»Man muß dieses Klima einfach lieben«, sagte Cudworth als Antwort auf mein Loblied auf die Küste von Kona. »Ich war ein junger Bursche, als ich vor achtzehn Jahren frisch von der Universität hierherkam. Ich bin niemals wieder nach Hause zurückgekehrt, von gelegentlichen Besuchen einmal abgesehen. Und ich warne Sie, wenn Sie irgendein Fleckchen auf dieser Erde haben, das Ihnen teuer ist, dann halten Sie sich nicht zu lange auf, sonst wird Ihnen das hier noch mehr ans Herz wachsen.«
Das Abendessen lag hinter uns; man hatte es auf dem großen Lanai serviert, dem einzigen, der der Nordseite ausgesetzt war, wenn auch »ausgesetzt« in so einem angenehmen Klima eine wahrhaft unpassende Bezeichnung ist.
Die Kerzen waren gelöscht, und ein schlanker, weißgekleideter Japaner glitt wie ein Geist durch das silberne Mondlicht, bot uns Zigarren an und verschwand im Dunkel des Bungalow. Ich blickte durch einen Wandschirm aus Bananenstauden und Eisenholzbäumen über das Guavengestrüpp hinweg auf das ruhige, etwa dreihundert Meter tiefer liegende Meer. Eine Woche lang, seit ich von dem winzigen Küstendampfer an Land gesetzt worden war, wohnte ich nun schon bei Cudworth, und während dieser Zeit hatte nicht ein Windhauch die glatte See gekräuselt. Zwar hatte hin und wieder eine Brise geweht, aber es waren die sanftesten Zephire, die je über Inseln des ewigen Sommers strichen. Es waren keine Windstöße; es waren Seufzer - lange, linde Seufzer einer ruhenden Welt.
»Ein Land des süßen Nichtstuns«, sagte ich.
»Wo ein Tag dem andern gleicht und jeder Tag paradiesisch ist«, entgegnete er. »Es geschieht nie etwas. Es ist nicht zu heiß. Es ist nicht zu kalt. Es ist immer angenehm. Haben Sie bemerkt, wie Land und Meer abwechselnd atmen?«
Dieses herrliche, rhythmische Atmen war mir tatsächlich aufgefallen. Jeden Morgen hatte ich die Seebrise beobachtet, die an der Küste begann, sich langsam über das Meer ausdehnte und dabei dem Land den mildesten, sanftesten Ozonhauch zufächelte. Sie strich spielerisch über das Meer und verdunkelte leicht seine Oberfläche, ließ je nach Laune hier und da und überall zwischen ihren Küssen lange Bahnen völliger Stille frei, die sie verschob, verwandelte und vor sich hertrieb. Und jeden Abend hatte ich beobachtet, wie sich der Atem des Meeres in einer himmlischen Ruhe verlor, und gehört, wie der Atem des Landes sich sanft seinen Weg durch die Kaffee- und Topffruchtbäume bahnte.
»Es ist ein Land immerwährender Stille«, sagte ich. »Kommt hier überhaupt jemals Wind auf? - Ein richtiger Wind? Sie wissen schon, was ich meine.«
Cudworth schüttelte den Kopf und zeigte nach Osten.
»Wie kann er wehen, wenn eine solche Barriere ihn abhält?«
Hoch über uns türmten sich die riesigen Bergstöcke des Mauna Kea und Mauna Loa und schienen den halben Sternenhimmel zu verschlucken. Mehr als viertausend Meter über unseren Köpfen erhoben sie ihre eigenen Häupter, weiß von jenem Schnee, den nicht einmal die Tropensonne zu schmelzen vermochte.
»Ich möchte wetten, daß es fünfzig Kilometer von hier in diesem Augenblick stürmt, und zwar mit einer Geschwindigkeit von fünfundsechzig Stundenkilometern.«
Ich lächelte ungläubig.
Cudworth ging zu dem Telefon auf dem Lanai. Er rief nacheinander Waimea, Kohala und Hamakua an. Bruchstücken seiner Unterhaltung konnte ich entnehmen, daß es dort tatsächlich blies: »Stürmisch mit starken Böen, ja?. Wie lange schon?. Erst seit einer Woche?. Hallo, bist du es, Abe?... Ja, ja. Du willst also Kaffee an der Hamakua-Küste pflanzen. Zum Teufel mit deinen Windabweisern! Du solltest meine Bäume sehen.«
»Es stürmt«, sagte er, als er den Hörer einhängte und sich zu mir umwandte. »Ich muß Abe einfach immer mit seinem Kaffee aufziehen. Er hat zweihundert Hektar bepflanzt und vollbringt in Sachen Windschutz wahre Wunder, aber wie er es anstellt, daß die Wurzeln in der Erde bleiben, ist mir ein Rätsel. Wind? Es geht immer ein Wind an der Küste von Hamakua. Kohala meldet einen Schoner, der unter doppelt gerefften Segeln in der Straße zwischen Hawaii und Maui kreuzt und schwer zu kämpfen hat.«
»Kaum zu glauben«, sagte ich ohne Überzeugungskraft. »Geschieht es denn nie, daß sich dort drüben ein kleines Lüftchen selbständig macht und hierher kommt?«
»Nicht ein Hauch. Unsere Landbrise hat überhaupt nichts damit zu tun, denn sie entsteht erst diesseits des Mauna Kea und des Mauna Loa. Sehen Sie, das Land strahlt seine Wärme schneller ab als die See, und deshalb atmet das Land des Nachts auf die See hinaus. Tagsüber erwärmt sich das Land stärker als die See, und so kehrt sich der Luftstrom um. Hören Sie! Da kommt jetzt der Atem des Landes, der Bergwind.«
Ich konnte ihn hören, wie er herankam, leise durch die Kaffeesträucher strich, die Topffruchtbäume bewegte und durch das Zuckerrohr seufzte. Auf dem Lanai war es noch still. Dann war er zum erstenmal zu spüren, der Bergwind, gelinde duftend, angenehm und würzig, und kühl, herrlich kühl, eine seidige Kühle, wie kühler Wein - so kühl, wie nur der Bergwind von Kona sein kann.
