Diese Geschichte von Alice Akana hat sich auf Hawaii zugetragen, nicht heute, sondern in jenen noch gar nicht so fernen Tagen, als der berühmte Erweckungsprediger Abel Ah Yo Alice Akana dazu brachte, sich alles von der Seele zu reden. Und was Alice beichtete, war selbst ein Stück Geschichte, das die ältere Generation einholte.
Denn Alice war fünfzig Jahre alt, war früh ins Erwachsenenleben eingetreten und hatte es, zu Beginn und auch später, ausgiebig genossen. Ihr Wissen reichte zurück bis zu den Ursprüngen von Familien, Geschäften und Plantagen. Sie war eine Art wandelndes Archiv und wurde von den Anwälten konsultiert, ob es sich nun um Grundstücksgrenzen und Landschenkungen oder um Heiraten, Geburten, Hinterlassenschaften oder Skandale handelte. Da sie ihre Zunge im Zaum hielt, verriet sie ihnen nur selten das Gewünschte; und wenn sie es wirklich tat, dann nur, wenn es der Gerechtigkeit diente und niemandem dadurch ein Schaden entstand.
Denn Alice hatte seit ihrer frühen Mädchenzeit ein Leben voller Blumen, Gesang, Wein und Tanz geführt; und in ihren späteren Jahren war sie selbst kraft ihres Amtes als Leiterin des Hula-Hauses Herrscherin über diese Lustbarkeiten gewesen. In solch einer Atmosphäre, wo die Gesetze Gottes und der Menschen sowie der Vorsicht keine Anwendung finden und wo sich benebelte Zungen lösen, eignete sie sich ihr Wissen über Dinge an, über die sonst nicht einmal getuschelt wurde und von denen kaum jemand etwas ahnte. Obwohl den alteingesessenen Bewohnern klar war, daß sie alles wissen mußte, hütete sie ihre Zunge so gut, daß niemand sie je über die Zeiten von Kalakauas Bootshaus oder über die Gelage mit den Offizieren der hier anlegenden Kriegsschiffe, mit den Diplomaten, Ministern und Anwälten aus aller Herren Länder hatte klatschen hören.
So war Alice Akana mit fünfzig Jahren - vollgestopft mit historischem Sprengstoff, der, wenn er je zur Explosion käme, ausreichen würde, um das Gesellschafts- und Geschäftsleben der Inseln von Grund auf zu erschüttern -, die Leiterin des Hula-Hauses, die Geschäftsführerin der Tänzerinnen, die vor fürstlichen Persönlichkeiten, bei Luaus, Hausfesten, Poi-Abendessen und für neugierige Touristen tanzten, und sie war immer noch verschwiegen. Außerdem war sie mit ihren Fünfzig gesund und drall, dazu klein und beleibt nach Art der polynesischen Bauern, mit einer körperlichen Konstitution ohne organische Verschleißerscheinungen, die noch viele weitere Jahre versprach. Doch ausgerechnet mit Fünfzig verirrte sie sich, eher durch Zufall und aus Neugier, in Abel Ah Yos Erweckungsversammlung.
Nun war Abel Ah Yo, was seine Theologie und seine Wortgewandtheit betraf, eine ebenso vielschichtige Persönlichkeit wie Billy Sunday. Sein Stammbaum war noch weit vielschichtiger, denn er war zu einem Viertel Portugiese, einem Viertel Schotte, einem Viertel Hawaiianer und einem Viertel Chinese. Das religiöse Feuer, das in ihm brannte, loderte heißer und farbenfroher, als es eine einzige seiner vier Rassen entfacht haben könnte. Denn in ihm vereinten sich Umsicht und Schlauheit, Mutterwitz und Weisheit, Feinsinn und Ungehobeltes, Leidenschaft und Philosophie, der verzweifelt nach Erkenntnis ringende Geist und das bis zu den Knien im Morast der Realität steckende Allzumenschliche der vier grundverschiedenen Rassen, aus denen sich seine Person zusammensetzte. Dazu besaß er noch die dieser ganzen adretten Mischung innewohnende Gabe der Selbsttäuschung.
Was die Redekunst anging, hätte er Billy Sunday, den Meister der englischen Kraftausdrücke, um Meilen geschlagen. Denn in Abel Ah Yo steckten die Verben, Substantive, Adjektive und Metaphern von vier lebendigen Sprachen. Mit diesem munteren, kunterbunten Sprachengemisch verfügte er über ein unerschöpfliches Reservoir an Ausdrucksmöglichkeiten, das eine Myriade von Billy Sundays nicht hätte ausschöpfen können. Ohne bestimmte Rassenzugehörigkeit, ein Bastard par excellence, aus verschiedenartigen fremden Elementen zusammengestückelt, besaß Abel Ah Yo die besonderen Fähigkeiten der jeweiligen Beimischungen im höchsten Maße. Wie ein Chamäleon schwankte und changierte er eindrucksvoll zwischen den unterschiedlichsten Anteilen seiner Persönlichkeit hin und her, verblüffte durch frontalen Angriff, überraschte durch Vorstöße über die Flanken und umgarnte die schlichteren Gemüter, die in seine Erweckungsversammlung kamen, um ihm zu Füßen zu sitzen und sich an seiner Glut zu entzünden.
Abel Ah Yo glaubte an sich und die Mischung, aus der er bestand, so wie er auch der wirren Überzeugung war, daß Gott ihm ebenso glich wie jedem anderen Menschen auch, da er nicht nur der Gott eines Stammes, sondern der ganzen Welt war, also allen Rassen der Welt ähnlich sein mußte, selbst wenn er dadurch gescheckt aussähe. Und dieses Konzept funktionierte. Chinesen, Koreaner, Japaner, Hawaiianer, Puertoricaner, Russen, Engländer, Franzosen - Angehörige aller Rassen - knieten einträchtig nebeneinander vor seiner überarbeiteten Gottesausgabe.
Abel Ah Yo, der selbst im zarten Jugendalter zum Abtrünnigen der anglikanischen Kirche geworden war, hatte jahrelang unter der Vorstellung gelitten, ein Judas zu sein. Im Grunde seines Wesens gottesfürchtig, hatte er den Herrn verleugnet. Deshalb war er wie Judas. Judas wurde verdammt. Weshalb auch ihn, Abel Ah Yo, dieses Schicksal erwartete; aber er wollte nicht verdammt sein. Also wand und krümmte er sich, wie es nun einmal Menschenart ist, um der Verdammung zu entgehen. Es kam der Tag, als er den Ausweg fand. Die Lehrmeinung, daß Judas verdammt worden sei, beschloß er, verfälschte den Ratschluß Gottes, der vor allem für Gerechtigkeit stand. Judas war Gottes Diener gewesen, speziell von ihm ausgewählt, um eine besonders undankbare Aufgabe zu übernehmen. Deshalb war Judas, der stets Pflichtgetreue, ein Verräter im göttlichen Auftrag und also ein Heiliger. Ergo war er, Abel Ah Yo, eben durch seinen Abfall und Übertritt zu einer bestimmten Sekte, auch ein Heiliger und konnte jederzeit ohne Schwierigkeiten Gehör bei Gott finden.
