DIE STERBLICHEN ÜBERRESTE KAHEKILIS

Über die hohen Koolau-Berge hinweg hatten sich ein paar Ausläufer des Passats verirrt, bewegten leicht die starren Bananenblätter, rauschten in den Palmen und brachten das zartblättrige Laub der Algoraba-Bäume zum Wispern. Nur in Abständen atmete die Natur so auf, denn ein Atmen war es, das Seufzen eines trägen hawaiischen Nachmittags. In den Pausen zwischen den sanften Atemzügen wurde die Luft schwer und würzig von dem Duft der Blumen und den Ausdünstungen der fetten, lebendigen Erde.

In der Nähe des niedrigen, bungalowartigen Hauses hielten sich viele Menschen auf, aber nur ein einziger schlief. Die übrigen schlichen auf Zehenspitzen umher und waren mucksmäuschenstill. Hinter dem Haus ließ ein kleines Kind ein dünnes, klägliches Wimmern hören, das selbst die hastig dargereichte Brust nicht zu beschwichtigen vermochte. Die Mutter, eine schlanke Hapa-Haole [Halbblut] im lose fallenden Holoku aus weißem Musselin eilte unter den Bananenstauden und Papaya-Bäumen davon, um das weinende Kind außer Hörweite zu bringen. Andere Frauen, Hapa-Haoles und reinrassige Eingeborene, sahen ihr besorgt nach, als sie das Weite suchte.

Vor dem Haus saßen zwanzig Hawaiianer im Gras. Allesamt kräftige Männer, muskulös und breitschultrig. Braunhäutig, mit leuchtenden braunen und schwarzen Augen, offenen und ebenmäßigen Zügen sahen sie ganz so aus, als seien sie ebenso freundlich, heiter und sanftmütig wie das Klima. Zu all dem schien ihre wilde Aufmachung im Widerspruch zu stehen. Aus ihren klobigen Ledergamaschen ragten die Griffe langer Messer. An den Hacken trugen sie großrädrige spanische Sporen. Wie eine Bande von Straßenräubern hätten sie ausgesehen, wären da nicht die Blumenkränze und die duftenden Maile gewesen, die ihre breitkrempigen Hüte krönten und so gar nicht zu dem übrigen Bild passen wollten. Einer von ihnen, der die köstliche, spitzbübische Schönheit eines Fauns und ebensolche Augen besaß, hatte sich eine flammendrote gefüllte Hibiskusblüte kokett hinters Ohr gesteckt. Eine Poinciana regia, die über ihren Köpfen wuchs, bot mit ihrem weitausladenden, schattenspendenden Baldachin

- einem Flammenmeer scharlachroter Blüten, aus denen kleine Quasten gefiederter Staubfäden hingen - Schutz vor der Sonne. Von weit her und durch die Entfernung gedämpft, drang das schwache Stampfen ihrer angeleinten Pferde herüber. Aller Augen waren gespannt auf den einsamen Schläfer gerichtet, der etwa dreißig Meter entfernt unter den Johannisbrotbäumen rücklings auf einer Lauhala-Matte lag -Waren die hawaiischen Cowboys schon groß, so übertraf der Schläfer sie noch. Auch war er, wie sein schneeweißes Haar und sein Bart bezeugten, viel älter als sie. Der Umfang seiner Handgelenke und die kräftigen, langen Finger ließen seine mächtige Gestalt ahnen, die unter den weiten Kattunhosen und dem offenen, knopflosen Hemd verborgen war, das einen Brustkasten freigab, dessen dichtes Haarkleid ebenso weiß wie das Kopf- und Barthaar des Mannes war. Die Tiefe und Breite dieses Brustkorbes, seine Spannkraft und die jetzt gelösten, gut entwickelten Muskeln zeugten von der knorrigen Kraft, die immer noch in ihm steckte. Im übrigen konnte auch keine Sonnenbräune und Wettergegerbtheit verbergen, was seine Haut verriet, daß er durch und durch Haole - ein Weißer - war.

Er lag auf dem Rücken, und mit jedem Atemzug hob und senkte sich sein langer weißer, von keinem Barbier gestutzter, himmelwärts ragender Bart, während sich die weißen Schnurrbarthaare wie die Borsten eines Stachelschweins beim Ausatmen rhythmisch sträubten und bei jedem Luftholen wieder anlegten. Ein junges, vierzehnjähriges, nur mit einem einfachen langen Hemd oder Muumuu bekleidetes Mädchen, eine Enkelin des Schläfers, kauerte neben ihm und verscheuchte mit einem Federwedel die Fliegen. Ihr Gesichtsausdruck verriet Besorgtheit, Nervosität und Ehrfurcht, als diene sie einem Gott.

Und wirklich war Hardman Pool, der schnauzbärtige Schläfer, für sie, wie auch für viele andere, ein Gott, eine Quelle des Lebens, eine Quelle der Nahrung und ein Born der Weisheit, ein Gesetzgeber, freundlicher Wohltäter, aber auch die Düsternis von Donner und Strafe - kurz, ein Gebieter, dessen Zeugungskraft vierzehn erwachsene Söhne und Töchter, sechs Urenkel und mehr Enkel, als er in seinen lichtesten Momenten aufzählen konnte, unter Beweis stellten.

Vor einundfünfzig Jahren war er mit einem offenen Boot in Laupahoehoe an der Luvküste Hawaiis gelandet. Das Boot war alles, was von dem Walfänger Black Prince aus New Bedford übriggeblieben war. Er selbst stammte aus New Bedford, war zwanzig Jahre alt und hatte, dank seiner Energie und Geschicklichkeit, als zweiter Steuermann auf dem untergegangenen Walfänger Dienst getan. Als er nach Honolulu kam und sich nach einer neuen Tätigkeit umsah, hatte er zuerst Kalama Kamaiopili geheiratet, dann als Lotse im Hafen von Honolulu gearbeitet, später eine Kneipe und ein Gästehaus eröffnet und sich schließlich, nach dem Tod von Kalamas Vater, auf dem ausgedehnten Weideland, das sie geerbt hatte, auf die Viehzucht verlegt.