»Wundert es Sie noch, daß ich vor achtzehn Jahren mein Herz an Kona verlor?« fragte er. »Jetzt könnte ich nie mehr von hier fortgehen. Ich glaube, es wäre mein Tod. Es wäre schrecklich. Aber es gab einen anderen Menschen, der diesen Ort liebte, ebenso sehr liebte wie ich. Er liebte ihn wahrscheinlich sogar noch mehr, denn er war hier an der Küste von Kona geboren. Er war ein großartiger Mann, mein bester Freund, mir mehr als ein Bruder. Aber er ging fort und starb dennoch nicht.«
»Liebe?« erkundigte ich mich. »Eine Frau?«
Cudworth schüttelte den Kopf.
»Er wird auch niemals zurückkehren, obgleich sein Herz hier bleiben wird, bis er stirbt.«
Er hielt inne und starrte hinunter auf die Lichter am Strand von Kailua. Ich rauchte schweigend und wartete.
»Er liebte schon jemanden. seine Frau. Er hatte auch drei Kinder, und die liebte er ebenfalls. Sie sind jetzt in Honolulu. Der Junge besucht die Universität.«
»Eine Affekthandlung?« fragte ich nach einer Weile ungeduldig.
Er schüttelte den Kopf. »Er hat weder ein Verbrechen begangen, noch wurde er einer strafbaren Handlung beschuldigt. Er war Sheriff von Kona.«
»Sie haben wohl eine Vorliebe fürs Paradoxe«, sagte ich.
»Vermutlich klingt es so«, gab er zu, »und das ist gerade das Grausame daran.«
Er sah mich einen Augenblick prüfend an und begann dann plötzlich zu erzählen.
»Er hatte Lepra. Nein, er wurde nicht damit geboren - keiner wird damit geboren. Sie hat ihn befallen. Dieser Mann - ach, was liegt schon daran? Lyte Gregory war sein Name. Jeder Kamaaina kennt die Geschichte. Er war rein amerikanischer Abstammung, aber gebaut wie einst die Häuptlinge im alten Hawaii. Er maß einen Meter neunzig und wog ohne Kleider zweihundert Pfund, und davon bestand jedes Gramm aus schieren Muskeln und Knochen. Er war der kräftigste Mann, den ich je gesehen habe. Er war ein Athlet und ein Riese. Er war ein Gott. Er war mein Freund. Und sein Herz und seine Seele waren ebenso groß und prachtvoll wie sein Körper.
Was würden Sie wohl tun, wenn Sie zusehen müßten, wie Ihr Freund, Ihr Bruder, am schlüpfrigen Rand eines Abgrunds ausglitte und immer weiter abrutschte, und Sie nichts dagegen unternehmen könnten. Genauso war es. Ich konnte nichts dagegen tun. Ich sah es kommen und konnte nichts tun. Mein Gott, Mann! Was konnte ich denn tun? Da war es, bösartig und unleugbar, das Zeichen der Krankheit auf seiner Stirn. Kein anderer sah es. Ich allein sah es, davon bin ich überzeugt, weil ich ihn so liebte. Ich mochte meinen eigenen Augen nicht trauen. Es war einfach zu entsetzlich. Und doch war es da, auf seiner Stirn, an seinen Ohren. Ich hatte sie bemerkt, die leichte Schwellung der Ohrläppchen - ach, so leicht, kaum wahrnehmbar. Ich beobachtete sie über Monate hinweg. Dann als nächstes, während ich immer noch ein letztes Fünkchen Hoffnung hegte, färbte sich die Haut über beiden Augenbrauen dunkler - ach, ganz schwach nur, wie die Andeutung eines Sonnenbrandes. Ich hätte es für einen Sonnenbrand gehalten, wäre da nicht dieser Schimmer gewesen, so ein unmerklicher Schimmer, wie ein Glanzlicht, das man nur für einen Moment wahrnimmt und das im nächsten Augenblick schon wieder verschwunden ist. Ich versuchte, daran zu glauben, daß es nur ein Sonnenbrand sei, doch es gelang mir nicht. Ich wußte es besser. Keiner außer mir bemerkte es. Kein einziger, außer Stephen Kaluna, und das erfuhr ich erst später. Aber ich sah es kommen, in seiner ganzen verfluchten, unbeschreiblichen Schrecklichkeit; doch ich weigerte mich, an die Zukunft zu denken. Ich hatte Angst. Ich konnte es nicht. Und nachts weinte ich deswegen.
