verstorbenen zu sprechen. Ach, mehr noch, sie rief sie herbei, und obwohl ich ganz darauf vorbereitet war, sie zu sehen, es aber dann doch nicht tat, erkannte Ahuna den Vater Kaaukuus in der Ecke, warf sich zu Boden und jammerte. Es half nichts; obwohl ich den alten Riesen fast vor Augen hatte, wollte er im Endeffekt doch nicht Gestalt annehmen.

>Laß ihn doch selbst reden<, meinte ich. Aber Hiwilani fuhr fort, für ihn zu sprechen und mir sein feierliches Gebot aufzuerlegen, daß ich mit Ahuna zu der Begräbnisstätte gehen und die von meiner Mutter gewünschten Gebeine nach Hause bringen müßte. Doch ich argumentierte: Wenn die Verstorbenen angerufen werden konnten, um Lebende langsam dahinsiechen zu lassen, und wenn die Toten sich von ihren Grabstätten in den Winkel ihres Zimmers begeben könnten, sei es nicht einzusehen, weshalb sie nicht dort in ihrem Zimmer ihre Knochen zurückließen, schon fertig zum Eintopfen, bevor sie sich verabschiedeten, um in die mittlere Welt, die Überwelt oder die Unterwelt zurückzukehren, oder wo immer sie sich sonst aufhalten mochten, wenn sie nicht gerade ihren gesellschaftlichen Verpflichtungen nachkamen.

Woraufhin Mutter auf den armen alten Ahuna losging oder vielmehr den Geist von Kaaukuus Vater auf ihn losließ, der angeblich dort in der Ecke lauerte, und Ahuna befahl, ihr die Begräbnisstätte zu verraten. Ich versuchte ihn zu unterstützen, indem ich ihm sagte, er solle den alten Geist doch das Geheimnis selbst preisgeben lassen, denn niemand würde es besser kennen als er, da er über ein Jahrhundert dort verbracht hatte. Aber Ahuna war noch vom alten Schlag. Nicht der kleinste Zweifel focht ihn an. Je mehr Angst ihm Hiwilani einjagte, um so heftiger wälzte er sich am Boden und um so lauter wehklagte er.

Doch als er dann damit begann, sich selbst zu beißen, gab ich mich geschlagen; aber davon einmal abgesehen fing ich an, ihn zu bewundern. Er war aus purem Gold, selbst wenn er ein Überrest aus der Zeit geistiger Finsternis war. Mit der grausam auf ihm lastenden Furcht vor dem Geheimnisvollen und in dem bedingungslosen Glauben an die Kraft von Hiwilanis Zauber war er hier zwischen zwei Treuepflichten hin- und hergerissen. Sie war seine lebende Alii, seine Alii kapo, [heilige Führerin]. Er mußte ihr ergeben sein, doch noch mehr fühlte er sich all den verstorbenen Aliis ihrer Familie verpflichtet, die ganz auf ihn angewiesen waren, damit ihre Gebeine nicht in ihrer Totenruhe gestört wurden.

Ich gab mich geschlagen. Aber auch ich stellte meine Bedingungen. Beharrlich hatte es mein Vater, ein Mann der neuen Schule, abgelehnt, mich zum Studieren nach England gehen zu lassen. Daß der Zuckerpreis verfiel, war für ihn Grund genug. Beharrlich hatte es auch meine Mutter, eine Anhängerin der alten Schule, abgelehnt, da ihr heidnischer Verstand zu unwissend war, um der Erziehung irgendeinen Wert beizumessen, während ihm doch genug Schlauheit innewohnte, um zu erkennen, daß Bildung den Glauben an alles Althergebrachte untergrub. Ich wollte lernen, wollte Wissenschaft, Kunst, Philosophie studieren, wollte alles erfahren, was der alte Howard wußte, alles, was ihn dazu befähigte, am Rand des Grabes furchtlos über den Aberglauben zu spotten und mir Jules Verne als Lektüre zu geben. Er hatte in Oxford studiert, ehe er sein wildes und stürmisches Leben begann, und er war es auch, der mir den Floh mit Oxford ins Ohr gesetzt hatte.

Am Ende hatten Ahuna und ich, die alte und die neue Schule, uns verbündet und hatten gesiegt. Mutter versprach, daß sie Vater dazu bringen würde, mich nach England zu schicken, selbst wenn sie ihn dazu zeitweilig in den Alkohol treiben müßte, was sein geliebtes Verdauungssystem durcheinanderbringen würde. Auch sollte mich Howard begleiten, so daß ich ihn würdig in England beerdigen konnte. Er war ein sonderbarer Kauz, der alte Howard, ein eigenwilliger Mensch, wie es kaum einen zweiten gab. Ich werde dir eine kleine Geschichte über ihn erzählen. Es war damals, als Kalakaua seine Reise um die Welt antrat. Du erinnerst dich, als Armstrong und Judd und der betrunkene Kammerdiener eines deutschen Barons ihn begleiteten. Kalakaua machte Howard den Vorschlag - «

Doch an dieser Stelle brach das lang gefürchtete Unheil über Prinz Akuli herein. Die alte Wahine hatte ihren Hala-Lei zu Ende geflochten. Barfuß, ohne jeden weiblichen Schmuck, nur in ein formloses Stück verwaschener Baumwolle gewandet, mit altersverwittertem Gesicht und abgearbeiteten knotigen Händen krümmte sie sich unterwürfig vor ihm, stimmte leise ein Mele zu seinen Ehren an und legte ihm, immer noch in gebeugter Haltung, den Lei um den Hals. Es stimmte schon, die Hala roch überaus herb und stark, doch diese Geste und selbst die alte Frau besaßen für mich eine eigentümliche Schönheit. Meine Gedanken wanderten zu der Erzählung des Prinzen zurück, so daß sich mir unwillkürlich der Vergleich mit Ahuna aufdrängte.