Diese Theorie wurde zu einem der wichtigsten Dogmen seiner Lehre und war besonders dazu angetan, das Gewissen all der Abtrünnigen anderer Glaubensrichtungen zu erleichtern, die in der Verborgenheit ihres Unbewußten sonst unter Judas’ Sündenlast zusammengebrochen wären. Für Abel Ah Yo war Gottes Plan so klar, als hätte er, Abel Ah Yo, ihn selbst aufgestellt. Alle würden am Ende gerettet werden, wenn es auch bei manchen länger dauern mochte als bei anderen und sie nur die hinteren Sitze zugewiesen bekämen. Der Platz des Menschen im ewig sich wandelnden Weltenchaos war festgelegt und vorherbestimmt - auch wenn dafür das Leugnen eines sich ewig wandelnden Chaos zum Beweis herzuhalten hatte. Denn das war ein bloßes Schreckgespenst der wirren Phantasie der Menschen. Und durch die eindringliche Kühnheit des Denkens und der Sprache, durch einen kraftvollen Slang, der mit seinem vertrauten Klang den direkten Zugang zur Gedankenwelt seiner Zuhörer eröffnete, verscheuchte er das Schreckgespenst aus ihren Köpfen, zeigte ihnen die liebevolle Klarheit des göttlichen Heilsplans und flößte ihnen dadurch heitere Gelassenheit und Seelenruhe ein.
Welche Chance hatte Alice Akana, selbst von reiner, unvermischter hawaiischer Abstammung, gegen seinen raffinierten, volkstümlich verbrämten, von vier Rassen erzeugten, mit Slang ausgerüsteten Angriff? Er wußte durch praktische Erfahrung beinahe ebensoviel wie sie über die Unberechenbarkeiten des Lebens und des Sündigens - da er in seiner Jugend als Sänger auf den Passagierschiffen zwischen Hawaii und Kalifornien und danach zu Wasser und zu Lande als Barkellner gearbeitet hatte, und zwar von San Franziscos Barbary Coast bis zu Heinie’s Tavern in Waikiki. Und tatsächlich hatte er eine Stelle als erster Barkellner in Honolulus Universitäts-Club aufgegeben, um zu seinen großen Erweckungspredigten aufzubrechen.
Als Alice Akana sich spottlustig dorthin verirrte, blieb sie, um zu Abel Ah Yos Erlöser zu beten, der ihrem praktischen Verstand als der vernünftigste Gott erschien, von dem sie je gehört hatte. Sie legte Geld in Abel Ah Yos Sammelteller, schloß das Hula-Haus, schickte die Tänzerinnen fort, damit sie auf umständlichere Weise ihren Lebensunterhalt verdienten, legte Festtagsfarben und -gewänder sowie die Blumengirlanden ab und kaufte eine Bibel.
Es war eine Zeit religiösen Eifers in den Armenvierteln Honolulus. Es war eine Bewegung des einfachen Volkes hin zu Gott. Leute von Rang und Namen waren eingeladen, kamen aber nie. Nur das dumme, das niedrige Volk kniete reuig auf der Büßerbank, die Leute gestanden ihre Schuld und Sündenlast ein, warfen sie ab und machten sich von all der Verwirrung frei, um fortan, gestützt auf den Arm von Abel Ah Yos Gott, wieder erhobenen Hauptes im Lichte der Sonne zu wandeln. Kurzum, Abel Ah Yos Erweckungsversammlung war eine Clearing-Stelle für Verfehlungen und Trübsal, wo Sünder von ihrer Last befreit und ihr Geist aufgeheitert und geheilt wurde.
Aber Alice war nicht glücklich. Ihre Last war nicht von ihr genommen worden. Zwar kaufte und verteilte sie Bibeln, spendete noch mehr Geld für den Kollektenteller, sang mit ihrer tiefen, herrlichen Altstimme bei allen Hymnen mit, wollte aber ihre Seele nicht erleichtern. Abel Ah Yo rang vergeblich mit ihr. Sie wollte nicht auf der Büßerbank niederknien, um die Dinge, die sie betrübten, auszusprechen - die schlimmen Geschichten über gute Freunde aus alten Zeiten. »Man kann nicht zwei Herren dienen«, sagte Abel Ah Yo zu ihr. »Die Hölle ist voll von Leuten, die es versucht haben. Ehrlichen und reinen Herzens mußt du deinen Frieden mit Gott machen. Nicht ehe du vor der versammelten Gemeinde Gott dein Herz offenbarst, kannst du der Erlösung teilhaftig werden. In der Zwischenzeit wirst du weiterhin an dem fressenden Krebsgeschwür der Sünde leiden, das du in dir trägst.«
Vom wissenschaftlichen Standpunkt hatte Abel Ah Yo recht, wenn er es auch nicht wußte und sich andauernd über die Wissenschaft lustig machte. Alice konnte nicht wieder wie ein unschuldiges Kind in das strahlende Gewand der Gnade Gottes gehüllt werden, bevor sie nicht all ihre Verderbtheiten, einschließlich derer, die sie mit anderen teilte, dadurch aus ihrer Seele getilgt hatte, daß sie sie aussprach. Nach Art der Protestanten mußte sie ihre Seele öffentlich entblößen, während es nach katholischem Ritus in der Intimität des Beichtstuhls geschieht. Das Ergebnis einer solchen Offenbarung würde Harmonie, Ruhe, Glück, Reinigung, Erlösung und ewiges Leben sein.