Er war mein Freund. Wir angelten zusammen Haie auf Niihau. Wir jagten wilde Rinder auf dem Mauna Kea und Mauna Loa. Wir ritten Pferde zu und drückten den jungen Stieren auf der Carter Ranch das Brandzeichen auf. Wir spürten die Ziegen auf dem Haleakala auf. Er brachte mir das Tauchen und Wellenreiten bei, bis ich fast so geschickt war wie er, und er war geschickter als die meisten Kanaken. Ich habe ihn fast dreißig Meter tief tauchen sehen, und er konnte zwei Minuten unten bleiben. Er war ein Amphibienwesen und ein Bergsteiger. Er konnte noch dort klettern, wo sich nur eine Ziege hinwagte. Er fürchtete sich vor nichts. Er war auf der Luga, als sie Schiffbruch erlitt und schwamm achtundvierzig Kilometer in sechsunddreißig Stunden bei schwerem Seegang. Er konnte sich durch Brecher hindurchkämpfen, die Sie und mich zu Brei zermalmen würden. Er war ein großartiger, strahlender Halbgott. Wir machten zusammen die Revolution mit. Beide waren wir romantische Königstreue. Er wurde zweimal angeschossen und zum Tode verurteilt. Aber er war ein zu großer Mann, als daß die Republikaner ihn hätten beseitigen können. Er lachte sie aus. Später erwiesen sie ihm die Ehre und machten ihn zum Sheriff von Kona. Er war ein einfacher Mensch, ein Junge, der nie erwachsen wurde. Er besaß kein kompliziertes Denkmuster. Seine Gedankengänge waren ohne Winkelzüge oder Spitzfindigkeiten. Er ging geradewegs auf eine Sache los, und seine Absichten waren immer leicht zu verstehen.
Und er war ein Optimist. Nie habe ich einen so zuversichtlichen Menschen mit einem so zufriedenen und glücklichen Naturell gekannt. Er verlangte nichts mehr vom Leben. Es gab nichts, was er sich noch wünschen konnte. Ihm war das Leben nichts schuldig geblieben. Es hatte ihn voll ausbezahlt, bar auf den Tisch und im voraus. Was konnte er sich mehr wünschen als einen prächtigen Körper, diese eiserne Konstitution, diese Widerstandskraft gegen alle gewöhnlichen Krankheiten, und diese durch und durch gesunde Seele?
Körperlich war er vollkommen. Er war nie im Leben krank gewesen. Er wußte nicht, was Kopfschmerzen sind. Wenn ich davon geplagt wurde, sah er mich immer verwundert an und brachte mich durch seine unbeholfenen Versuche, mir sein Mitgefühl zu zeigen, zum Lachen. So etwas wie Kopfschmerzen verstand er einfach nicht, konnte er nicht verstehen. Optimistisch? Kein Wunder. Wie konnte er auch anders sein bei dieser ungeheuren Lebenskraft und dieser sagenhaften Gesundheit?
Nur um Ihnen zu zeigen, wie fest er an seinen Glücksstern glaubte und wieviel Grund er auch zu diesem Glauben hatte, erzähle ich Ihnen folgende Geschichte. Er war damals ein junger Kerl - ich hatte ihn gerade kennengelernt -, als er bei einer Pokerrunde in Wailuku mitmachte. Zu der Runde gehörte auch ein dicker Deutscher namens Schultz, der brutal und selbstherrlich spielte. Noch dazu hatte er eine Glückssträhne gehabt und war ganz unerträglich, als Lyte Gregory dazukam und mitmachte. Gleich beim ersten Spiel gab Schultz den Einsatz vor. Lyte hielt mit, wie die anderen auch, und Schultz erhöhte so lange, bis sie paßten - alle, bis auf Lyte. Dem gefiel der Ton des Deutschen nicht, und er setzte dagegen. Daraufhin erhöhte Schultz, und Lyte überbot Schultz wieder. So ging es hin und her. Die Einsätze waren hoch. Und wissen Sie, was Lyte in der Hand hatte? Ein Paar Könige und drei niedrige Treffs. Das war kein Pokern. Lyte spielte nicht Poker. Er spielte seinen Optimismus aus. Er wußte nicht, was Schultz in der Hand hatte, aber er bot immer höher, bis er Schultz dazu brachte, nach neuen Karten zu fragen, und dabei hatte Schultz die ganze Zeit über drei Asse in der Hand. Stellen Sie sich das vor! Ein Mann mit einem Paar Könige zwingt drei Asse zum Kaufen.
Also gut, Schultz verlangte zwei neue Karten. Ein anderer Deutscher gab, obendrein ein Freund von Schultz. Da wußte Lyte, daß er gegen einen Dreierpasch spielte. Und was tat er?
Was hätten Sie getan? Drei Karten gekauft und natürlich die Könige behalten. Nicht so Lyte, er spielte ja seinen Optimismus aus. Er warf die Könige ab, behielt die drei niedrigen Treffs und zog zwei Karten. Er schaute sie sich nicht einmal an. Er sah zu Schultz hinüber und wartete auf dessen Einsatz, und Schultz setzte hoch. Da er selbst drei Asse besaß, wußte er, daß er Lyte schon in der Tasche hatte, denn er spielte gegen Lyte um drei gleiche Karten, und die mußten notgedrungen niedriger sein. Armer Schultz! Unter diesen Voraussetzungen hatte er ja völlig recht. Sein Irrtum war nur, daß er glaubte, Lyte spiele Poker. Fünf Minuten ging es hin und her, bis Schultz’ Sicherheit zu schwinden begann. Und die ganze Zeit über hatte Lyte noch keinen Blick auf seine beiden Karten geworfen, und Schultz wußte das. Ich konnte sehen, wie Schultz überlegte, neuen Mut faßte und noch höher einstieg. Doch die Spannung war zu groß für ihn.