Ach wahrhaftig, in Hawaii ein Alii zu sein, ist selbst in der zweiten Dekade des zwanzigsten Jahrhunderts keine leichte Sache. Der Alii, ganz und gar dem Neuen zugewandt, mußte sich auch gegenüber solchen völlig im Althergebrachten verhafteten Alten freundlich und hoheitsvoll verhalten. Und der Prinz ohne Königreich, seine geliebte Insel war längst von den Vereinigten Staaten annektiert und zusammen mit den übrigen hawaiischen Inseln zu einem Territorium vereint worden, dieser Prinz ließ sich den Widerwillen, den der Geruch der Hala in ihm auslöste, denn auch keineswegs anmerken. Er neigte huldvoll den Kopf, und seine königlichen, leutseligen Worte in reinem Hawaiisch würden, das wußte ich, das Herz der alten Frau bis zu ihrem Tode wärmen, wenn sie die Erinnerung an diesen wundervollen Augenblick heraufbeschwor. Die Grimasse, die er mir heimlich schnitt, hätte er nie gezogen, wenn er nicht völlig sicher gewesen wäre, daß sie der Alten entgehen würde.

»Und so«, fuhr Prinz Akuli fort, als die Wahine völlig verzückt davonwankte, »machten Ahuna und ich uns zu unserem Abenteuer als Grabräuber auf. Du kennst die Felsküste.«

Ich nickte, denn ich kannte den ungewöhnlichen Anblick dieser sich über viele Meilen der Wetterseite erstreckenden schroffen Abhänge aus Lavagestein sehr wohl, die, was Lande-und Ankerplätze anging, wirklich völlig unzugänglich waren mit ihren hohen, abweisenden und Hunderte von Metern emporragenden Steilwänden, deren Gipfel in Wolken und Regenschauer gehüllt waren und deren Sockel die Passatwogen zu weißschäumenden Wasserspeiern geformt hatten. Vom Meer bis zu den Regenwolken war die Luft von einer Myriade herabstürzender Wasserfälle durchsetzt, die Tag und Nacht im Mond- oder Sonnenschein zahllose Regenbogen hervorzauberten. Täler, die zwar als solche bezeichnet wurden, jedoch eher Spalten glichen, durchschnitten hier und da die zyklopischen Wände und führten in ein hohes und erschreckend senkrecht ansteigendes Hinterland, das größtenteils für Menschen nicht zugänglich war und nur von wilden Ziegen bevölkert wurde.

»Reichlich wenig kennst du davon«, entgegnete Prinz Akuli auf mein Nicken hin. »Du hast sie nur vom Deck eines Dampfers aus gesehen. Es gibt dort Täler, bewohnte Täler, aus denen es keinen Ausgang auf dem Landweg gibt und die nur mit dem Kanu an bestimmten Tagen während zweier Monate im Jahr zugänglich sind, wobei auch dann noch Gefahr für Leib und Leben besteht. Mit achtundzwanzig Jahren war ich einmal dort auf einem Jagdausflug. Schlechtes Wetter in der günstigen Zeit schnitt uns drei Wochen lang von der Außenwelt ab. Dann versuchten vier von meiner Gruppe und ich durch die Brandung hinauszuschwimmen. Drei von uns schafften es zu den Kanus, die auf uns warteten. Die anderen beiden wurden wieder auf den Sand zurückgeworfen, jeder mit einem gebrochenen Arm. Außer uns blieb die ganze Jagdgesellschaft danach noch zehn Monate bis zum nächsten Jahr dort. Und einer von ihnen war Wilson, von Wilson & Wall, der Zuckeragentur von Honolulu. Und er stand kurz vor seiner Heirat.

Ich habe eine Ziege, die von einem Jäger hoch über mir erlegt worden war, etwa neunhundert Meter tiefer vor meinen Füßen aufschlagen sehen. Glaube mir, in dieser ganzen Gegend schien es zehn Minuten lang Ziegen und Felsbrocken zu regnen. Ein Mann meiner Kanubesatzung stürzte auf dem Pfad zwischen den beiden kleinen Tälern Aipio und Luno ab. Er schlug zum ersten Mal sechshundert Meter unter uns auf und blieb schließlich auf einem Felsvorsprung hundert Meter weiter unten liegen. Wir haben ihn nicht begraben. Wir konnten nicht bis zu ihm hinunterklettern, und Flugzeuge waren damals noch nicht erfunden. Seine Gebeine ruhen nun dort und werden es, wenn es nicht zu einem Erdbeben oder Vulkanausbruch kommt, weiter tun, bis die Posaunen des Jüngsten Gerichtes erschallen.