»Du hast die Wahl!« donnerte Abel Ah Yo. »Treue gegenüber Gott oder Treue gegenüber den Menschen.« Aber Alice konnte nicht wählen. Zu lange hatte sie ihre Zunge gehütet, um das Ansehen der Leute nicht zu gefährden. »Ich werde alles, was mich allein betrifft, beichten«, bot sie an. »Gott weiß, daß ich meiner Seele überdrüssig bin und sie gern wieder so rein hätte wie als kleines Mädchen in Kaneohe.«
»Doch der ganze verderbliche Einfluß auf deine Seele ging von anderen Seelen aus«, lautete Abel Ah Yos kompromißlose Antwort. »Wenn du eine Last trägst, wirf sie ab. Du kannst nicht eine Last tragen und gleichzeitig von ihr frei sein.«
»Ich will jeden Tag zu Gott beten, und das viele Male am Tag«, wandte sie ein. »Ich werde mich Gott in Demut nähern, mit Seufzern und Tränen. Ich will oft für den Gabenteller spenden, und ich will Bibeln kaufen, Bibeln, unendlich viele Bibeln.«
»Und Gott wird dir nicht gnädig sein«, entgegnete Gottes Sprachrohr. »Und du wirst müde und schwer beladen bleiben. Denn du wirst nicht deine ganze Schuld eingestanden haben, und erst wenn du alles ausgesprochen hast, wirst du davon befreit werden.«
»Diese Wiedergeburt ist schwierig«, seufzte Alice.
»Eine Wiedergeburt ist sogar noch schwieriger als eine Geburt.« Abel Ah Yo machte es ihr alles andere als leicht. »Erst wenn du wie ein kleines Kind wirst.«
»Wenn ich mir jemals alles von der Seele rede, dann wird es ein langer Bericht werden«, vertraute sie ihm an.
»Dann hast du um so mehr Grund dazu.«
Und so war die Situation völlig festgefahren, da Abel Ah Yo absolute Ergebenheit gegenüber Gott forderte und Alice Akana immer noch unschlüssig an den Randzonen des Paradieses herumflatterte.
»Du kannst darauf wetten, daß es eine große Enthüllung geben wird, wenn Alice erst einmal loslegt«, sagten die sich am Strand herumtreibenden und heruntergekommenen Kamaainas [Alteingesessenen] schadenfroh zueinander und schlürften ihren billigen Palm-Tree-Gin.
In den Clubs wurde einer möglichen Beichte größere Bedeutung beigemessen. Die jüngere Generation der Männer verkündete, daß sie sich um Plätze in der vorderen Reihe bemühen würde, während viele der älteren über Alices Bekehrung halbherzige, hohle Scherze machten. Ferner wurde Alice plötzlich von guten Freunden umschwärmt, die zwanzig Jahre lang vergessen hatten, daß sie überhaupt existierte.
Eines Nachmittags, als Alice, in der Hand die Bibel, gerade bei der Haltestelle Hotel und Fort in die elektrische Straßenbahn einsteigen wollte, befahl Cyrus Hodge, der Zuckerkommissionär und Magnat, seinem Chauffeur, neben ihr anzuhalten. Er komplimentierte sie in seine Limousine, opferte eine Dreiviertelstunde seiner Zeit und fuhr einen Umweg, um sie zu ihrem Ziel zu bringen.
»Welche Wohltat für meine schmerzenden Augen, dich zu sehen«, plapperte er los. »Wie die Jahre nur so fliegen! Du siehst gut aus. Du scheinst das Geheimnis ewiger Jugend zu kennen.«
Alice lächelte und sagte ihm ihrerseits in der wunderbaren, freundlichen polynesischen Art einige Nettigkeiten.
»Du meine Güte«, schwelgte Cyrus Hodge in Erinnerungen. »Ich war noch so ein junger Bursche in jenen Tagen!«
»Und was für ein Bursche«, lachte sie gutmütig.
»Doch nichts anderes im Kopf als die Tollheiten der Jugend.«
»Erinnerst du dich an die Nacht, als dein Fahrer sich betrank und dich im Stich gelassen hatte - «
»Schsch!« warnte er. »Dieser japanische Chauffeur hat einen Hochschulabschluß und kann besser Englisch als du oder ich. Ich glaube auch, daß er ein Spion seiner Regierung ist. Warum also sollten wir ihm etwas erzählen? Außerdem war ich ja noch so jung. Erinnerst du dich.?«
»Deine Wangen waren wie die Pfirsiche, die wir zogen, ehe sie von der aus den Mittelmeerländern eingeschleppten Fruchtfliege befallen wurden«, pflichtete Alice bei. »Ich glaube nicht, daß du dich damals öfter als einmal in der Woche rasieren mußtest. Du warst ein hübscher Junge. Erinnerst du dich nicht an den Hula, den wir dir zu Ehren komponierten, den - «
»Sch, sch!« brachte er sie zum Schweigen. »Das ist doch alles längst begraben und vergessen. Und es soll auch vergessen bleiben.«
Und sie bemerkte, daß in seinen Augen nichts mehr von der jugendlichen Treuherzigkeit war, die sie in Erinnerung hatte. Statt dessen blickten seine Augen sie scharf und fordernd an und wollten von ihr die Versicherung, daß sie seinen speziellen Anteil an dieser begrabenen Vergangenheit nicht wieder auferstehen ließ.
»Religion ist eine gute Sache für uns, nun da wir in die Jahre kommen«, erzählte ihr ein anderer alter Freund. Er baute gerade ein wunderbares Haus auf den Pacific Heights, hatte vor kurzem zum zweiten Mal geheiratet und war auf dem Weg zum Anleger, um seine beiden Töchter willkommen zu heißen, die soeben ihr Studium am Vassar College beendet hatten. »Wir brauchen die Religion in unserem Alter, Alice. Sie macht uns milder, toleranter und läßt uns die Schwächen anderer verzeihen, insbesondere die Schwächen der Jugend, der - der anderen, wenn sie sich amüsierten und nicht wußten, was sie taten.«
Er wartete gespannt.
»Ja«, sagte sie. »Wir sind alle geboren, um zu sündigen, und es ist schwer, aus der Sünde herauszukommen. Aber ich schaffe es, ich schaffe es schon.«
»Vergiß nicht, Alice, in jenen Tagen war ich immer ehrlich zu dir. Du und ich, wir hatten nie Streit miteinander.«
»Nicht einmal an jenem Abend, an dem du zu deinem einundzwanzigsten Geburtstag ein Luau gegeben und nach jedem Toast darauf bestanden hast, die Gläser kaputtzuwerfen. Aber natürlich bist du für den Schaden aufgekommen.«
»Großzügig aufgekommen«, machte er fast flehend geltend.