Mehr als ein halbes Jahrhundert hatte er unter den Hawaiianern gelebt, und jeder gestand ihm zu, daß er ihre Sprache besser kannte als die meisten von ihnen selbst. Durch seine Ehe mit Kalama hatte er nicht nur ihren Grundbesitz, sondern auch ihren Häuptlingsrang erheiratet, und die Lehenstreue, zu der ihr das Volk kraft ihrer Abstammung verpflichtet war, wurde auch ihm erwiesen. Dazu kam, daß er selbst alle natürlichen Attribute eines Häuptlings besaß: die hünenhafte Gestalt, die Furchtlosigkeit, den Stolz und das hitzige Naturell, das keine Unverschämtheit, keine Beleidigung duldete, das selbst von der höchsten Machtentfaltung, die auf zwei Beinen daherkam, nicht eingeschüchtert werden konnte und das sich geringere Menschen nicht etwa durch irgendwelche unwürdigen Macht- oder Geldmittel, sondern durch eine leutselige Freigebigkeit verpflichten konnte, auf die auch ohne große Worte Verlaß war. Er kannte seine Hawaiianer in- und auswendig, kannte sie besser, als sie sich selbst - ihre polynesische Weitschweifigkeit, ihr redliches Wesen, ihre Gebräuche und ihre Geheimnisse.

Und mit einundsiebzig lag er jetzt, nach einem ausgedehnten Morgenritt über das Weidegebiet, zu dem er um vier Uhr aufgebrochen war, unter den Johannisbrotbäumen und hielt seine gewohnte Siesta, die kein Untergebener zu stören wagte oder einem Standesgenossen des großen alten Mannes zu stören gestattet hätte. Nur dem König war ein solches Recht eingeräumt, doch auch der König mußte schon bald die Erfahrung machen, daß eine Unterbrechung von Hardman Pools Siesta nur dazu führte, einen sehr gereizten und verdrießlichen Hardman Pool aus dem Schlaf zu reißen, der ihm geradeheraus unangenehme, aber wahre Dinge ins Gesicht sagen würde, die kein König gerne hörte.

Die Sonne brannte herunter. In der Ferne stampften die Pferde. Zwischen immer ausgedehnteren Abschnitten der Windstille seufzte und raschelte das schwächer werdende Passatlüftchen. Der Duft wurde schwerer. Die Frau brachte jetzt das Kind, das sich wieder beruhigt hatte, hinter das Haus zurück. Die Johannisbrotbäume rollten ihre Blätter ein und fielen in der milden Luft ihrerseits in ein Mittagsschläfchen. Das Mädchen, nach wie vor von der ungeheuren Gewichtigkeit ihres Amtes überwältigt, wedelte weiter die Fliegen fort; und die zwanzig Cowboys sahen ihr dabei immer noch aufmerksam und schweigend zu.

Hardman Pool erwachte. Das nächste, im langsamen Rhythmus anstehende Ausatmen fand nicht statt. Und auch der lange weiße Schnurrbart hob sich nicht. Statt dessen blähten sich die Wangen unter dem Schnauzbart, die Lider hoben sich und gaben blaue, cholerische und sofort völlig klar blickende Augen frei; die rechte Hand griff nach der halb aufgerauchten Pfeife neben sich, während die Linke nach den Streichhölzern tastete.

»Bring mir meinen Gin mit Milch«, befahl er auf hawaiisch dem kleinen Mädchen, das, durch sein Erwachen erschreckt, ins Zittern geraten war.

Er steckte sich die Pfeife an, schien aber die Anwesenheit seiner wartenden Gefolgsleute erst zu bemerken, als ihm das Glas Gin mit Milch gebracht und von ihm geleert worden war.

»Nun?« fragte er plötzlich und wischte sich in der darauffolgenden Pause, als zwanzig Gesichter sich zu einem Lächeln verzogen und zwanzig dunkle Augenpaare freudig und wohlmeinend aufleuchteten, die letzten Tropfen Gin und Milch von seinen behaarten Lippen. »Warum sitzt ihr hier herum? Was wollt ihr? Kommt her zu mir.«

Zwanzig meist junge Riesen erhoben sich und schritten mit lautem Sporengeklirr zu ihm hinüber. Sie stellten sich vor ihm im Halbkreis auf, versuchten schüchtern, sich nicht mit den Schultern ins Gehege zu kommen. Ihre Gesichter lächelten entschuldigend und drückten gleichzeitig eine unabsichtliche und unbewußte Vertraulichkeit aus. Denn tatsächlich war Hardman Pool für sie mehr als nur ein Häuptling. Er war ihr älterer Bruder, ihr Vater oder ihr Patriarch, und er war, durch seine Frau und durch die Heiraten seiner vielen Kinder und Kindeskinder nach hawaiischer Gepflogenheit auf die eine oder andere Art mit ihnen allen verwandt. Das leichteste Runzeln seiner Stirn vermochte sie zu verwirren, sein Zorn sie in Angst zu versetzen, sein Befehl sie dem sicheren Tod anheimzugeben, und doch hätte andererseits keiner je daran gedacht, ihn anders als vertraulich mit seinem Vornamen >Hardman< anzusprechen, der in ihrer Sprache zu Kanaka Oolea umgewandelt worden war.