Du meine Güte! Erst neulich, als unsere Werbekommission, die versucht, sich im Touristikgeschäft gegen Honolulu zu behaupten, die Ingenieure kommen ließ, um schätzen zu lassen, was es kosten würde, an der Felsküste eine landschaftlich reizvolle Straße für die Touristen zu bauen, lagen die niedrigsten Angebote bei einer Viertelmillion pro Meile.

Und Ahuna und ich, ein alter Mann und ein junger Bursche, brachen in einem mit Greisen bemannten Kanu dorthin auf! Der jüngste von ihnen, der Rudergänger, war über sechzig, während die übrigen es im Durchschnitt auf mindestens siebzig brachten. Sie waren zu acht, und wir fuhren in der Nacht los, damit uns niemand beim Ablegen beobachtete. Selbst diese Alten, auf die ihr ganzes Leben lang Verlaß gewesen war, kannten nicht mehr als den Zipfel des Geheimnisses. Und nur bis zu diesen Außenbezirken konnten sie uns bringen.

Und die Randzone war - so viel kann ich immerhin sagen -diese Randzone war Ponuloo Valley. Wir trafen am dritten darauffolgenden Nachmittag dort ein. Die alten Burschen waren keine kräftigen Ruderer. Es war eine seltsame Expedition in solche wilden Gewässer, bei der immer mal wieder einer unserer Geisterschiffsbesatzung zusammenbrach und sogar ohnmächtig wurde. Einer von ihnen starb dann tatsächlich am zweiten Morgen unserer Fahrt. Er bekam ein Seemannsgrab. Die heidnischen Zeremonien, die diese Grauköpfe beim Begräbnis ihres grauhaarigen Bruders veranstalteten, waren wirklich unheimlich. Und ich war erst fünfzehn und ihr Alii Kapo durch heidnisches Geblüt und das Recht erblicher heidnischer Herrschaft, ich hatte eine Vorliebe für Jules Verne und stand kurz vor meiner Abreise nach England, um dort zu studieren! Auf diese Weise lernt man. Kein Wunder, daß mein Vater ein Philosoph war, da seine eigene Lebenszeit die Menschheitsgeschichte vom Stadium des Menschenopfers und der Götzenverehrung über das der Hochreligionen bis hin zur Medusa des krassen Atheismus umspannte. Kein Wunder, daß ihm wie dem alten Prediger Salomo alle Dinge eitel schienen und er Ablenkung bei Zuckeraktien, Sängern und Hulatänzerinnen fand.«

Prinz Akuli sann einen Augenblick nach.

»Ach ja«, seufzte er, »ich habe selbst einige Zeitsprünge hinter mir.« Er rümpfte wegen des Geruchs, den der Hala-Lei verströmte und der ihn fast erstickte, angewidert die Nase. »Er stinkt nach den alten Zeiten«, kommentierte er. »Ich stinke nach der neuen Zeit. Mein Vater hatte recht. Das Süßeste von allem ist der um hundert Punkte gestiegene Zucker oder vier Asse beim Pokern. Wenn der Weltkrieg noch ein Jahr dauert, werde ich eine dreiviertel Million oder mehr einstreichen. Wenn morgen der Frieden ausbricht und die Preise entsprechend fallen, könnte ich hundert aufzählen, die meine direkte Unterstützung verlieren werden und in die Heime für alte Eingeborene gehen müssen, die mein Vater und ich schon seit langem für sie eingerichtet haben.«

Er klatschte in die Hände, und die alte Wahine beeilte sich herbeizuwanken, aufgeregt bemüht, ihm zu Diensten zu sein. Sie verbeugte sich vor ihm, als er einen Block Papier und einen Stift aus seiner Brusttasche zog.

»Jeden Monat, alte Frau unserer alten Rasse«, wandte er sich an sie, »wirst du durch freie Landpostzustellung ein Stück beschriebenes Papier erhalten, das du überall und bei jedem Ladenbesitzer gegen zehn Dollar in Gold eintauschen kannst. Das sollst du bekommen, solange du lebst. Schau! Ich mache die Eintragung hier und jetzt, mit diesem Stift auf diesem Papier. Und das tue ich, weil du von meiner Rasse bist und in meinem Dienst stehst und weil du mich an diesem Tag mit deinen Matten, auf denen wir sitzen konnten, und deinem dreifach gesegneten und dreifach köstlichen Lei-Hala geehrt hast.«

Er warf mir einen gequälten und skeptischen Blick zu und meinte:

»Und wenn ich morgen sterbe, werden die Anwälte nicht nur gegen die Aufteilung meines Eigentums gerichtlich vorgehen, sondern sie werden auch meine Stiftungen und meine Renten, die ich gewährt habe, und die Klarheit meines Verstandes anfechten.

Es war das richtige Wetter für die Jahreszeit; doch selbst dabei wagten wir es nicht, mit unseren schwachen Alten am Ruder zu landen, ehe sich nicht die halbe Bevölkerung von Ponuloo Valley unten an dem steilen kleinen Strand versammelt hatte. Dann beobachteten wir die Wellen, wählten die beste aus und ließen uns von ihr an den Strand tragen. Natürlich schlug das Kanu voll, und der Ausleger wurde zertrümmert, aber die Leute an der Küste zogen uns unverletzt aus der Brandung.