»Großzügig«, stimmte sie zu. »Ich konnte fast die doppelte Menge ersetzen, so daß ich beim nächsten Luau einhundertzwanzig Gedecke hatte, ohne einen Teller oder ein Glas ausleihen zu müssen. Lord Mainweather gab dieses Luau
- du erinnerst dich an ihn.«
»Ich war mit ihm auf Wildschweinjagd in Mana«, nickte der andere zustimmend. »Wir haben dort ein Fest gefeiert, das zwei Wochen dauerte. Also Alice, wie du weißt, glaube ich, daß diese Sache mit der Religion in Ordnung ist, ohne Wenn und Aber. Nur, laß dich davon nicht völlig überwältigen. Und erzähle nichts über mich, wenn du dein Gewissen erleichterst. Was würden meine Töchter über die Geschichte mit den zerbrochenen Gläsern denken!«
»Ich hatte immer ein Aloha für dich, Alice«, versicherte ihr ein fettes, kahlköpfiges Senatsmitglied.
Und ein anderer, ein Rechtsanwalt und Großvater, bemerkte: »Wir waren immer Freunde, Alice. Und denk daran, wenn du juristische Beratung oder Beistand bei einer geschäftlichen Transaktion brauchst, so werde ich das für dich erledigen, umsonst, um unserer alten Freundschaft willen.«
Spät am Heiligen Abend kam ein Bankier zu ihr, mit schrecklich gerichtsmäßig aussehenden Kuverts in der Hand, die er ihr überreichte.
»Ganz zufällig«, erklärte er, »fand ich, als meine Leute nach Grundbüchern von Iapio Valley suchten, einen Hypothekenbrief über zweitausend Dollar, ausgestellt auf deinen Besitz dort - dieses Reisland, das an Ah Chun verpachtet war. Und meine Gedanken schweiften zurück in die Vergangenheit, als wir alle jung waren und ungestüm, ja etwas ungestüm, das stimmt. Und bei der Erinnerung an dich wurde mir warm ums Herz, und so habe ich, als ein Aloha, die ganze Geschichte für dich in Ordnung gebracht.«
Und auch von ihren eigenen Leuten wurde Alice nicht vergessen. Ihr Haus wurde ein Mekka für eingeborene Männer und Frauen, die gewöhnlich ihre Pilgerreise heimlich nach Einbruch der Dunkelheit antraten, stets ein Geschenk in den Händen - Tintenfisch frisch vom Riff, Opihis und Limu, Körbe voll Avocados, die ersten grünen Maiskolben zum Rösten von der Windseite Oahus, Mangos und Sternäpfel, rosafarbener feinster Taro, Spanferkel, Bananenpoi, Brotfrucht und Krabben, die am selben Tag im Pearl Harbor gefangen worden waren. Mary Mendana, die Frau des portugiesischen Konsuls, brachte sich bei ihr mit einer Bonbonniere für fünf Dollar und einem Mandarinumhang in Erinnerung, der beim Ausverkauf fünfundsiebzig Dollar gebracht hätte. Und Elvira Miyahara Makaena Yin Gap, die Frau von Yin Gap, dem reichen chinesischen Importeur, überreichte Alice persönlich zwei ganze Ballen Pifia-Stoff von den Philippinen und ein Dutzend Paar Seidenstrümpfe.
Die Zeit verrann, und Abel Ah Yo kämpfte mit Alice um eine wahrhaft bußfertige Seele, während halb Honolulu boshaft oder besorgt auf den Ausgang wartete. Die Karneval swoche war längst vorüber, Polo- und Pferderennen kamen und gingen, und die Feierlichkeiten für den Unabhängigkeitstag am vierten Juli standen vor der Tür, ehe Abel Ah Yo durch brutale Psychologie die Festung ihres Widerstandes zum Einsturz brachte. Zu diesem Zeitpunkt hielt er seine berühmte Erweckungspredigt, die als Abel Ah Yos Definition der Ewigkeit bezeichnet werden könnte. Natürlich hatte er, wie auch Billy Sunday das bei bestimmten Gelegenheiten tat, diese Definition irgendwo abgekupfert. Aber niemand auf den Inseln wußte es, und die Wertschätzung, die er als Erweckungsprediger genoß, stieg um hundert Prozent.
So erfolgreich war seine Predigt an jenem Abend, daß er viele seiner Konvertiten abermals bekehrte, die um die Büßerbank herum niederfielen und stöhnten und sich zwischen Dutzenden von neuen, vom Pfingstfeuer erleuchteten Seelen nach vorn drängten. Zu ihnen gehörten eine halbe Kompanie von Negersoldaten des hier stationierten Fünfundzwanzigsten Infanterieregiments, ein Dutzend Reiter des Vierten Kavallerieregiments, die sich auf dem Weg zu den Philippinen befanden, ebensoviele betrunkene Besatzungsmitglieder von den Kriegsschiffen, mehrere Damen von Iwilei und die Hälfte des Gesindels, das sich am Strand herumtrieb.
Abel Ah Yo, der durch seine Rassenmischung ein feines Einfühlungsvermögen besaß und für den die menschliche Natur und viel mehr noch Alice Akana wie ein offenes Buch war, wußte einfach, was zu tun war, als er sich an diesem denkwürdigen Abend erhob und Gott, die Hölle und die Ewigkeit in Begriffen schilderte, die Alice Akana verstand. Denn ganz durch Zufall hatte er ihre Hauptschwäche entdeckt. Er fand heraus, daß ihr, die wie alle Polynesier eine glühende Naturverehrerin war, Erdbeben und Vulkanausbrüche Angst einjagten. Sie hatte früher einmal auf der Hauptinsel Hawaii Erschütterungen erlebt, bei denen die Grashütten, in denen sie schlief, über ihr zusammenstürzten, und sie hatte gesehen, wie Madame Pele rotglühende, flüssige Lava die Hänge des Mauna Loa hinabschleuderte und dadurch Fischteiche am Meeresufer zerstörte und Rinderherden, Dörfer und Menschen auf ihrer Feuerbahn verschlang.
In der vorhergehenden Nacht hatte ein leichtes Erdbeben Honolulu heimgesucht und Alice Akana eine schlaflose Nacht beschert. Und die Morgenzeitungen hatten berichtet, daß der Mauna Kea ausgebrochen sei und die Lava im großen Kilauea-Krater schnell stieg. So setzte sich Alice bei der Versammlung in ausgesprochen nervöser Verfassung auf einen der vorderen Plätze, denn ihre Aufmerksamkeit war zwischen den Schrecken dieser Welt und den Freuden der künftigen ewigen Welt heftig hin- und hergerissen.