Auf sein Nicken hin setzte sich der Halbkreis in das Manienie-Gras und wartete mit weiterhin entschuldigendem Lächeln, bis es ihm genehm sei.

»Was wollt ihr?« fragte er auf hawaiisch mit einer, wie sie wußten, nur aufgesetzten Schroffheit und Strenge.

Sie lächelten noch breiter und drehten und wendeten ihre ausladenden Schultern und Oberkörper so anmutig wie junge Hunde, die sich bei ihrem Herrn einschmeicheln und ihn beschwichtigen wollen. Hardman Pool griff sich einen von ihnen heraus.

»Nun, Iliiopoi, was willst du denn?«

»Zehn Dollar, Kanaka Oolea.«

»Zehn Dollar!« rief Pool, scheinbar entsetzt über die Nennung einer so ungeheuren Summe. »Soll das heißen, daß du dir eine zweite Frau nehmen willst? Denk an das, was die Missionare lehren. Immer nur eine Frau auf einmal, Iliiopoi, immer nur eine. Denn wer sich mehrere Frauen nimmt, kommt ganz sicher in die Hölle.«

Allseitiges Gekicher und blitzende, lachende Augen waren die Reaktion auf diesen Witz.

»Nein, Kanaka Oolea«, kam die Antwort. »Der Teufel weiß, daß es mich schon hart genug ankommt, Kow-Kow für eine einzige Frau und alle ihre Verwandten zu beschaffen.«

»Kow-Kow?« wiederholte Pool das von den Hawaiianern für ihr eigenes Paina aus dem Chinesischen übernommene Wort für Essen. »Habt ihr Burschen denn heute Mittag hier kein Kow-Kow bekommmen?«

»Doch, Kanaka-Oolea«, meldete sich ein alter, völlig verschrumpelter Eingeborener zu Wort, der gerade vom Haus her zu der Gruppe gestoßen war. »In der Küche haben sie alle Kow-Kow bekommen, und reichlich dazu. Sie haben reingehauen wie verirrte Pferde, die man von den Lavafelsen heruntergeholt hat.«

»Und was willst du, Kumuhana?« wandte Pool sich dem Alten zu, während er gleichzeitig dem kleinen Mädchen bedeutete, ihm die Fliegen auf der anderen Seite zu verscheuchen.

»Zwölf Dollar«, sagte Kumuhana. »Ich möchte mir einen Esel und einen gebrauchten Sattel mit Zaumzeug kaufen, ich werde zu alt, meine Beine wollen mich nicht mehr tragen.«

»Warte«, befahl ihm sein Haole-Gebieter. »Darüber und über andere wichtige Angelegenheiten werde ich mit dir sprechen, sobald ich mit den anderen fertig bin und sie fort sind.«

Der runzlige Alte nickte und zündete sich eine Pfeife an.

»Das Kow-Kow in der Küche war gut«, begann Iliiopoi wieder und leckte sich die Lippen. »Der Poi war ausgezeichnet, das Schwein fett, der Lachsbauch stank nicht, der Fisch war vollkommen frisch und sehr reichlich, wenn auch die Opihis [winzige, an den Felsen klebende Schalentiere] gesalzen und daher zäh waren. Opihis darf man nie salzen. Wie oft habe ich dir schon gesagt, Kanaka Oolea, daß man Opihis nicht salzen soll. Ich bin voll von gutem Kow-Kow. Mein Bauch ist ganz schwer davon. Aber deshalb ist doch mein Herz nicht leicht, denn in meinem eigenen Haus, in dem meine Frau, die Tante der zweiten Frau deines vierten Sohnes, lebt und meine kleine Tochter und die alte Mutter meiner Frau und das Pflegekind der alten Mutter meiner Frau, ein Krüppel, und die Schwester meiner Frau, die ebenfalls mit ihren drei Kindern bei uns wohnt, seit deren Vater an einer schlimmen Wassersucht gestorben ist - «

»Werden fünf Dollar euch alle einen oder mehrere Tage vor der Beerdigung bewahren?« unterbrach Pool die Aufzählung unwirsch.

»Ja, Kanaka Oolea, und sie reichen auch noch für einen neuen Kamm für meine Frau und etwas Tabak für mich.«

Aus einem Goldbeutel, den er aus der Hüfttasche seiner Kattunhose zog, holte Hardman Pool das Goldstück und warf es zielsicher in die hingehaltene Hand.

Ein Junggeselle, der sechs Dollar für neue Gamaschen, Tabak und Sporen verlangte, erhielt drei, desgleichen ein zweiter, der einen Hut brauchte, und einem dritten, der bescheiden um zwei Dollar bat, gab er vier, mit einem blumigen Kompliment wegen seiner Tapferkeit beim Einfangen eines jungen, wilden Bullen in den Bergen. Sie wußten, daß er gewöhnlich ihre Forderungen halbierte, deshalb verlangten sie schon von vornherein das Doppelte. Und Hardman Pool wußte, daß sie stets die doppelte Summe nannten und lächelte in sich hinein. Das war nun einmal seine Art, und überdies war es eine gute Art, mit seinen überaus zahlreichen Verwandten umzugehen, und schmälerte sein Ansehen in ihren Augen keineswegs.

»Und du, Ahuhu?« befragte er einen, dessen Name >Giftkraut< bedeutete.