Ahuna gab seine Anweisungen. Nachts mußten alle in ihren Häusern bleiben und die Hunde angeleint und ihre Schnauzen zugebunden werden, damit sie nicht bellen konnten. Und während der Nacht machten Ahuna und ich uns heimlich auf den Weg, so daß niemand wußte, ob wir nach rechts oder links oder das Tal hinauf bis zum Ende gegangen waren. Wir hatten Dörrfleisch, hartes Poi und getrockneten Aku bei uns, und von der Proviantmenge her wußte ich, daß wir mehrere Tage unterwegs sein würden. Was für ein Pfad! Eine Jakobsleiter zum Himmel, wahrhaftig, denn diese erste Pali, die fast senkrecht aufstieg, ragte neunhundert Meter über dem Meer empor, und wir erkletterten sie im Dunkeln!

Oben angelangt, außer Sichtweite des Tales, das wir hinter uns gelassen haben, schliefen wir bis zum Morgengrauen auf dem harten Fels in einer Nische, die Ahuna kannte und die so schmal war, daß wir ganz eingezwängt waren. Aus Furcht, daß ich mich im unruhigen Schlaf der Jugend zu heftig bewegen könnte, hatte der Alte seinen Arm um mich gelegt und sich auf der Außenseite ausgestreckt. Bei Tagesanbruch sah ich, weshalb. Zwischen uns und dem Klippenrand war weniger als ein Meter Platz. Ich kroch zur Kante und schaute hinunter, beobachtete, wie der Abgrund mit zunehmender Helligkeit immer bodenloser wurde, und zitterte aus Angst vor der Höhe, die mich überkam. Schließlich konnte ich die See erkennen, die über neunhundert Meter tief direkt unter uns lag. Und wir hatten das alles im Dunkeln bewältigt!

Unten im nächsten Tal, das sehr winzig war, fanden wir Spuren einer früheren Besiedlung, aber es waren keine Menschen mehr da. Abenteuerliche Fußpfade, die die schwindelerregenden Talwände hinauf- und hinunterführten, bilden die einzige Verbindung. Aber so mager und alt Ahuna auch war, er schien keine Erschöpfung zu kennen. Im zweiten Tal lebte ein alter Aussätziger, der sich hier versteckte. Er kannte mich nicht, und als Ahuna ihm erzählte, wer ich war, warf er sich mir zu Füßen, umklammerte sie fast und murmelte mit seinem lippenlosen Mund ein Mele über meine ganze Ahnenreihe.

Das nächste Tal erwies sich als das Tal. Es war lang und so eng, daß sein Boden nicht Raum für genügend Ackerland hatte, um Taro für eine einzige Person anzubauen. Es besaß auch keinen Strand, da der Wasserlauf, der sich hindurchschlängelte, eine mehrere hundert Meter hohe Pali hinunter ins Meer stürzte. Es war ein gottverlassener Ort voll nackter ausgewaschener Lava, auf der die Vegetation nur sehr selten Fuß fassen konnte. Kilometerweit folgten wir diesem sich windenden Spalt durch hoch aufgetürmte Wände hindurch, weit in das Gewirr des Hinterlandes hinein, das jenseits der Felsenküste liegt. Wie weit das Tal hineinreichte, weiß ich nicht, doch nach der Wassermenge des Baches zu urteilen, mußte es ein ordentliches Stück sein. Wir gingen nicht bis zum Ende des Tales. Ich konnte sehen, wie Ahuna all die Gipfel beäugte, und wußte, daß er nach natürlichen Orientierungspunkten Ausschau hielt, die nur ihm allein bekannt waren. Als wir endlich anhielten, geschah das mit abrupter Sicherheit. Seine Markierungslinien hatten sich gekreuzt. Er warf den Essensvorrat und die Kleidungsstücke, die er geschleppt hatte, zu Boden. Das war die Stelle. Ich sah nach beiden Seiten auf die harten, abweisenden Felswände ohne jede Vegetation und konnte mir in so einem nackten Steingrund keine Grabstätte vorstellen.

Wir aßen, dann zogen wir uns für unsere Aufgabe aus. Ahuna erlaubte mir nur, meine Schuhe anzubehalten. Er stand neben mir im gleichen Aufzug und ungeheuer dürr am Rand eines tiefen Beckens.

>Du wirst jetzt an dieser Stelle in das Bassin hinuntertauchenc, sagte er. >Suche die Auffaltung mit den Händen ab, wenn du hinuntertauchst, und in etwa eineinhalb Faden Tiefe wirst du ein Loch finden. Schlüpf mit dem Kopf voran hinein, aber langsam, denn die Lava ist scharf und du kannst dir Kopf und Körper daran aufschlitzen!<

>Und dann?< wollte ich wissen. >Du wirst feststellen, daß das Loch größer wird<, lautete seine Antwort. >Wenn du acht Faden weit durch den Gang geschwommen bist, tauchst du langsam auf, bis du merkst, daß dein Kopf in der Luft ist, über Wasser, im Dunkeln. Warte dort auf mich. Das Wasser ist sehr kalt.<

Es hörte sich für meine Begriffe alles nicht sehr gut an. Ich dachte dabei gar nicht an das kalte Wasser und die Dunkelheit, sondern an die Knochen. >Geh du zuerst<, schlug ich vor. Aber er meinte, das ginge nicht. >Du bist mein Alii, mein Prinz<, sagte er. >Es ist unmöglich, daß ich vor dir die geheiligte Grabstätte deiner königlichen Ahnen betreten.<