Und Abel Ah Yo erhob sich und legte seinen Finger auf den wundesten Punkt ihrer Seele. Indem er die Natur Gottes klischeehaft schilderte, das Klischee jedoch mit seiner Sprachbegabung in Pidgin-Englisch und Pidgin-Hawaiisch wieder lebendig machte, beschrieb Abel Ah Yo den Tag, an dem selbst die unendliche Geduld des Herrn ein Ende haben würde. Dann befähle er Petrus, sein Hauptbuch zu schließen, trüge Gabriel auf, alle Seelen vor Gericht zu zitieren, und riefe mit Donnerstimme »Welakahao!«.
Abel Ah Yos vermenschlichte Gottheit, die den modernen hawaiischen Slangausdruck Welakahao beim Weltuntergang donnert, ist ein gutes Beispiel für die sprachlichen Mittel dieses Erweckungspredigers. Welakahao heißt wörtlich »heißes Eisen«. Dieser Begriff wurde in der Eisenhütte Honolulus von den Hunderten hawaiischer Männer geprägt, die dort beschäftigt waren und darunter »mit Hochdruck arbeiten«, »vorwärtsmachen« verstanden, da das Eisen heiß und damit die Zeit gekommen war, es zu schmieden.
»Und der Herr rief >Welakahao<, und der Tag des Jüngsten Gerichtes begann und war wikiwiki, also schnell, vorüber, so mir nichts, dir nichts; denn Petrus war ein besserer Buchhalter als irgendeiner von der Waterhouse Trust Company Limited, und noch dazu stimmten seine Bücher.«
Geschwind trennte Abel Ah Yo die Schafe von den Böcken und schickte die letzteren in die Hölle hinab.
»Und nun«, fragte er, wobei wir seine Predigt notgedrungen auf hochdeutsch wiedergeben, »wie sieht es in der Hölle aus? Ach, meine Freunde, laßt mich kurz schildern, was ich mit meinen eigenen Augen hier auf Erden schon von den Möglichkeiten der Hölle erblickt habe. Ich war ein junger Mann, ein Knabe noch, und ich war in Hilo. Der Morgen begann mit einem Erdbeben. Den ganzen Tag über hörte das riesige Gebiet nicht auf zu zittern, bis starke Männer seekrank wurden und Frauen sich an die Bäume klammerten, um nicht umzufallen, und selbst dem Vieh der Boden unter den Füßen fortgerissen wurde. Mit eigenen Augen sah ich ein junges Kälbchen, das so von den Beinen kam. Es folgte eine Nacht unbeschreiblichen Grauens. Das Land bewegte sich wie ein Kanu in einem Kona-Sturm. Ein Säugling wurde von seiner liebenden Mutter zu Tode getrampelt, als sie aus dem einstürzenden Haus floh und dabei auf ihn trat.
Der Himmel über uns stand in Flammen. Wir lasen in unseren Bibeln im Schein dieses Feuers, und die Buchstaben waren gut zu entziffern. Dabei hatten diese Missionsbibeln immer einen zu kleinen Druck. Sechzig Kilometer von uns entfernt brach das Innerste der Hölle aus den hohen Gipfeln heraus, und ein roter Blutstrom aus geschmolzenen Gesteinsmassen ergoß sich ins Meer. Der Himmel eine einzige Feuersbrunst und eine unter unseren Füßen Hula tanzende Erde
- das war ein zu schreckliches und erhabenes Schauspiel, um daran Gefallen zu finden. Wir konnten an nichts anderes mehr denken als an die dünne, Blasen werfende Erdschale zwischen uns und dem ewigen Feuer- und Schwefelsee und an Gott, den wir um Rettung anflehten. Unter uns befanden sich ernste und gottesfürchtige Seelen, die an Ort und Stelle ihren Pastoren versprachen, nicht nur ihren knappen Kirchenzehnten, sondern fünf Zehntel ihres gesamten Vermögens der Kirche zu geben, wenn nur der Herr sie zum Spenden am Leben lassen würde.
Und, meine Freunde, Gott errettete uns. Doch zuerst gab er uns einen Vorgeschmack dieser Hölle, die sich an jenem Jüngsten Tag für uns auftun wird, wenn er mit Donnerstimme >Welakahao!< ruft. Wenn das Eisen heiß ist! Denkt daran! Wenn das Eisen heiß ist für die Sünder!
Am dritten Tag, nachdem sich alles etwas beruhigt hatte, machten sich mein Freund, der Prediger, und ich, die wir uns sicher in Gottes Hand wußten, auf den Weg hinauf zum Mauna Loa und blickten in den furchtbaren Kilauea-Krater. Wir starrten hinunter in den bodenlosen Abgrund zu dem Feuersee tief unter uns, der toste und mit brennender Gischt gekrönte Wellen schlug und Hunderte von Metern hohe Fontänen emporschleuderte, wie das Feuerwerk am vierten Juli, das ihr alle schon gesehen habt; und während der ganzen Zeit rangen wir mühsam nach Luft und waren ganz benommen von den aufsteigenden Rauch- und Schwefelschwaden.
Und ich sage euch, kein frommer Mensch konnte auf diese Szene hinunterblicken, ohne ein genaues Abbild des biblischen Höllenschlundes zu erkennen. Glaubt mir, das, was die Verfasser des Neuen Testaments schrieben, war nicht gelogen. Was mich betrifft, so waren meine Augen unverwandt auf das Schauspiel unter mir gerichtet, und ich stand stumm und zitternd vor der Gewalt, der Erhabenheit und der Schrecklichkeit Gottes des Allmächtigen - ganz gewärtig der Mittel seines Zorns und der ungenannten Greuel, die über die bis zuletzt Unbußfertigen, die ihre Sünden nicht bekannt und keinen Frieden mit dem Schöpfer gemacht haben, hereinbrechen werden.