>Hören Sie auf, Gregoryc, sagte er schließlich. >Ich hatte Sie schon von Anfang an geschlagen. Ich will nichts von Ihrem Geld. Ich habe - < >Es ist mir einerlei, was Sie haben, unterbrach ihn Lyte. >Sie wissen nicht, was ich habe. Ich denke, ich werd’ es mir jetzt einmal ansehen.
Das tat er und setzte noch weitere hundert Dollar gegen den Deutschen. Dann ging es wieder so weiter, hin und her und her und hin, bis Schultz nachgab, paßte und seine drei Asse hinlegte. Auch Lyte deckte seine fünf Karten auf. Sie waren alle schwarz. Er hatte noch zwei Treffs dazugekauft. Sie begreifen, daß er damit Schultz’ Poker-Nerv getroffen hatte. Der nämlich erreichte seine alte Form nie wieder. Danach fehlte es ihm einfach an Selbstvertrauen, und er war immer etwas unsicher.
>Aber wie war das nur möglich?< fragte ich Lyte hinterher. >Du wußtest doch, daß er dich geschlagen hatte, als er nur zwei Karten kaufte. Und außerdem hast du dir deine eigenen gar nicht angesehen.
>Ich brauchte sie nicht anzusehenc, entgegnete Lyte. >Ich wußte die ganze Zeit, daß es zwei Treffs waren. Es mußten einfach zwei Treffs sein. Glaubst du denn, ich wollte mich von diesem dicken Deutschen unterkriegen lassen? Unmöglich, daß er mich schlagen würde. Für gewöhnlich werde ich nicht besiegt. Ich muß einfach gewinnen. Also, es hätte für mich die größte Überraschung von der Welt bedeutet, wenn es nicht lauter Treffs gewesen wären.
So war Lyte, und vielleicht können Sie jetzt seinen ungeheuren Optimismus etwas besser begreifen. Wie er es darstellte, mußte er einfach Erfolg haben, gesund sein und vorwärtskommen. Und durch diesen Vorfall, wie auch durch zehntausend andere, sah er sich bestätigt. Die Sache war die, daß er tatsächlich Erfolg hatte, tatsächlich vorwärtskam. Das war der Grund, weshalb er sich vor nichts fürchtete. Ihm konnte einfach nie etwas zustoßen. Er wußte das, weil ihm noch nie etwas zugestoßen war. Damals, als die Luga untergegangen war und er achtundvierzig Kilometer weit schwamm, war er zwei volle Nächte und einen Tag im Wasser. Und während der ganzen Zeit verlor er nicht ein einziges Mal die Hoffnung, zweifelte nicht einen Augenblick an dem glücklichen Ausgang. Er wußte einfach, daß er es zum Land schaffen würde. Er hat es mir selbst erzählt, und ich bin sicher, daß es stimmte.
Ja, so ein Mensch war Lyte Gregory. Er war von anderem Schlag als die gewöhnlichen, geplagten Sterblichen. Er war ein göttliches Wesen, unberührt von alltäglichen Gebrechen und Mißgeschicken. Was er sich auch wünschte, er bekam es. Er eroberte seine Frau - eine Caruther, eine kleine Schönheit -, obwohl sich ein Dutzend Nebenbuhler um sie bewarben. Und sie widmete sich ganz ihm und wurde ihm die beste Frau von der Welt. Er wünschte sich einen Sohn, und er bekam ihn. Er wünschte sich eine Tochter und noch einen Sohn. Er bekam sie. Und sie waren prächtig, ohne Makel oder Fehler, mit Brustkästen wie kleine Fässer und mit dem ganzen Erbteil seiner eigenen Gesundheit und Kraft.
Und dann geschah es. Das Zeichen des Tieres wurde ihm aufgedrückt. Ich beobachtete es ein ganzes Jahr lang. Es brach mir das Herz. Aber er wußte es nicht, noch ahnte es sonst jemand, außer diesem verfluchten Hapa-baole Stephen Kaluna. Er wußte es, doch das wußte ich nicht. Und - ja -Doktor Strowbridge wußte es auch. Er war der Amtsarzt und hatte im Lauf der Zeit einen Blick für die Lepra entwickelt. Sie müssen wissen, daß es unter anderem zu seinen Aufgaben gehörte, Verdächtige zu untersuchen und sie in die Aufnahmestation von Honolulu zu schicken. Und Stephen Kaluna hatte ebenfalls einen Blick für die Lepra bekommen. Die Krankheit war in seiner Familie stark verbreitet, und vier oder fünf von seinen Verwandten befanden sich bereits auf Molokai.
Der ganze Verdruß fing mit Stephen Kalunas Schwester an. Als sie in Verdacht geriet, erkrankt zu sein, schaffte ihr Bruder sie fort und versteckte sie, ehe Dr. Strawbridge sie untersuchen konnte. Lyte war Sheriff von Kona, und es war seine Pflicht, sie aufzustöbern.