Doch die Vorstellung gefiel mir nicht. >Laß doch das Prinz-Getue<, sagte ich ihm. >So weit her ist es damit auch nicht. Du gehst voran, und ich werde dich niemals verraten.<

>Nicht nur die Lebenden müssen wir zufriedenstellenc, mahnte er, >sondern noch viel mehr die Verstorbenen. Auch können wir die Toten nicht belügen.<

Wir verhandelten hin und her, und eine halbe Stunde lang befanden wir uns an einem toten Punkt. Ich wollte nicht, und er konnte einfach nicht. Er versuchte, mich umzustimmen, indem er an meinen Stolz appellierte. Er sang mir die Heldentaten meiner Ahnen vor, und, daran erinnere ich mich besonders gut, er sang von Mokomoku, meinem Urgroßvater, dem riesenhaften Vater des riesigen Kaaukuu, erzählte, wie Mokomoku in der Schlacht dreimal mitten unter seine Feinde sprang, mit jeder Hand einen Krieger beim Genick packte und ihre Köpfe gegeneinanderschlug, bis sie tot waren. Aber nicht das stimmte mich um. Mir tat der alte Ahuna wirklich leid, er war so außer sich vor Angst, daß die Expedition scheitern könnte. Und ich bewunderte den alten Burschen immer mehr, nicht zuletzt auch deswegen, weil er sich zum Schlafen zwischen mich und den Rand des Kliffs gelegt hatte.

So sagte ich mit der echten Befehlsgewalt eines Alii: >Du wirst mir sofort folgen!< und sprang. Alles war so, wie er es gesagt hatte. Ich fand den Eingang zu dem unterirdischen Gang, schwamm vorsichtig hindurch, schnitt mir einmal die Schulter an dem scharfen Lavagestein des Gewölbes auf und tauchte in der Dunkelheit wieder auf. Doch ehe ich bis dreißig zählen konnte, kam er neben mir an die Oberfläche, legte seine Hand auf meinen Arm, um sich zu vergewissern, daß ich da sei, und wies mich an, etwa dreißig Meter weit vor ihm herzuschwimmen. Dann bekamen wir Grund unter die Füße und kletterten hinaus auf die Felsen. Und immer noch kein Licht, und ich erinnere mich, heilfroh gewesen zu sein, daß wir uns in zu großer Höhe für Tausendfüßler befanden.

Er hatte eine fest verschlossene Kokosnußkalebasse mit Walfischtran mitgebracht, der wohl vor dreißig Jahren am Strand von Lahaina ausgeladen worden war. Aus seinem Mund nahm er ein wasserdichtes Behältnis für Streichhölzer, das aus zwei leeren, genau ineinander passenden Gewehrpatronen bestand. Er zündete den Docht an, der auf dem Öl schwamm, und ich sah mich um und war enttäuscht. Es war keine Grabkammer, sondern nichts anderes als eine Lavaröhre, wie man sie überall auf den Inseln antrifft.

Er drückte mir die Kalebasse mit dem Licht in die Hand und schickte mich vor auf den Weg, der, wie er mir versicherte, lang, aber nicht zu lang sein würde. Er war lang, mindestens eineinhalb Kilometer lang, wenn ich es nüchtern beurteile, obwohl er mir damals wie acht Kilometer vorkam, und er stieg steil an. Als mich Ahuna schließlich anhalten ließ, wußte ich, daß wir bald am Ziel sein würden. Er kniete mit seinen mageren, alten Gliedern auf dem scharfen Lavagestein und umklammerte mit seinen dürren Armen meine Knie. Meine freie Hand legte er auf seinen Kopf. Er sang mir mit seiner alten, gebrochenen und zitternden Stimme die Verse über meinen Stammbaum und meine ganz besonders hohe Alii-Würde vor. Und dann sagte er:

>Erzähle weder Kanau noch Hiwilani etwas von dem, was du nun zu sehen bekommst. Kanau ist nichts heilig. Er hat nur Zucker und Pferdezucht im Kopf. Ich weiß, daß er einen Federumhang, den sein Großvater getragen hatte, für achttausend Dollar an diesen englischen Sammler verkaufte, und am nächsten Tag verlor er das Geld bei Wetten auf den Ausgang des Polospiels zwischen Maui und Oahu. Hiwilani, deine Mutter, ist voller Heiligkeit. Und sie hat zuviel davon. Sie wird alt und wirr im Kopf und ist der Zauberei verfallene >Nein<, gab ich zur Antwort. >Ich werde niemandem etwas sagen. Wenn ich es tun würde, dann müßte ich noch einmal hierherkommen. Und ich will nie wieder an diesen Ort zurückkehren. Ich will alles einmal probieren. Aber das hier werde ich kein zweites Mal versuchen.<

>Es ist gut<, meinte er und erhob sich, blieb aber etwas zurück, um mir den Vortritt zu überlassen. Er sagte auch: >Deine Mutter ist alt. Ich werde ihr, wie versprochen, die Gebeine ihrer Mutter und ihres Großvaters bringen. Das wird sie zufriedenstellen, bis sie stirbt; falls ich vor ihr sterbe, mußt du dann dafür sorgen, daß alle Knochen ihrer Familiensammlung in das königliche Mausoleum gebracht werden.<