»Und das Geld für ein Paar Kattunhosen«, beschloß Ahuhu die Aufzählung der benötigten Dinge. »Ich bin viel und hart hinter deinem Vieh hergeritten, Kanaka Oolea, und da, wo meine Dungarees sich am Sattel gerieben haben, ist der Hosenboden durchgewetzt. Es wäre nicht gut, wenn man von einem von Kanaka Ooleas Cowboys, der auch ein Vetter der Halbschwester von Kanaka Ooleas Frau ist, sagen könnte, daß er sich schämen muß, wenn er aus dem Sattel steigt, es sei denn, er würde sich vor den Leuten, die ihm zuschauen, im Rückwärtsgang bewegen.«

»Du sollst Geld für ein Dutzend Paar Kattunhosen habe, Ahuhu«, meinte Hardman Pool jovial und warf ihm die benötigte Summe zu. »Es erfüllt mich mit Genugtuung, daß meine Familie meinen Stolz mit mir teilt. Nachher, Ahuhu, wirst du mir von deinem Dutzend Dungarees eine abgeben, sonst werde auch ich gezwungen sein, rückwärts zu gehen, da meine eigenen und einzigen Hosen ebenso abgetragen und ehrenrührig sind.«

Und unter herzlichem Gelächter über die abschließende witzige Bemerkung ihres Haole-Häuptlings brach die ganze prachtvoll gebaute, mit einem kindlichen Gemüt ausgestattete Gesellschaft zu den wartenden Pferden auf. Nur Kumuhana, der verhutzelte Alte, dem er zu warten geboten hatte, blieb noch.

Volle fünf Minuten saßen sie schweigend da. Dann befahl Hardman Pool dem kleinen Mädchen, ein Glas Gin mit Milch zu holen, und gab ihr, als sie es brachte, mit einer Kopfbewegung zu verstehen, daß sie es Kumuhana reichen sollte. Der setzte das Glas erst wieder ab, als er es ganz geleert hatte, worauf er mit hörbarem »A-a-ah« ausatmete und schmatzte.

»Viel Awa habe ich in meinem Leben getrunken«, meinte er nachdenklich. »Doch Awa ist nur das Getränk des gewöhnlichen Mannes, während der Haole-Schnaps ein Getränk für Häuptlinge ist. Awa hat nicht die Hitzigkeit des Schnapses, der dem Gefühl die Sporen gibt, der einen wachbeißt, was sehr wohltuend ist, denn es ist schön, lebendig zu sein.«

Hardman Pool lächelte und nickte zustimmend, und der alte Kumuhana fuhr fort:

»Er hat etwas Wärmendes an sich. Er wärmt den Bauch und die Seele. Er wärmt das Herz. Selbst Herz und Seele werden kalt, wenn man alt wird.«

»Du bist wirklich alt«, gab Pool zu. »Fast so alt wie ich.«

Kumuhana schüttelte den Kopf und murmelte: »Wäre ich nicht älter als du, dann würde ich so jung wie du sein.«

»Ich bin einundsiebzig«, sagte Pool.

»Auf diese Art weiß ich mein Alter nicht«, lautete die Antwort. »Was geschah zu der Zeit, als du geboren wurdest?«

»Laß sehen«, begann Pool zu rechnen. »Jetzt haben wir 1880. Ziehe davon 71 ab, und es bleiben 9. Ich wurde 1809 geboren, in dem Jahr, als Keliimaikai starb und als der Schotte Archibald Campbell in Honolulu lebte.«

»Dann bin ich wirklich älter als du, Kanaka Oolea. Ich kann mich noch gut an den Schotten erinnern, denn ich spielte damals zwischen den Grashäusern Honolulus und ging schon in der Wahine-Brandung von Waikiki zum Wellenreiten. Ich kann dich jetzt noch an die Stelle führen, wo das Grashaus des Schotten stand. Jetzt befindet sich genau dort die Seemannsmission. Doch ich weiß, wann ich zur Welt kam. Oft haben meine Großmutter und meine Mutter mir davon erzählt. Ich wurde geboren, als Madame Pele (die Feuer- oder Vulkangöttin) auf die Leute von Paiea zornig wurde, weil sie ihr keinen Fisch aus ihrem Fischteich opferten, und sie einen Lavastrom von Hualalai herab schickte und damit ihren Fischteich zuschüttete. Das geschah, als ich geboren wurde.«

»Das war im Jahr 1801, als James Boyd für Kamehameha in Hilo Schiffe baute«, ging Pool weiter im Kalender zurück; »damit wärst du also neunundsiebzig oder acht Jahre älter als ich. Du bist wirklich sehr alt.«

»Ja, Kanaka Oolea«, murmelte Kumuhana mit einem rührenden Versuch, seine eingesunkene Brust vor Stolz anschwellen zu lassen.

»Und du bist sehr weise.«

»Ja, Kanaka Oolea.«

»Und du kennst viele von den geheimen Dingen, die nur alten Leuten bekannt sind.«

»Ja, Kanaka Oolea.«

»Und da weißt du auch - « Hardman Pool brach mitten im Satz ab, um den anderen Alten um so nachdrücklicher mit dem starren Blick seiner wasserblauen Augen zu durchbohren und zu hypnotisieren. »Man sagt, die Gebeine Kahekilis seien aus ihrem Versteck geholt worden und würden heute im Königlichen Mausoleum liegen. Ich habe munkeln hören, daß du allein von allen Lebenden die Wahrheit kennst.«

»So ist es«, lautete die stolze Antwort. »Ich allein weiß Bescheid.«

»Nun, und liegen sie dort? Ja oder nein.«

»Kahekili war ein Alii, ein hoher Häuptling. Von ihm stammt deine Frau Kalama in gerader Linie ab. Sie ist eine Alii.« Der alte Vasall hielt inne und schürzte nachdenklich die schmalen Lippen. »Ich gehöre ihr, so wie alle meine Vorfahren ihren Vorfahren gehörten. Nur sie kann mir befehlen, die großen Geheimnisse zu offenbaren. Sie ist weise, zu weise, um von mir zu verlangen, dieses Geheimnis auszuplaudern. Dir, Kanaka Oolea, antworte ich nicht mit Ja und nicht mit Nein. Dies ist ein Geheimnis der Aliis, das selbst die Aliis nicht kennen.«