Wir waren an diesem Abend alle drüben in Hilo bei Ned Austin. Als wir hereinkamen, saß Stephen Kaluna schon da, allein, betrunken und streitsüchtig. Lyte lachte über irgendeinen Witz - lachte dieses gewaltige, glückliche Lachen eines Riesenjungen. Kaluna spuckte verächtlich auf den Fußboden. Lyte bemerkte es wie alle anderen auch, beachtete den Kerl jedoch nicht. Kaluna suchte Streit. Er empfand es als eine persönliche Beleidigung, daß Lyte seine Schwester festnehmen wollte. Er zeigte auf ein halbes Dutzend verschiedene Arten sein Mißfallen über Lytes Anwesenheit, aber Lyte ignorierte ihn einfach. Ich vermutete, daß er Lyte wohl ein bißchen leid tat, denn das Festnehmen von Leprakranken war die schwerste Bürde seines Amtes. Es war nicht angenehm, in das Haus eines Menschen zu gehen, einen Vater, eine Mutter oder ein Kind herauszuholen, die nichts Unrechtes getan hatten, und so jemanden in die ewige Verbannung nach Molokai zu schicken. Natürlich ist es zum Schutz der Gesellschaft notwendig, und Lyte, davon bin ich fest überzeugt, wäre der erste gewesen, der seinen eigenen Vater festgenommen hätte, wenn er verdächtigt worden wäre.
Schließlich platzte Kaluna heraus: >Hören Sie, Gregory, Sie glauben, daß Sie Kalaniweo finden werden, aber das werden Sie nicht!<
Kalaniweo war seine Schwester. Lyte blickte zu ihm hin, als sein Name fiel, antwortete aber nicht. Kaluna war wütend. Er steigerte sich immer mehr in seinen Zorn hinein.
>Eins will ich Ihnen sagen! < rief er. >Bevor Sie Kalaniweo dorthin bringen, werden Sie sich selbst auf Molokai wiederfinden. Ich will Ihnen sagen, was Sie sind. Sie haben kein Recht, sich in der Gesellschaft ehrlicher Leute aufzuhalten. Sie haben furchtbar viel von Ihrer Pflicht geredet, nicht wahr? Sie haben viele Aussätzige nach Molokai geschickt und wußten dabei die ganze Zeit, daß Sie selbst dorthin gehören.<
Ich hatte Lyte mehr als einmal wütend gesehen, aber nie so wütend wie in diesem Augenblick. Über Lepra, müssen Sie wissen, scherzt man bei uns nicht. Er machte einen Satz quer durch den Raum, packte Kaluna am Kragen und zog ihn von seinem Stuhl hoch. Er schüttelte ihn wild hin und her, bis man die Zähne des Mischlings klappern hörte.
>Was meinen Sie damit?< fragte Lyte. >Heraus damit, Mann, oder ich werde Sie so lange würgen, bis Sie’s ausspucken!<
Sie wissen, daß es im Westen eine bestimmte Redensart gibt, die man nur mit einem Lächeln über die Lippen bringen darf. So ist es auch bei uns auf den Inseln, nur geht es bei unserer Redensart um den Aussatz. Was Kaluna auch immer sein mochte, ein Feigling war er nicht. Sobald Lyte den Griff um seinen Hals lockerte, antwortete er:
>Ich werde Ihnen sagen, was ich meine. Sie sind selbst ein Aussätziger.<
Lyte stieß den Mischling plötzlich seitwärts in einen Stuhl, wobei er noch recht schonend mit ihm umging. Dann brach er in ein aufrichtiges, herzliches Lachen aus. Aber er lachte ganz allein, und als er das merkte, blickte er sich um und sah in unsere Gesichter. Ich war an seine Seite getreten und versuchte, ihn zum Fortgehen zu bewegen, aber er nahm keine Notiz von mir. Er starrte wie gebannt auf Kaluna, der sich verwirrt und nervös über den Hals strich, als wolle er die Ansteckung durch die Finger, die ihn umklammert hatten, abwischen. Die Bewegung war nicht bedacht, völlig unwillkürlich.
Lyte wandte sich zu uns um; langsam wanderte sein Blick von einem Gesicht zum anderen.
>Mein Gott, Freunde! Mein Gott!< sagte er.
Er sprach diese Worte nicht, es war mehr ein heiseres Flüstern des Schreckens und Grauens. Es war Furcht, die in seiner Kehle zitterte, und ich glaube nicht, daß er je zuvor in seinem Leben Furcht gekannt hatte.
Dann aber brach sein ungeheurer Optimismus durch, und er lachte wieder.
>Ein guter Witz - wer auch immer ihn sich ausgedacht hat<, sagte er. >Ich gebe eine Runde aus. Für einen Augenblick habt ihr mir einen ganz schönen Schrecken eingejagt. Aber macht das nie wieder, Freunde, mit keinem. Es ist zu ernst. Ich sage euch, in diesem Moment bin ich tausend Tode gestorben. Ich dachte an meine Frau, meine Kinder und.. .<
Die Stimme versagte ihm, und der Mischling, der sich immer noch den Hals abwischte, zog seinen Blick auf sich. Er war verwirrt und beunruhigt.
>John<, sagte er und wandte sich zu mir.