Ich habe mir mal alle Museen auf den Inseln vorgeknöpft«, Prinz Akuli verfiel wieder in Slang, »und ich muß sagen, daß alle diese Sammlungen miteinander nicht an das herankommen, was ich in unserer Grabhöhle von Lakanaii gesehen habe. Bedenk nur, und das ist geschichtlich fundiert, daß wir den edelsten und ältesten Stammbaum der Inseln haben. Alles, von dem ich je geträumt oder gehört hatte, und noch viel mehr, war vorhanden. Es war ein wunderbarer Ort. Ahuna, der feierlich Gebete und Meles murmelte, ging umher und zündete verschiedene, mit Walfischtran gefüllte Kalebassenlampen an. Alle waren sie dort versammelt, die ganze hawaiische Rasse vom Urbeginn der Zeit an. Knochenbündel um Knochenbündel, alle fein säuberlich in Tapa eingewickelt, so daß es für die Nachwelt wie die Paketausgabe eines Postamtes aussah.

Und all die anderen Dinge! Kahilis, die sich, wie du vielleicht weißt, aus Fliegenwedeln zu Symbolen der Königswürde entwickelt haben, bis sie schließlich größer als die Federbüsche an den Leichenwagen waren, mit Stielen von eineinhalb bis über dreieinhalb Meter Länge. Und was für Stiele! Aus dem Holz der Kauila, mit Einlegearbeiten aus Muscheln, Elfenbein und Bein und mit einer Kunstfertigkeit verziert, die bei unseren Handwerkern schon seit einem Jahrhundert ausgestorben ist. Es war wie ein jahrhundertealter Familiendachboden. Zum erstenmal sah ich Dinge, von denen ich nur gehört hatte, wie etwa die Pahoas, gefertigt aus Walfischzähnen und an geflochtenem menschlichen Haar aufgehängt, die nur von den höchsten Würdenträgern angelegt werden durften.

Da gab es die seltensten und ältesten Tapas und Matten, Umhänge und Leis, und Helme und Mäntel, alle von unschätzbarem Wert, und daneben noch die uralten Mäntel aus den Federn des Mamo, des Iiwi, des Akakane und des O-o. Ich sah einen der Mamo-Mäntel, der schöner war als das hervorragendste Exemplar im Bishop-Museum in Honolulu, das sie auf eine halbe bis eine Million Dollar schätzen. Du meine Güte, ich dachte damals, wie gut, daß Kanau nichts davon wußte.

So ein Durcheinander! Geschnitzte Gurden und Kalebassen, Muschelschaber, Netze aus Olona-Fasern, ein Berg von Körben und Angelhaken aus jeder Art von Knochen neben aus Muscheln gefertigten Blinkern. Musikinstrumente aus vergessenen Tagen - Ukekes und Nasenflöten, und Kiokios, die ebenfalls mit einem zugestopften Nasenloch gespielt wurden. Tabu-Poischüsseln und Finger schalen, linkshändige Äxte der Kanugötter, Lampenschalen aus ausgehöhlter Lava, Steinmörser und Stößel und Poi-Stampfer. Und noch mehr Äxte, eine Unzahl von Äxten, schöne Exemplare mit einem Gewicht von dreißig Gramm aufwärts für die feineren kultischen Schnitzereien bis hin zu Vierzehnpfündern zum Bäumefällen, und alle mit den herrlichsten Griffen, die ich je gesehen habe.

Da waren auch Kaekeekes - du weißt schon, unsere alten Trommeln, ausgehöhlte Stammabschnitte von Kokospalmen, auf einer Seite mit Haifischhaut bespannt. Den ersten Kaekeeke ganz Hawaiis zeigte mir Ahuna und erzählte mir seine Geschichte. Er war offensichtlich sehr, sehr alt. Ahuna hatte Angst, ihn zu berühren, da er fürchtete, das altersmorsche Holz mit den immer noch daranhängenden Haifischhautfetzen würde unter seinen Händen zu Staub zerfallen. >Das ist der allerälteste, der Vater aller unserer Kaekeekes<, berichtete mir Ahuna. >Kila, der Sohn Moikehas, brachte ihn aus Raiatea im Südpazifik mit. Und Kilas eigener Sohn, Kahai, war es, der die gleiche Reise unternahm, zehn Jahre lang unterwegs war und von Tahiti die ersten Brotfruchtbäume einführte, die auf hawaiischem Boden keimten und wuchsen.<

Und Knochen über Knochen! Aufgereiht wie in der Paketausgabe eines Postamtes! Neben den kleinen Bündeln mit den langen Knochen gab es ganze, mit Tapa umwickelte Skelette, die in Einer-, Zweier- oder Dreierkanus aus kostbarem Koa-Holz lagen, mit geschwungenen Auslegern aus Wiliwili-Holz und eigentümlichen Paddeln, die mit dem Fortsatz am Ende zu bedienen waren, der die Fortsetzung des Griffes nachahmte, wie ein Fleischspieß längs durch die flache Ruderblattseite gesteckt. Und ihre Waffen waren neben den leblosen Knochen, die sie einst geführt hatten, abgelegt -rostige alte Sattelpistolen, kurze Derringer-Pistolen, RevolverVorläufer, fünfläufige Gewehrkonstruktionen, lange KentuckyBüchsen, im Tauschhandel von der John Company und Hudson’s Bay erworbene Musketen, Schwerter aus Haifischzähnen, hölzerne Dolche, Pfeile mit Spitzen aus Fischbein, aus Schweine- und Menschenknochen und Speere und Pfeile mit feuergehärteten Holzspitzen.