Aber, meine Freunde, denkt ihr etwa, unsere dem Heidentum verfallenen Fremdenführer, unsere eingeborenen Diener, wären von einem solchen Schauspiel beeindruckt gewesen? Keineswegs. Der Teufel hatte sie im Griff. Gänzlich unbekümmert und gleichgültig hatten sie nur ihr Abendessen im Sinn, schwatzten über ihren rohen Fisch und streckten sich auf ihren Matten zum Schlafen aus. Kinder des Teufels waren sie, unempfänglich für die Schönheiten, die Erhabenheit und die entsetzliche Schrecklichkeit von Gottes Werken. Doch ihr, an die ich jetzt das Wort richte, seid keine Heiden. Was ist ein Heide? Er ist einer, der höheren Ideen und höheren Empfindungen gegenüber eine törichte Unbekümmertheit an den Tag legt. Wenn man sein Interesse wecken will, fordere man ihn nicht auf, in den Höllenschlund hinabzublicken, sondern offeriere ihm eine Kalebasse Poi, einen rohen Fisch oder lade ihn zu irgendwelchen niedrigen, gewöhnlichen und sinnenfrohen Vergnügungen ein. Ach, meine Freunde, wie verloren sind sie für alles, was die unsterbliche Seele erhöht! Doch der Prediger und ich, traurig und zutiefst von ihnen angewidert, blickten hinab in die Hölle. Ah, meine Freunde, es war die Hölle, die Hölle aus der Heiligen Schrift, die Hölle der ewigen Qualen für die Unwürdigen.«
Alice Akana befand sich in einer Exstase oder Hysterie des Schreckens. Sie murmelte zusammenhangslos vor sich hin: »O Herr, ich will neun Zehntel meines gesamten Besitzes spenden. Ich will alles spenden. Ich will sogar die zwei Ballen Pina-Tuch, den Mandarinumhang und das ganze Dutzend Seidenstrümpfe geben.«
Als sie wieder zuhören konnte, war Abel Ah Yo gerade dabei, seine berühmte Definition der Ewigkeit vom Stapel zu lassen.
»Die Ewigkeit ist lang, meine Freunde. Gott lebt, und deshalb lebt Gott in der Ewigkeit. Und Gott ist sehr alt. Die Höllenfeuer sind so alt und immerwährend wie Gott. Wie sonst könnte es immerwährende Qualen für jene Sünder geben, die von Gott am Jüngsten Tage in den Höllenschlund gestoßen werden, um für immer und ewig zu brennen? Oh, meine Freunde, euer Verstand ist zu klein - zu klein, um die Ewigkeit zu erfassen. Und doch ist es mir durch Gottes Gnade beschieden, euch eine Vorstellung von einem kleinen Stück Ewigkeit zu vermitteln.
Die Sandkörner am Strand von Waikiki sind so zahlreich wie die Sterne und noch zahlreicher. Kein Mensch kann sie zählen.
Wenn er eine Million Leben hätte, um sie zu zählen, müßte er um noch mehr Zeit bitten. Nun stellen wir uns einen kleinen, niedlichen alten Hirtenstar mit einer gebrochenen Schwinge vor, der nicht fliegen kann. In Waikiki nimmt der flügellahme Hirtenstar ein Sandkorn in den Schnabel und hüpft und hüpft den ganzen Tag, viele Tage, die Strecke bis Pearl Harbor und läßt dieses eine Sandkorn aus seinem Schnabel in den Hafen fallen. Dann hüpft er den ganzen Tag und viele Tage lang den ganzen Weg zurück nach Waikiki, um noch ein Sandkorn zu holen. Und wieder hüpft er den ganzen Weg zurück nach Pearl Harbor. Und er macht das über Jahre, Jahrhunderte und Tausende und Abertausende von Jahrhunderten hinweg, bis schließlich kein einziges Sandkorn mehr am Strand von Waikiki übrigbleibt und Pearl Harbor mit Land aufgefüllt ist, auf dem Kokosnüsse und Ananas gedeihen. Und dann, meine Freunde, selbst dann würde in der Hölle noch nicht einmal Sonnenaufgang sein!«
Hier, angesichts der überwältigenden Wirkung einer so abrupten Klimax und unfähig, der unverfälschten Klarheit und Objektivität einer so kunstvollen Bemessung eines winzigen Stückchens Ewigkeit zu widerstehen, brach Alice Akanas geistiger Widerstand zusammen und löste sich in Luft auf. Sie erhob sich, wankte blind umher und sank bei der Büßerbank auf die Knie. Abel Ah Yo hatte seine Predigt zwar noch nicht zu Ende gebracht, aber er verstand sich auf die Psychologie der Massen und fühlte die Glut des pfingstlichen Feuers, das seine Zuhörer versengte. Er forderte seine Sänger zu einer mitreißenden Erweckungshymne auf und stieg hinunter, um inmitten der Halleluja rufenden Negersoldaten auf Alice Akana zuzuschreiten. Und ehe die Erregung nachzulassen begann, sanken neun Zehntel seiner Gemeinde und alle von ihm Bekehrten auf die Knie und beteten und schrien laut ein gewaltiges Quantum an Zerknirschung und Sünde hinaus.
Die Nachricht, daß Alice sich schließlich doch anschickte, in der Versammlung zu beichten, erreichte per Telefon fast gleichzeitig den Pacific- und den Universitäts-Club, und mit Privatwagen und Taxis überschwemmten jene, die Rang und Namen besaßen, zum ersten Mal Abel Ah Yos Erweckungsversammlung. Jenen, die zuerst gekommen waren, bot sich der seltsame Anblick von Hawaiianern, Chinesen und all den bunten Rassenmischungen des Schmelztiegels Hawaii, von Männern und Frauen, die durch die Ausgänge von Abel Ah Yos Bethaus verschwanden und sich fortschlichen. Doch es waren meist Männer, die sich davonstahlen, während jene, die blieben, mit begierigem Gesichtsausdruck an Alice Akanas Lippen hingen.
Nie zuvor war im ganzen nördlichen und südlichen Pazifik ein so schrecklicher und verdammungswürdiger Bericht über eine Gesellschaft erstattet worden wie der, den Alice Akana, die reuige Phryne von Honolulu, nun hören ließ.
»Ha!« hörten die zuerst Eingetroffenen sie sagen, nachdem sie schon die meisten der kleineren läßlichen Sünden, an die sie sich erinnerte, losgeworden war. »Ihr glaubt, dieser Mann, Stephen Makekau, sei der Sohn von Moses Makekau und Minnie Ah Ling und habe ein Recht auf die zweihundertundacht Dollar, die er jeden Monat von der Parke Richards Limited für die Verpachtung des Fischteiches an Bill Kong in Amana einstreicht. Dem ist nicht so. Stephen Makekau ist nicht der Sohn von Moses. Er ist der Sohn von Aaron Kama und Tillie Naone. Er wurde Moses und Minnie von Aaron und Tillie als Säugling geschenkt. Ich weiß es. Moses und Minnie und Aaron und Tillie sind bereits tot. Doch ich weiß es und kann es auch beweisen. Die alte Frau Poepoe lebt noch. Ich war dabei, als Stephen geboren wurde, und als er zwei Monate alt war, trug ich ihn selbst des Nachts als Geschenk zu Moses und Minnie, und die alte Frau Poepoe trug die Laterne. Dieses Geheimnis ist eine von meinen Sünden. Es hat mich von Gott ferngehalten. Jetzt bin ich davon befreit. Der junge Archie Makekau, der Rechnungen für die Benzingesellschaft eintreibt und an den Nachmittagen Baseball spielt und zuviel Gin trinkt, sollte diese zweihundertacht Dollar am Ersten jeden Monats von der Parke Richards Limited beziehen. Er wird alles für Gin und ein Automobil der Marke Ford verpulvern. Stephen ist ein guter Mensch. Archie taugt nichts. Auch ist er ein Lügner und hat bereits zwei Strafen auf dem Riff verbüßt, und zuvor war er in der Besserungsanstalt. Doch Gott verlangt die Wahrheit, und Archie wird das Geld bekommen und nur Unheil damit anrichten.«
Und auf diese Art und Weise kam Alice durch die Erfahrungen ihres langen, ereignisreichen Lebens vom Hundertsten ins Tausendste. Und Frauen vergaßen ebenso wie Männer, daß sie sich im Betsaal befanden, und manche Gesichter wurden von Gefühlsaufwallungen verfärbt, als ihre Besitzer zum erstenmal von den längst begrabenen Geheimnissen ihrer besseren Hälften erfuhren.