Seine heitere, volltönende Stimme klang mir in den Ohren. Aber ich konnte nicht antworten. Ich mußte in diesem Augenblick schwer schlucken, und außerdem wußte ich, daß mein Gesichtsausdruck mich verraten würde.
>John<, rief er noch einmal und kam einen Schritt näher.
Es klang ängstlich, und von allen schrecklichen Alpträumen war dies der schlimmste: Ängstlichkeit in Lyte Gregorys Stimme zu hören.
John, John, was soll das heißen?< fuhr er noch furchtsamer fort. >Es ist doch ein Scherz, nicht wahr? John, hier ist meine Hand. Wenn ich ein Aussätziger wäre, würde ich dir dann meine Hand reichen? Bin ich ein Aussätziger, John?<
Er hielt mir seine Hand hin, und was, zum Teufel, kümmerte es mich? Er war mein Freund. Ich nahm seine Hand, obwohl es mir ins Herz schnitt, zu sehen, wie sich sein Gesicht erhellte.
>Es war nur ein Scherz, Lyte<, sagte ich. >Wir haben uns einen Spaß mit dir erlaubt. Aber du hast recht. Es ist zu ernst. Wir werden es nicht wieder tun.<
Diesmal lachte er nicht. Er lächelte wie ein Mensch, der aus einem bösen Traum erwacht und immer noch unter dem Eindruck dieses Traumes steht.
>Na gut<, meinte er. >Aber macht so etwas nicht noch einmal, und ich werde euch eine Runde spendieren. Ich kann euch sagen, daß ihr Burschen mich für einen Augenblick ganz schön aus der Fassung gebracht habt. Seht nur, wie ich schwitze.<
Er seufzte und wischte sich den Schweiß von der Stirn, während er sich anschickte, zur Bar zu gehen.
>Es ist kein Scherz<, sagte Kaluna plötzlich.
Ich sah ihn mordlüstern an, und ich hätte ihn auch wirklich umbringen können. Doch ich wagte weder zu sprechen noch zuzuschlagen. Das hätte die Katastrophe nur beschleunigt, und ich hatte ja immer noch die unsinnige Hoffnung, sie abwenden zu können.
>Es ist kein Scherz<, wiederholte Kaluna. >Sie sind ein Aussätziger, Lyte Gregory, und Sie haben nicht das Recht, mit Ihren Händen den Körper anständiger Menschen zu berühren -den gesunden Körper anständiger Menschen.<
Da ging Gregory hoch.
>Der Spaß ist jetzt weit genug gegangen! Hören Sie auf damit! Hören Sie auf damit, sag’ ich, Kaluna, oder ich verpasse Ihnen eine Tracht Prügel!<
>Lassen Sie zuerst eine bakteriologische Untersuchung machen<, entgegnete Kaluna, >dann können Sie mich zusammenschlagen - totschlagen, wenn Sie wollen. Mann, schauen Sie sich doch dort im Spiegel an. Sie können es sehen. Jeder kann es sehen. Sie bekommen schon das Löwengesicht. Haben Sie nicht bemerkt, daß die Haut dort über den Augenbrauen dunkler geworden ist?<
Lyte starrte und starrte, und ich sah, wie seine Hände zitterten.
>Ich kann nichts feststellen<, sagte er schließlich und wandte sich zu dem Hapa-haole um. >Sie haben eine schwarze Seele, Kaluna. Und ich schäme mich nicht, Ihnen zu sagen, daß Sie mir einen Schrecken eingejagt haben, den kein Mensch einem anderen einjagen darf. Ich nehme Sie beim Wort. Ich werde der Sache sofort auf den Grund gehen. Ich gehe jetzt gleich zu Doktor Strowbridge. Und wenn ich zurückkomme, dann nehmen Sie sich in acht!<
Er sah uns nicht mehr an, sondern steuerte auf die Tür zu. >Warte hier, John<, sagte er und hielt mich mit einer Handbewegung zurück, als ich ihn begleiten wollte.
Wir standen da wie eine Schar von Gespenstern.
>Es ist die Wahrheit<, sagte Kaluna. >Sie konnten sich mit eigenen Augen davon überzeugen.<
Sie schauten mich an, und ich nickte. Harry Burnley hob sein Glas an die Lippen, setzte es aber wieder ab, ohne getrunken zu haben. Dabei vergoß er die Hälfte über den Tresen. Seine Lippen zitterten wie bei einem Kind, das gleich weinen wird. Ned Austin rumorte im Eisschrank herum. Er suchte nichts Bestimmtes. Ich glaube, er wußte gar nicht, was er tat. Keiner sagte etwas. Harry Burnleys Lippen bebten noch heftiger als zuvor. Mit einer fürchterlichen, haßerfüllten Miene versetzte er Kaluna plötzlich einen Faustschlag ins Gesicht. Und er schlug weiter zu. Wir machten keinen Versuch, sie zu trennen. Es war uns einerlei, ob er den Mischling tötete. Es war eine schreckliche Prügelei. Aber uns interessierte es nicht. Ich kann mich nicht einmal mehr erinnern, wann Burnley aufhörte und dem armen Teufel erlaubte, sich aus dem Staub zu machen. Wir waren alle viel zu verstört.