Ahuna gab mir einen Speer in die Hand, dessen gut geschärfte Spitze aus dem langen Schienbein eines Mannes gefertigt war, und erzählte mir seine Geschichte. Doch zuvor wickelte er die langen Knochen, Arme und Beine, aus zwei Paketen aus, die unter der Umhüllung ordentlich wie ein Reisigbündel zusammengeschnürt waren. >Das hier<, sagte Ahuna und zeigte den erbärmlichen weißen Inhalt eines Päckchens, >ist Laulani. Sie war die Frau Akaikos, dessen Gebeine, die jetzt in deiner Hand liegen - sie sind viel größer und männlicher, wie du feststellen kannst - vor dreihundert Jahren das Fleisch eines zweihundertsiebzig Pfund schweren und zwei Meter fünfzehn großen Mannes stützten. Und diese Speerspitze ist aus dem Schienbein Keolas gearbeitet, seinerzeit ein großer Ringer und Läufer. Und er liebte Laulani, und sie floh mit ihm. Doch in einer längst vergessenen Schlacht auf dem Sandstrand von Kaiini durchbrach Akaiko die feindlichen Reihen, führte den Sturmangriff an und packte Keola, den Liebhaber seiner Frau, warf ihn zu Boden und schnitt ihm mit einem Messer aus Haifischzahn die Kehle durch. Auf diese Weise kämpften schon in alten Zeiten Männer um eine Frau. Und Laulani war so schön, daß Keola um ihretwillen zu einer Speerspitze verarbeitet werden sollte! Sie war gebaut wie eine Königin, ihr Körper ein einziges Gefäß der Anmut und des Liebreizes, und ihre Finger waren schon an der Mutterbrust mit Zoraz-Massage in ihre grazile Form gebracht worden. Über zehn Generationen hinweg haben wir uns an ihre Schönheit erinnert. Die Sänger deines Vaters besingen sie heute noch in dem nach ihr benannten Hula. Das ist Laulani, die du in deinen Händen hältst.<

Und als Ahuna geendet hatte, konnte ich gleichzeitig ernüchtert und befeuert von meiner Einbildungskraft auf die damalige Zeit blicken. Der alten Trunkenbold Howard hatte mir Tennyson geliehen, und ich hatte oft und lang über den >Idylls of the King< gebrütet. Hier waren die drei, dachte ich -Arthur, Lancelot und Guinevere. Das also, überlegte ich, war bei all dem herausgekommen, war das Endergebnis des Lebens und Kampfes, der Anstrengung und Liebe - daß die erschöpften Geister dieser längst Verstorbenen von einer fetten alten Frau und nichtswürdigen Zauberern angerufen, ihre Gebeine von Sammlern begehrt und bei Pferderennen und für eine Hand voller Asse verwettet oder zu Geld gemacht und in Zuckeraktien angelegt werden.

Für mich war es eine Erleuchtung. Ich lernte dort in der Grabhöhle die Lektion meines Lebens. Und zu Ahuna sagte ich: >Den Speer mit der Spitze aus Keonas langem Knochen werde ich mir mitnehmen. Niemals werde ich ihn verkaufen. Ich werde ihn immer behalten.<

>Und wozu?< fragte er. Und ich entgegnete: >Damit sein Anblick mir einen klaren Kopf macht und ich mit beiden Beinen auf der Erde bleibe. Damit ich begreife, daß nur von den großen Ausnahmen drei Jahrhunderte nach ihrem Tod genug für eine Speerspitze übrigbleibt.<

Und Ahuna neigte sein Haupt und pries die Weisheit meines Urteils. Doch in diesem Augenblick riß die längst brüchige Olona-Schnur, und die bedauernswerten Frauenknochen Laulanis entglitten meinen Händen und fielen klappernd auf den felsigen Boden. Ein Schienbein, das irgendwie abgelenkt worden war, kullerte unter den dunklen Schlagschatten eines Kanubugs, und ich beschloß, daß es mir gehören sollte. So beeilte ich mich, Ahuna beim Aufklauben und Zusammenbinden der Knochen zu helfen, damit er sein Fehlen nicht bemerkte.