»Sehr gut, Kumuhana«, lobte Hardman Pool. »Doch du vergißt, daß auch ich ein Alii bin, und wenn meine gute Kalama von sich aus nicht zu fragen wagt, dann befehle ich es ihr. Ich kann auf der Stelle nach ihr schicken lassen und dich zwingen. Aber das wäre dumm, es sei denn, du zeigtest dich selbst doppelt so dumm. Erzähl mir dein Geheimnis, und sie wird nie davon erfahren. Die Lippen einer Frau müssen ausschwatzen, was immer ihr zu Ohren kommt. So sind die Frauen. Ich bin ein Mann, und ein Mann ist da ganz anders. Wie du wohl weißt, schließen sich meine Lippen über einem Geheimnis so fest wie die Saugnäpfe eines Tintenfisches am salzigen Felsen. Wenn du es nicht mir allein erzählen willst, dann wirst du es Kalama und mir zusammen sagen müssen, und ihre Lippen werden reden, so daß selbst der letzte Malihini über kurz oder lang erfahren wird, was sonst nur du und ich allein wissen würden.«

Lange saß Kumuhana schweigend da, überlegte hin und her und fand keinen Weg, sich der schlüssigen Logik dieser Beweisführung zu entziehen.

»Groß ist deine Haole-Weisheit«, räumte er schließlich ein.

»Ja oder nein?« nagelte ihn Hardman Pool fest.

Kumuhana sah sich erst nach allen Seiten um, dann blieb sein Blick auf dem Mädchen mit dem Fliegenwedel hängen.

»Geh«, befahl Pool der Kleinen. »Und komm erst wieder, wenn du mich in die Hände klatschen hörst.«

Hardman Pool sagte kein Wort mehr, selbst als das Mädchen im Haus verschwunden war, doch auf seinem Gesicht stand unerbittlich die Frage: »Liegen die sterblichen Überreste Kahekilis im Mausoleum? Ja - oder nein?«

Wieder blickte Kumuhana vorsichtig um sich, sah in das Geäst des Johannisbrotbaumes hinauf, als fürchtete er einen versteckten Lauscher. Seine Lippen waren ganz trocken. Mehrmals fuhr er sich mit der Zunge darüber, um sie zu befeuchten. Er setzte zweimal zum Sprechen an, brachte aber nur einen heiseren, unartikulierten Laut hervor. Und schließlich flüsterte er mit gesenktem Haupt so leise und feierlich, daß Hardman Pool seinen Kopf zu ihm herunterbeugen mußte, um ihn zu verstehen: »Nein.«

Pool klatschte in die Hände, und das kleine Mädchen kam bebend und aufgeregt aus dem Haus geeilt.

»Bring ein Glas Milch mit Gin für den alten Kumuhana«, ordnete Pool an; und zu Kumuhana gewandt: »Jetzt erzähle mir die ganze Geschichte.«

»Warte«, lautete die Antwort. »Warte, bis die kleine Wahine hier war und wieder fort ist.«

Und als das Mädchen verschwunden und Gin und Milch den dieser Mischung vorbestimmten Weg genommen hatten, wartete Hardman Pool ohne weiteres Drängen auf die Geschichte. Kumuhana preßte seine Hand gegen die Brust und hustete einige Male hintereinander hohl auf, um sich Mut zu machen; doch schließlich fing er von selbst an zu sprechen.

»Es war etwas Furchtbares in den alten Tagen, wenn ein Alii starb. Kahekili war ein großer Alii. Er wäre vielleicht König geworden, hätte er lange genug gelebt. Wer weiß? Ich war ein junger Mann, noch nicht verheiratet. Du weißt, Kanaka Oolea, wann Kahekili starb, und du kannst mir sagen, wie alt ich damals war. Er starb, als Gouverneur Boki hier in Honolulu das Hotel Blonde führte. Du hast davon gehört?«

»Ich war damals noch auf der Windseite von Hawaii«, erwiderte Pool. »Aber ich habe davon gehört. Boki richtete eine Schnapsbrennerei ein und pachtete Land in Manoa, um dort Zuckerrohr zu pflanzen, und Kaahumanu, der damals Regent war, annullierte die Pacht, riß das Zuckerrohr heraus und baute Kartoffeln an. Und Boki war wütend und bereitete sich auf einen Waffengang vor. Er versammelte seine Krieger und noch ein Dutzend Deserteure von Walfängern mit fünf Sechspfündern aus Bronze draußen in Waikiki - «

»Das war genau zu der Zeit, als Kahekili starb«, fiel ihm Kumuhana eifrig ins Wort. »Du bist sehr weise. Du weißt über vieles aus den alten Tagen besser Bescheid als wir alten Kanaken.«

»Das war 1829«, fuhr Pool selbstzufrieden fort. »Du warst achtundzwanzig Jahre alt, und ich war zwanzig und war gerade nach dem Brand der Black Prince mit dem offenen Boot an Land gekommen.«

»Ich war achtundzwanzig«, wiederholte Kumuhana. »Das hört sich richtig an. Ich erinnere mich noch gut an Bokis Bronzekanonen in Waikiki. Zu dieser Zeit starb auch Kahekili in Waikiki. Die Leute glauben bis heute, daß seine Gebeine in das Hale o Keawe, das Mausoleum von Honaunau, in Kona gebracht worden - «

»Und viel später in das Königliche Mausoleum hier in Honolulu überführt worden sind«, fügte Pool hinzu.