Doktor Strowbridge hat mir später erzählt, wie es bei ihm zuging. Er saß noch spät über einem Bericht, als Lyte sein Sprechzimmer betrat. Lyte hatte bereits seinen Optimismus wiedergewonnen und kam voller Schwung herein; zwar ein bißchen verärgert über Kaluna, gewiß, aber ganz selbstsicher. >Was sollte ich tun?< fragte der Doktor mich. >Ich wußte ja, daß er es hatte. Ich hatte es seit Monaten kommen sehen. Ich konnte ihm nicht antworten. Ich konnte nicht ja sagen. Ich schäme mich auch nicht, Ihnen zu erzählen, daß ich die Fassung verlor und zu weinen anfing. Er bat mich inständig um den bakteriologischen Test. ,Schnippeln Sie ein Stück heraus, Doktor’, sagte er immer wieder. , Schnippeln Sie ein Stückchen Haut heraus und machen Sie den Test.‘<
Daß Dr. Strowbridge in Tränen ausbrach, mußte Lyte überzeugt haben. Am nächsten Morgen fuhr die Claudine nach Honolulu ab. Wir erwischten ihn noch, als er gerade an Bord ging. Er wollte nämlich nach Honolulu, um sich selbst der Gesundheitsbehörde zu stellen. Wir konnten nichts bei ihm ausrichten. Er hatte zu viele nach Molokai geschickt, um jetzt selbst hierbleiben zu können. Wir versuchten ihn dazu zu überreden, nach Japan zu fahren. Doch davon wollte er nichts hören. >Ich muß meine Medizin schlucken, Freund< war alles, was er darauf entgegnete, und er sagte es immer wieder. Er war wie besessen von dem Gedanken.
Er regelte alle seine Angelegenheiten von der Aufnahmestation in Honolulu aus und fuhr dann nach Molokai. Dort ging es ihm nicht gut. Der auf der Insel wohnende Arzt schrieb uns, daß er nur noch ein Schatten seiner selbst sei. Er sorgte sich um seine Frau und die Kinder, wissen Sie. Zwar wußte er, daß wir uns ihrer annahmen, aber trotzdem schmerzte es ihn. Nach einem halben Jahr etwa fuhr ich nach Molokai. Ich saß auf einer Seite eines verglasten Schalterfensters, er auf der anderen. Wir sahen uns durch die Glasscheibe an und redeten durch eine Art Sprachrohr miteinander. Aber es war hoffnungslos. Er hatte sich entschlossen zu bleiben. Vier endlose Stunden lang versuchte ich, ihn umzustimmen. Am Ende war ich erschöpft. Außerdem signalisierte mein Dampfer seine Abfahrt.
Aber wir konnten das nicht einfach so hinnehmen. Drei Monate später charterten wir den Schoner Halcyon. Er war ein Opiumschmuggler und segelte wie der Teufel. Sein Kapitän war ein Skandinavier, der für Geld zu allem bereit war, und wir mieteten ihn für eine Fahrt nach China, bei der er auf seine Kosten kam. Er fuhr von San Francisco los, und ein paar Tage später stachen wir mit der Schaluppe von Landhouse in See. Sie war nur eine Jacht von fünf Tonnen, aber wir trieben sie fünfzig Meilen gegen den Wind in den Nordostpassat hinein. Seekrank? Ich habe in meinem ganzen Leben noch nie so gelitten. Als das Land außer Sicht war, trafen wir auf die Halcyon, und Burnley und ich gingen an Bord.
Wir nahmen Kurs auf Molokai, wo wir gegen elf Uhr nachts ankamen. Der Schoner drehte bei, und wir ruderten mit einem Walfängerboot durch die Brandung nach Kalawao - das ist der Ort, wo Pater Damien starb, wissen Sie. Dieser Skandinavier war gleich mit von der Partie. Mit einem Paar Revolvern, die er sich umgeschnallt hatte, schloß er sich uns an. Alle drei marschierten wir nun über die Halbinsel nach Kalaupapa, eine Strecke von etwa drei Kilometern. Stellen Sie sich vor, Sie sollten mitten in der Nacht in einer Kolonie von über tausend Aussätzigen nach einem Mann suchen. Wenn Alarm geschlagen wurde, verstehen Sie, dann wäre es mit uns ausgewesen. Es war unbekanntes Gelände und stockdunkle Nacht. Die Hunde der Aussätzigen kamen heraus und bellten uns an, und wir stolperten umher, bis wir nicht mehr weiterwußten.
Der Skandinavier fand schließlich eine Lösung. Er führte uns in die erste einzeln stehende Hütte. Wir schlossen die Tür hinter uns und machten Licht. Sechs Aussätzige lagen drinnen. Wir holten sie aus ihren Betten, und ich redete in der Eingeborenensprache mit ihnen. Was ich brauchte, war ein Kokua. Ein Kokua ist, wörtlich übersetzt, ein Helfer, ein Eingeborener, der gesund ist, der in der Kolonie wohnt und von der Gesundheitsbehörde bezahlt wird, um die Aussätzigen zu pflegen, ihre Wunden zu verbinden und dergleichen mehr. Wir blieben im Haus, um die Bewohner im Auge zu behalten, während der Skandinavier einen von ihnen mitnahm, um einen Kokua zu finden. Das gelang ihm auch, und er brachte ihn mit dem Revolver im Anschlag zu uns herüber. Doch der Kokua war in Ordnung. Während der Skandinavier auf das Haus aufpaßte, führte der Kokua Burley und mich zu Lytes Behausung. Er war ganz allein.