»Die Anwaltskanzleien werden morgen überfüllt sein.« Macllwaine, der Chef der Kriminalpolizei, unterbrach das Notieren nützlicher Informationen gerade lange genug, um sich zu Colonel Stilton hinüberzubeugen und ihm diesen Satz ins Ohr zu flüstern.
Colonel Stilton grinste zustimmend, wenn auch dem Chef der Kriminalpolizei das Grimassenhafte dieser Heiterkeit nicht entging.
»Da gibt es einen Bankier in Honolulu. Ihr alle kennt seinen Namen. Er gehört durch seine Frau zur besten Gesellschaft. Er besitzt viele Aktien von General Plantations und Interisland.«
Macllwaine erkannte das entstehende Porträt und unterdrückte ein Kichern.
»Sein Name ist Colonel Stilton. Am letzten Heiligen Abend kam er mit einem großen Aloha in mein Haus und überreichte mir Hypothekenbriefe im Wert von zweitausend Dollar, die auf mein Land in Iapio Valley ausgestellt und jetzt getilgt waren. Ja, weshalb hatte er wohl ein so großes Geld-Aloha für mich? Ich will es euch sagen.«
Und sie erzählte die Geschichte, richtete den Scheinwerfer auf frühere Transaktionen und politische Machenschaften, deren Ursprung stets im dunkeln geblieben war.
»Dies«, beschloß Alice die Episode, »lastete lange Zeit als Sünde auf meinem Gewissen und hielt meine Seele von Gott fern.
Und Harold Miles war zu jener Zeit Senatspräsident, und eine Woche später erwarb er drei Stadtgrundstücke in Pearl Harbor, strich sein Haus in Honolulu neu an und beglich seine alten Schulden in den Clubs. Dann war da auch das Ramsay-Haus in Honokiki, das der Besitzer testamentarisch dem Volk vermacht hatte, wenn die Regierung es instandhalten würde. Wenn jedoch die Regierung nach zwei Jahren noch nicht mit der Instandsetzung begonnen hätte, dann sollte es den Erben zufallen, die der alte Ramsay wie die Pest haßte. Nun, es fiel natürlich den Erben zu. Ihr Rechtsanwalt war Charley Middleton, und er wollte, daß ich die Sache mit den Leuten von der Regierung regle. Und ihre Namen waren - « Sechs Namen aus beiden Kammern der Legislative führte Alice auf und fügte hinzu: »Vielleicht bekamen danach alle ihre Häuser einen neuen Anstrich. Zum ersten Mal habe ich gesprochen. Mein Herz ist nun viel leichter und weicher. Es war mit einem Panzer aus Hausfarbe überzogen. Und da ist noch Harry Werther. Er war damals im Senat. Jeder sprach schlecht über ihn, und er wurde nie wiedergewählt. Doch sein Haus wurde nicht gestrichen. Er war anständig. Sein Haus ist, wie jeder weiß, bis zum heutigen Tag noch nicht gestrichen.
Da ist Jim Lokendamper. Er hat kein gutes Herz. Ich hörte ihn erst letzte Woche, genau hier vor euch allen, seine Sünden bekennen. Aber er sagte nicht alles, und er belog Gott. Ich belüge Gott nicht. Es ist eine große Beichte, aber ich werde mir alles von der Seele reden. Nun ist Azalea Akau, die dort drüben sitzt, seine Geliebte. Doch Lizzie Lokendamper ist seine Ehefrau. Vor langer Zeit empfand er ein großes Aloha für Azalea. Ihr glaubt, ihr Onkel, der nach Kalifornien auswanderte und dort starb, hinterließ ihr in seinem Testament die zweitausendfünfhundert Dollar, die sie bekam? Ihr Onkel hinterließ ihr nichts. Ich weiß es. Er starb ohne einen Pfennig, und John Lokendamper schickte achtzig Dollar für sein Begräbnis nach Kalifornien. Jim Lokendamper hatte ein Stück Land in Kohala, das er von der Tante seiner Mutter geerbt hatte. Lizzie, seine Ehefrau, wußte nichts davon. Deshalb verkaufte er es der Kohala-Graben-Gesellschaft und schenkte Azalea Akau die zweitausendfünfhundert - «
An dieser Stelle erhob sich Lizzie wie eine übermäßig gereizte Rachegöttin und stürzte sich, statt auf ihren Ehemann, der bereits die Flucht ergriffen hatte, wutentbrannt auf Azalea.
»Warte, Lizzie Lokendamper!« rief Alice. »Ich habe auch einiges über dich auf dem Herzen, was mich belastet, und noch einiges an Hausfarbe.«
Und als sie mit ihren Enthüllungen darüber, wie Lizzie zu einem neuen Hausanstrich gekommen war, zu Ende war, geriet Azalea außer Rand und Band.
»Warte, Azalea Akau. Ich werde jetzt in deinem Fall mein Herz erleichtern. Und dabei geht es nicht um einen Hausanstrich. Den hat immer Jim bezahlt. Es ist deine neue Badewanne und die moderne Wasserleitung, die mir schwer auf der Seele liegen.«
Schlimmeres, viel Schlimmeres über alle möglichen Leute wußte Alice Akana zu berichten und berührte ebenso das Geschäfts-, Finanz- und Gesellschaftsleben der höheren Schichten wie auch die Angelegenheiten der einfachen Leute. Niemand stand hoch genug oder war zu tief gesunken, um ihr zu entgehen. Und nicht vor zwei Uhr morgens, vor einer Zuhörerschaft, die den Betsaal bis zum Bersten füllte, beendete sie die in alle Einzelheiten gehende Aufzählung der persönlichen Schandtaten, die sie den Bewohnern jener Stadt zur Last legen mußte, in der sie ihr ganzes Leben verbracht hatte. Gerade als sie aufhören wollte, fiel ihr noch etwas ein.