>Das hier<, sagte Ahuna und stellte mir einen anderen meiner Ahnen vor, >ist dein Urgroßvater Mokomoku, der Vater Kaaukuus. Schau dir nur an, wie groß seine Knochen sind. Er war ein Riese. Ich werde ihn tragen, denn mit dem langen Speer Keolas würde das für dich schwierig werden. Und das ist Lelemahoa, deine Großmutter, die Mutter deiner Mutter, die du tragen wirst. Der Tag neigt sich, und wir müssen erst noch durch das Wasser nach oben zum Licht schwimmen, bevor die Finsternis die Sonne verschluckt!<

Aber Ahuna, der die verschiedenen Lichtkalebassen auslöschte, indem er die Dochte im Walfischtran ertränkte, sah mich nicht, wie ich Laulanis Schienbein zu den Knochen meiner Großmutter legte.«

Das Hupen des Autmobils, das von Olokona heraufgeschickt worden war, um uns abzuholen, unterbrach die Erzählung des Prinzen. Wir verabschiedeten uns von der alten, jetzt mit einer Leibrente ausgestatteten Wahine und fuhren los. Nach einer halben Meile Fahrt nahm Prinz Akuli seine Erzählung wieder auf:

»Und so kehrten Ahuna und ich zu Hiwilani zurück, und zu ihrer großen Zufriedenheit, die bis zu ihrem Tod im folgenden Jahr anhielt, ruhten nun noch zwei weitere ihrer Vorfahren in ihrer Nähe in den Krügen ihres dämmrigen Zimmers. Sie hielt sich auch an unsere Abmachung und setzte meinem Vater so lange zu, bis er mich nach England schickte. Ich nahm den alten Howard mit, und er blühte wieder auf und strafte die Ärzte Lügen, so daß ich ihn erst drei Jahre später, nachdem er in den Schoß seiner Familie zurückgekehrt war, beerdigen mußte. Manchmal glaube ich, daß er der klügste Mensch war, den ich je kennengelernt habe. Ahuna, der letzte Hüter unserer Alii-Geheimnisse, starb nach meiner Rückkehr aus England. Und an seinem Totenbett mußte ich ihm noch einmal versprechen, niemals die Stelle in diesem namenlosen Tal zu verraten und auch selbst nie dorthin zurückzukehren.

Manches andere, was ich zu erwähnen vergessen habe, sah ich jenes eine Mal in der Höhle. Da waren die Gebeine von Kumi, beinahe ein Halbgott, der Sohn Tui Manuas von Samoa, der vor langer, langer Zeit in meine Familie einheiratete und meinen Stammbaum durch seine Verwandtschaft mit dem Himmel veredelte. Und die Gebeine meiner Urgroßmutter, die in dem vierpfostigen Himmelbett, dem Geschenk Lord Byrons, geschlafen hatte. Und Ahuna deutete an, daß nach der

Überlieferung dieses Geschenk seinen guten Grund gehabt hatte, ebenso wie das historisch belegte lange Verweilen der Blonde in Olokona. Und ich hielt ihre armen Knochen in meinen Händen - Knochen, die einst von sinnlicher Schönheit umhüllt waren, von Lebendigkeit und Geist durchdrungen, erfüllt mit Liebe und der liebevollen Wärme von Umarmungen, ineinander versunkenen Blicken und endlosen Küssen, die mich am Ende der ungeborenen Generationen hervorbrachten. Es war eine gute Erfahrung. Ich bin ein moderner Mensch, das stimmt. Ich glaube nicht an diesen Zauberkram von früher, und auch nicht an die Kahunas. Und doch sah ich in jener Höhle Dinge, die ich dir nicht zu nennen wage und die ich, seit der alte Ahuna starb, als einziger unter den Lebenden weiß. Ich habe keine Kinder. Mit mir endet eine lange Ahnenreihe. Wir leben im zwanzigsten Jahrhundert, und wir stinken nach Benzin. Dennoch werden diese anderen, ungenannten Dinge mit mir sterben. Ich werde die Begräbnisstätte niemals wieder aufsuchen. Noch wird irgendein Mensch sie in Zukunft erblicken, wenn nicht ein Erdbeben die Berge auseinandersprengt und die in ihrem Innersten verwahrten Geheimnisse ausspeit.«

Prinz Akuli verfiel in Schweigen. Mit sichtbarer Erleichterung entfernte er den Hala Lei von seinem Hals, und mit gerümpfter Nase und einem Seufzer ließ er ihn im dichten Lantanengebüsch neben der Straße verschwinden.

»Aber was ist mit dem Schienbein Laulanis?« fragte ich leise.

Er blieb stumm, während das Weideland an uns vorbeiflog und nach einer Meile in eine Zuckerrohrplantage überging.

»Ich habe es noch«, erwiderte er schließlich. Und daneben liegt Keola, vor der Zeit erschlagen und zu einer Speerspitze verarbeitet aus Liebe zu der Frau, deren Schienbein nun neben seinem ruht. Ihnen, diesen beiden armseligen Knochen, schulde ich unendlichen Dank. In der Zeit, als ich zum Mann heranreifte, war ich von ihnen wie besessen. Ich weiß, daß sie den gesamten Verlauf meines Lebens und meine Denkrichtung änderten. Sie verhalfen mir zu Bescheidenheit und Demut in der Welt, und das Vermögen meines Vaters vermochte es nie, mich davon abzubringen.

Und oft, wenn eine Frau nahe daran war, meinen Verstand zu entmachten, suchte ich Laulanis Schienbein hervor. Und oft, wenn mich männliche Lebenslust in den Übermut und die Begehrlichkeit trieb, ging ich mit der Speerspitze, dem Überrest Keolas, zu Rate, der einst ein so schneller Läufer, ein so großer Ringer und Liebhaber und ein Dieb der Frau eines Königs gewesen war. Die nachdenkliche Betrachtung dieser beiden Knochen war stets eine große Hilfe für mich, und man könnte wohl sagen, daß ich meine Religion oder meine Lebensweise auf sie gegründet habe.

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