»Es gibt auch einige, Kanaka Oolea, die bis heute glauben, daß Königin Alice sie mit den übrigen Gebeinen ihrer Ahnen in den großen Gefäßen ihres Taburaumes aufbewahrt. Alle haben sie unrecht. Ich weiß es. Die heiligen Überreste Kahekilis sind verschwunden, für immer und ewig dahin. Sie ruhen nirgendwo. Es gibt sie nicht mehr. Und viele Kona-Winde haben die Brandung von Waikiki zum Schäumen gebracht, seit jemand vor Augen hatte, was von Kahekili übrig war. Ich allein lebe noch von diesen Menschen; ich bin der letzte, und ich bin nicht froh darüber, Zeuge gewesen zu sein.

Denn sieh! Ich war ein Jüngling, und mein Herz war wie weißglühende Lava für Malia entbrannt, die im Hause Kahekilis lebte. Ebenso weiß glühte auch das Herz Anapunis für sie, wenn auch sein Herz, wie du gleich hören wirst, ganz schwarz war. Wir - Anapuni und ich - waren zu der Zeit, als Kahekili starb, auf einem Trinkgelage. Anapuni und ich gehörten zum einfachen Volk, wie alle Kanaken und Wahines bei diesem Zechgelage mit den einfachen Matrosen und den Mannschaften der Walfänger. Wir lagen auf den Matten am Strand von Waikiki in der Nähe des alten Heiau [Tempel], nicht weit von der Stelle, wo heute Wilders Strandkneipe ist, und tranken. Damals wurde mir ein für allemal klar, welche Unmengen von Alkohol die Haole-Seeleute vertragen können.

Wir Kanaken hingegen bekamen von dem Whisky und Rum heiße, wirre Köpfe, die wie trockene Kürbisse rasselten.

Es war nach Mitternacht, ich erinnere mich noch gut, als ich Malia, die ich noch nie zuvor bei einem Zechgelage erblickt hatte, über den nassen, harten Sandstrand kommen sah. Mein Hirn brannte wie rotglühende Höllenasche, als ich bemerkte, wie Anapuni, der ihr am nächsten und im Kreis gegenüber saß, sie anblickte. Oh, ich weiß, es waren der Whisky und der Rum und meine Jugend, die mich so in Wallung brachten; aber damals, in jenem Augenblick, beschloß ich in meiner Tollheit: Wenn sie zuerst mit ihm spräche und ihm gestattete, mit ihr zu tanzen, dann würde ich meine beiden Hände um seinen Hals legen und ihn in die Wahine-Brandung dort hinten zerren, ihn untertauchen und ertränken und so das Hindernis beseitigen, das zwischen ihr und mir stand. Denn du mußt wissen, daß sie sich nie zwischen uns entschieden hatte, und er war schuld daran, daß sie nicht schon längst die Meine war.

Sie war eine prachtvolle Frau mit der üppigen Figur einer Häuptlingstochter und noch schöner, als sie jetzt im schimmernden Mondlicht über den feuchten Sand auf uns zu kam. Selbst die Haole-Matrosen schwiegen plötzlich und starrten sie mit offenen Mündern an. Ihr Gang! Ich habe dich, Kanaka Oolea, von der Frau Helena erzählen hören, die den trojanischen Krieg verursachte. Von Malia kann ich sagen, daß ihretwegen mehr Männer die Mauern der Hölle gestürmt haben würden, als damals gegen die alte Stadt angerannt sind, von der du immer viel und lang zu erzählen pflegst, wenn du zu wenig Milch und zu viel Gin getrunken hast.

Ihr Gang! Im Mondschein dort, beim sanften Lichtschimmer der Quallen, die in der Brandung glühten wie die Rampenlichter, die ich in dem neuen Haole-Theater gesehen habe! Es war nicht der Gang eines Mädchens, sondern der einer Frau. Sie trippelte nicht vorwärts wie die kleinen Wellen, die sich zwischen vorgelagertem Riff und Strand kräuseln. In ihrer Art zu gehen lag etwas Erhabenes und Königinnenhaftes, gleich der Bewegung von Naturkräften, gleich dem rhythmischen Lavastrom, der sich von den Hängen des Kau herab ins Meer ergießt, gleich dem Wogen der riesigen, ebenmäßigen Seen unter dem Passat, dem Heben und Senken der vier großen Jahreszeiten, die Musik im ewigen Ohr Gottes sein mögen, für den gewöhnlichen, hektischen, kurzlebigen Menschen jedoch zu selten stattfinden, um sich zu einer Melodie zu formen.

Anapuni saß ihr am nächsten. Aber sie sah mich an. Hast du je einen Ruf gehört, Kanaka Oolea, der ohne Ton ist und doch lauter als die Tritonshörner Gottes? So rief sie mich über den Kreis der Trinkenden hinweg. Ich erhob mich halb, denn ich war noch nicht völlig betrunken, aber Anapunis Arm ergriff sie und zog sie an sich, und ich ließ mich wieder auf meinen Ellbogen sinken und sah voller Wut zu. Er wollte, daß sie sich an seine Seite setzte, und ich wartete. Setzte sie sich und tanzte sie dann mit ihm, dann, wußte ich, würde Anapuni, noch ehe der Morgen graute, ein toter Mann sein, von mir in der seichten Brandung erwürgt und ertränkt.

Seltsam, nicht war, Kanaka Oolea, ist diese Hitze, die man >Liebe< nennt? Und doch ist sie nicht seltsam. Es muß so sein, wenn man jung ist, sonst würde die Menschheit nicht fortbestehen.«

»Deshalb muß auch das Verlangen nach der Frau stärker sein als der Wunsch zu leben«, stimmte Pool ihm zu. »Sonst würde es weder Männer noch Frauen geben.«

»Ja«, sagte Kumuhana. »Aber es ist viele Jahre her, seit die letzte Glut dieser Art in mir erlosch. Ich erinnere mich daran wie an einen früheren Sonnenaufgang - etwas Vergangenes eben. Und so wird man alt und kalt und trinkt Gin, nicht um der Tollheit willen, sondern der Wärme wegen. Und die Milch ist sehr nahrhaft.