»Hah!« rümpfte sie die Nase. »Letzte Woche überschrieb ich Abel Ah Yo ein Grundstück, das einen Verkaufswert von achthundert Dollar hat, zur Deckung der laufenden Kosten und um mein Guthaben in Petrus’ himmlischen Kassenbüchern zu vermehren. Woher ich dieses Grundstück habe? Ihr alle meint, daß Fleming Jason ein guter Mann ist. Aber er hat Dinger gedreht, die krummer waren als die Einfahrt zu Pearl Lochs, ehe die Regierung der Vereinigten Staaten den Kanal begradigte. Jetzt hat er ein Leberleiden, doch seine Krankheit ist ein Gottesurteil, und er wird als unaufrichtiger Mann sterben. Mr. Fleming Jason gab mir das Grundstück vor zweiundzwanzig Jahren, als sein Verkaufswert fünfunddreißig Dollar betrug. Weil sein Aloha für mich so groß war? Nein, außer Geld liebte er nichts und niemanden.
Hört zu. Mr. Fleming Jason lud eine große Sünde auf mich. Als Frank Lomiloli in meinem Haus war, voll mit Gin, für den Mr. Fleming Jason mir im voraus das Fünffache zahlte, brachte ich Frank Lomiloli dazu, seinen Namen unter den Verkaufsvertrag für seinen städtischen Grundbesitz zu setzen. Der Preis betrug hundert Dollar, obwohl das Grundstück damals sechshundert wert war. Inzwischen ist es auf zwanzigtausend gestiegen. Vielleicht möchtet ihr wissen, wo sich diese Parzelle befindet. Ich will es euch sagen und es mir von der Seele schaffen. Sie liegt an der King Street, wo jetzt der Come Again Saloon, die Garage der japanischen Taxicab Company, das Installationsgeschäft von Smith & Wilson und die Eisdiele Ambrosia in dem noch zwei Stockwerke höheren Addison Hotel stehen. Und alles ist aus Holz und immer gut gestrichen. Gestern haben sie wieder mit dem Malen begonnen. Doch diese Farbe wird nicht zwischen mir und Gott stehen. Mein Weg zum Himmel wird durch keine weiteren Farbtöpfe mehr verstellt.«
Die Morgen- und Abendzeitungen des folgenden Tages verhängten eine skandalöse Nachrichtensperre über die sensationellste Neuigkeit seit Jahren. Aber ganz Honolulu kicherte entsetzt über die geflüsterten, nicht immer völlig übertriebenen Darstellungen, die überall, wo sich zwei Einwohner Honolulus begegneten, die Runde machten.
»Unser Fehler«, sagte Colonel Chilton im Club, »war, daß wir nicht von Anfang an eine Sicherheitskommission eingesetzt haben, um Alices Seele im Auge zu behalten.«
Bob Cristy, einer von den jüngeren Inselbewohnern, brach in ein derart anzügliches und lautes Gelächter aus, daß man ihn nach dem Grund fragte.
»Oh, nichts Besonderes«, lautete seine Antwort. »Aber ich hörte auf meinem Weg hierher, daß der alte John Ward soeben wegen Trunkenheit und Erregung öffentlichen Ärgernisses sowie Widerstandes gegen einen Polizisten festgenommen worden ist. Und jetzt nimmt Abel Ah Yo das Polizeigericht aufs Korn. Er würde die Seele eines chronischen Trunkenboldes bestimmt liebend gern retten.«
Colonel Chilton sah Lask Finneston an, und beide schauten sie zu Gary Wilkinson. Er erwiderte ihren Blick.
»Der alte Strandräuber!« rief Lask Finneston. »Dieser betrunkene alte Taugenichts! Es war mir ganz entfallen, daß er noch lebt. Wunderbare Konstitution. Hat nie einen nüchternen Atemzug getan, außer wenn er Schiffbruch erlitten hatte, und war, solange ich an ihn denken kann, bei jeder Teufelei dabei. Er muß jetzt auf die Achtzig zugehen.«
»Er ist nicht weit davon entfernt«, nickte Bob Cristy. »Treibt sich immer noch am Strand herum, trinkt, wenn das Geld dafür reicht, und ist geistig noch ganz auf der Höhe, wenn er auch nicht mehr so flink auf den Beinen ist und eine Brille zum Lesen braucht. Und sein Gedächtnis funktioniert noch einwandfrei. Wenn dieser Abel Ah Yo ihn einfängt.«
Gary Wilkinson räusperte sich, bevor er zu einer Rede ansetzte.
»Also, hier haben wir einen großartigen alten Mann«, sagte er. »Ein Überbleibsel einer längst vergangenen Ära. Es gibt nur noch wenige von seinem Schlag. Ein Pionier. Ein echter Kamaaina. Auf seine alten Tage nun hilflos und in den Händen der Polizei! Wir sollten etwas für ihn tun, in Anerkennung seiner treuen Verdienste um Hawaii. Seine alte Heimat ist, wie ich zufällig weiß, Sag Harbor. Er hat es seit mehr als einem halben Jahrhundert nicht mehr gesehen. Nun, weshalb sollten wir ihn morgen früh nicht damit überraschen, daß seine Strafe bezahlt ist und er eine Rückfahrkarte nach Sag Harbor und, sagen wir, die Kosten für eine Reise von einem Jahr geschenkt bekommt? Ich setze eine Kommission ein. Ich nominiere Colonel Chilton, Lask Finneston und, und mich. Was den Vorsitz angeht, wer wäre da geeigneter als Lask Finneston, der den alten Herrn früher so gut kannte? Da es keine Einwände gibt, ernenne ich hiermit Lask Finneston zum Vorsitzenden der Kommission zur Beschaffung von Geldmitteln zur Begleichung der Polizeistrafe und der Unkosten einer Jahresreise für den edlen Pionier John Ward in Anerkennung seines aufopferungsvollen Lebens, das ganz dem Aufbau Hawaiis gewidmet war.«
Es gab keinen Widerspruch.
»Die Kommission wird sich nun zur geheimen Beratung zurückziehen«, erklärte Lask Finneston, der sich mit diesen Worten erhob und den Weg zur Bibliothek wies.