>Ich dachte mir schon, daß ihr kommen würdet<, sagte Lyte. >Rühr mich nicht an, John. Wie geht’s Ned und Charley und der ganzen Bande? Laß nur, erzähl’ es mir später. Ich bin jetzt bereit mitzukommen. Ich habe inzwischen neun Monate hinter mir. Wo ist das Boot?<
Wir machten uns auf den Rückweg zu dem anderen Haus, um den Skandinavier mitzunehmen. Doch da war schon Alarm gegeben worden. In den Häusern gingen die Lichter an, und Türen wurden geschlagen. Wir hatten ausgemacht, nicht zu schießen, wenn es nicht unbedingt notwendig war, und als wir aufgehalten wurden, gingen wir mit den Fäusten und Revolverknäufen auf sie los. Ich geriet in ein Handgemenge mit einem großen Mann. Obwohl ich ihm zweimal ziemlich kräftig mit der Faust ins Gesicht schlug, konnte ich ihn mir nicht vom Leibe halten. Er umklammerte mich, und wir fielen beide hin, wälzten uns auf dem Boden, schlugen um uns und versuchten, uns gegenseitig zu packen. Er hatte mich schon fast überwältigt, als jemand mit einer Laterne herbeigerannt kam. Da sah ich sein Gesicht. Wie soll ich diesen grauenhaften Anblick beschreiben! Das war kein Gesicht mehr - nur verwüstete oder der Verwüstung preisgegebene Züge: eine lebendige Verwesung, ohne Nase, ohne Lippen und mit einem Ohr, das geschwollen und verunstaltet auf seine Schulter herabhing. Ich war außer mir. Bei einer Umklammerung drückte er mich so fest an sich, daß mir dieses Ohr ins Gesicht klatschte. Da habe ich wohl den Verstand verloren. Es war einfach zu entsetzlich. Ich begann mit meinem Revolver auf ihn einzuschlagen. Wie es geschah, weiß ich nicht, aber gerade, als ich von ihm freikam, schnappte er mit seinen Zähnen nach mir. Meine ganze Handkante steckte in seinem lippenlosen Mund. Da schlug ich ihm mit dem Revolverknauf genau zwischen die Augen, und seine Zähne ließen los.«
Cudworth zeigte mir seine Hand im Mondlicht, und ich konnte die Narben erkennen. Sie sah aus wie von einem Hund zerbissen.
»Hatten Sie denn keine Angst?« fragte ich.
»Und ob. Sieben Jahre wartete ich. So lange dauert es nämlich, bis die Krankheit zum Ausbruch kommt. Ich wartete hier in Kona, und nichts passierte. Aber es verging kein Tag und keine Nacht in diesen sieben Jahren, in denen ich mir nicht all das hier immer wieder anschaute.« Die Stimme versagte ihm, als er seinen Blick von der im Mondlicht gebadeten See zu den schneebedeckten Gipfeln schweifen ließ. »Ich könnte den Gedanken nicht ertragen, das alles zu verlieren, Kona nie wiederzusehen. Sieben Jahre! Ich blieb gesund. Aber das ist der Grund, weshalb ich allein lebe. Ich war verlobt. Ich durfte es nicht wagen zu heiraten, solange ein Zweifel bestand. Sie hat es nicht verstanden. Sie ging in die Staaten und heiratete dort. Ich habe sie seither nicht wiedergesehen.
Gerade in dem Augenblick, als ich von dem aussätzigen Polizisten freikam, hörte ich Lärm und Hufeklappern wie bei einer Kavallerieattacke. Es war der Skandinavier. Er hatte Schwierigkeiten befürchtet und die Zeit genutzt, um von diesen verflixten Aussätzigen, die er bewachte, vier Pferde satteln zu lassen. Wir waren bereit. Lyte hatte drei Kokuas erledigt, und gemeinsam befreiten wir Burnley von etlichen anderen. Inzwischen war die ganze Kolonie in Aufruhr geraten, und als wir davonstürmten, eröffnete jemand mit einer Winchester das Feuer auf uns. Es muß Jack McVeigh, der Oberaufseher von Molokai, gewesen sein.
Das war ein Ritt! Mit Pferden von Aussätzigen, Sätteln von Aussätzigen, Zügeln von Aussätzigen, stockfinstere Nacht, pfeifende Kugeln und eine Straße, die nicht gerade die beste war. Und das Pferd des Skandinaviers war ein Maulesel, und reiten konnte er auch nicht. Aber wir schafften es zum Walfängerboot, und als wir durch die Brandung vom Land abstießen, konnten wir die Pferde hören, die den Hügel von Kalaupapa heruntergeschnaubt kamen.
Sie fahren doch nach Shanghai. Suchen Sie Lyte Gregory auf. Er ist dort bei einer deutschen Firma angestellt. Laden Sie ihn zum Essen ein. Bestellen Sie Wein. Geben Sie ihm von allem das Beste, aber lassen Sie ihn nichts bezahlen. Die Rechnung schicken Sie mir. Seine Frau und die Kinder sind in Honolulu, und er braucht sein Geld für sie. Ich weiß es. Er schickt ihnen den größten Teil seines Gehaltes und lebt selbst wie ein Einsiedler. Und erzählen Sie ihm von Kona. Erzählen Sie ihm so viel wie möglich von Kona.«