Doch Malia setzte sich nicht zu ihm. Ich weiß noch, daß ihre Augen wild blickten, ihr Haar hing herab und wehte im Wind, als sie sich über ihn neigte und ihm etwas ins Ohr raunte. Und ihr Haar legte sich um ihn und hüllte ihn ein, als sie flüsterte, und dieser Anblick ließ mein Herz hart gegen die Rippen pochen und verwirrte mir den Kopf, bis ich kaum noch sehen konnte. Und mit aller Willenskraft beschloß ich, den Kreis zu durchqueren und sie zu holen, wenn sie nicht in wenigen Minuten zu mir herüberkäme.

Doch es sollte nicht soweit kommen. Erinnerst du dich an Häuptling Konukalani? Er selbst schritt auf den Kreis zu. Sein Gesicht war dunkel vor Zorn. Er packte Malia, nicht am Arm, sondern bei den Haaren, zerrte sie hinter sich her und verschwand. Und selbst heute verstehe ich es nur zur Hälfte. Ich, der ich ihretwegen Anapuni erschlagen wollte, ich erhob weder die Hand noch die Stimme, um dagegen zu protestieren, als Konukalani sie bei den Haaren fortzog - und auch Anapuni rührte sich nicht. Gewiß, wir waren einfache Männer, und er war ein Häuptling. Ich weiß. Aber warum sollten zwei einfache Männer, verrückt vor Verlangen nach einer Frau, in denen der Wunsch nach der Frau stärker als der Wunsch nach dem Leben war, warum sollten sie es zulassen, daß irgendein Häuptling, und sei es der oberste im Lande, diese Frau an den Haaren fortschleppte? Da sie sie mehr als ihr Leben begehrten

- weshalb sollten diese beiden Männer sich davor fürchten, diesen einen Häuptling sofort und auf der Stelle zu erschlagen? Hier ist etwas, das stärker ist als das Leben, stärker als die Frau, aber was ist es - und warum ist es so?«

»Das will ich dir sagen«, meinte Hardman Pool. »Weil die meisten Männer Narren sind und deshalb von den wenigen weisen Männern in ihre Obhut genommen werden müssen.

Das ist das Geheimnis der Führerschaft. Überall auf der Welt haben die Menschen Häuptlinge über sich. Auf der ganzen Welt hat es von jeher Häuptlinge gegeben, die den vielen törichten Menschen sagen mußten: >Tut dies, tut das nicht.< Arbeitet, und arbeitet so, wie wir es euch sagen, sonst werden eure Bäuche leer bleiben, und ihr werdet zugrunde gehen. Befolgt die Gesetze, die wir für euch gemacht haben, oder ihr werdet wie die wilden Tiere sein, und es wird keinen Platz für euch auf dieser Erde geben. Ihr würdet nicht existieren, wären nicht vor euch Häuptlinge gewesen, die euren Vätern befahlen und ihre Geschicke lenkten. Ihr hättet keine Nachfahren, würden wir euch nicht Vorschriften machen und jetzt euer Leben regeln. Haltet Frieden, seid anständig und putzt euch die Nase. Geht am Abend zeitig zu Bett und steht früh auf, wenn ihr Betten zum Schlafen haben und nicht wie das dumme Federvieh in den Bäumen nächtigen wollt. Es ist Zeit, Yams zu pflanzen, darum pflanzt jetzt. Jetzt, sagen wir, und nicht heute feiern und Hula tanzen und dann morgen oder an irgendeinem anderen der vielen sorglosen Tage Yams pflanzen. Bringt euch nicht gegenseitig um, und laßt die Frau eures Nachbarn in Ruhe. So vergeht euer Leben, denn ihr denkt immer nur an einen Tag auf einmal, während wir, eure Häuptlinge, für euch an alle Tage und an weit in der Zukunft liegende Tage denken.«

»Wie eine Wolke über dem Berggipfel, die sich herabsenkt und einen einhüllt und die man nur undeutlich als Wolke erkennt, so erscheint mir deine Weisheit, Kanaka Oolea«, murmelte Kumuhana. »Doch es ist traurig, daß ich als gemeiner Mann geboren wurde und alle meine Tage als gemeiner Mann verbringen sollte.«

»Das kommt daher, daß du selbst gemein bist«, versicherte ihm Hardman Pool. »Wenn ein Mann von niedriger Herkunft, aber nicht von niedrigem Wesen ist, so erhebt er sich, überwältigt die Häuptlinge und macht sich zum Häuptling über die Häuptlinge. Warum führst du nicht meine Ranch mit ihren vielen tausend Stück Vieh und wechselst je nach Regenfall die Weideplätze, wählst die Bullen aus und kümmerst dich um die Geschäfte und den Verkauf des Fleisches an die Segel- und Kriegsschiffe und an die Leute, die in den Häusern von Honolulu leben. Warum streitest du dich nicht mit Rechtsanwälten herum, hilfst mit, Gesetze zu machen, und sagst sogar dem König, welche Unternehmung klug für ihn und welche gefährlich ist? Warum tut nicht irgendein anderer Mann, was ich tue? Irgendeiner von all den vielen Männern, die für mich arbeiten, aus meiner Hand Nahrung empfangen und es mir überlassen, für sie zu denken? - mir, der schwerer arbeitet als irgendeiner von ihnen, der nicht mehr ißt als irgendeiner von ihnen, der auch nur auf einer Lauhala-Matte auf einmal schlafen kann wie irgendeiner von ihnen?«

»Ich bin jetzt nicht mehr in der Wolke, Kanaka Oolea«, meinte Kumuhana, und seine Miene hellte sich auf. »Ich sehe jetzt klarer. Mein ganzes Leben lang haben die Aliis, unter denen ich geboren wurde, für mich gedacht. Immer, wenn ich hungrig war, kam ich um Essen zu ihnen, so, wie ich jetzt in deine Küche komme. Viele Menschen essen in deiner Küche, und wir nehmen es als selbstverständlich hin, daß du an den Festtagen für uns alle fetten Stiere schlachtest. Deshalb komme auch ich, ein alter Mann, dessen Arbeitskraft keinen roten Heller die Woche mehr wert ist, heute zu dir und bitte dich um zwölf Dollar, um einen Esel und einen gebrauchten Sattel mit Zaumzeug zu kaufen. Deshalb haben dich auch unter diesen Johannisbrotbäumen vor einer halben Stunde zweimal zehn Toren um einen Dollar oder zwei, vier, fünf, zehn oder zwölf gebeten. Wir sind die Sorglosen der sorgenfreien Tage, die nicht zur rechten Zeit Yams pflanzen würden, wenn unser Alii uns nicht dazu zwänge, die nicht einen Tag selbst denken und die wissen, daß unser Alii, wenn wir im Alter zu nichts mehr nütze sind, sich etwas einfallen lassen wird, damit wir Kow-Kow in unseren Magen kriegen und ein Grasdach über unserem Kopf haben.«

Hardman Pool neigte zustimmend den Kopf und drängte: »Aber Kahekilis sterbliche Überreste. Der Häuptling Konukalani hatte gerade Malia an den Haaren fortgezerrt, und du und Anapuni bliebt, ohne etwas dagegen zu unternehmen, im Kreis der Trinkenden sitzen. Was war es denn, was Malia in Anapunis Ohr raunte, als sie sich über ihn beugte, so daß ihr Haar sein Gesicht verhüllte?«

»Daß Kahekili tot war. Das war es, was sie Anapuni zuflüsterte. Daß Kahekili tot, soeben gestorben war und daß die Häuptlinge, die allen im Hause befahlen, es nicht zu verlassen, darüber berieten, was mit seinem Leichnam geschehen sollte, noch bevor die Nachricht von seinem Tod ruchbar werden könnte. Daß der Hohepriester Eoppo sie zu einer Entscheidung drängte und daß sie, Malia, mit angehört hatte, daß niemand anderes als Anapuni und ich als Opfer ausgewählt worden waren, um den toten Kahekili auf seinem Weg zu begleiten und ihm danach und auf immer und ewig im Schattenreich jener anderen Welt zu dienen.«

»Das Menschenopfer«, bemerkte Pool. »Und doch waren die Missionare damals schon neun Jahre im Land.«

»Und bereits im Jahr vor ihrem Eintreffen waren die Götzenbilder gestürzt und die Tabus gebrochen worden«, fügte Kumuhana hinzu. »Aber die Häuptlinge hielten noch an den alten Gebräuchen, der Sitte des Hunakele, fest und versteckten die Gebeine der Aliis dort, wo kein Mensch sie finden und Angelhaken aus ihren Kinnladen oder Pfeilspitzen aus ihren langen Knochen machen konnte, um damit zum Vergnügen auf Mäusejagd zu gehen. Schau, Kanaka Oolea!«

Der alte Mann streckte seine Zunge heraus, und Pool sah zu seiner großen Verwunderung, daß die Oberfläche dieses empfindlichen Organs von der Wurzel bis zur Spitze mit verschlungenen Tätowierungen bedeckt war.

»Das geschah nach der Ankunft der Missionare, etliche Jahre später, als Keopuolani starb. Auch schlug ich mir vier Schneidezähne aus und brannte mir auf dem ganzen Leib mit glühender Rinde Halbkreise ein. Und wer sich in jener Nacht vor die Tür wagte, wurde von den Häuptlingen erschlagen. Ebensowenig durfte in den Häusern ein Licht angezündet oder auch nur das leiseste Geräusch gemacht werden. Selbst Hunde und Schweine, die einen Laut von sich gaben, wurden getötet, und während dieser ganzen Nacht durften die Schiffsglocken der Haoles im Hafen nicht läuten. Es war etwas Furchtbares in jenen Tagen, wenn ein Alii starb.

Doch zurück zu der Nacht, in der Kahekili starb. Wir blieben noch weiter im Kreis der Trinkenden sitzen, nachdem Konukalani Malia an den Haaren fortgeschleppt hatte. Einige Haole-Matrosen murrten zwar, aber von ihnen gab es in jenen Tagen nur wenige im Land, und die Kanaken waren in der Überzahl. Und Malia wurde nie wieder von einem Menschen gesehen. Konukalani allein wußte, auf welche Weise sie ums Leben gekommen war, und er sprach nie darüber. Und wie sollten einfache Männer wie Anapuni und ich in späteren Jahren wagen, ihn danach zu fragen!

Nun hatte sie Anapuni, ehe sie fortgezerrt worden war, alles gesagt. Aber Anapunis Herz war schwarz. Mir sagte er kein Wort. Er verdiente den Tod, den ich für ihn geplant hatte. In dem Kreis befand sich ein riesiger Harpunenwerfer, dessen Gesang dem Gebrüll von Stieren glich; höchst erstaunt starrte ich auf ihn, wie er irgendein Lied von der See brüllte, und als ich dann wieder zu Anapuni hinüberblickte, war er verschwunden. Er war in die Berge geflohen, wo er sich sieben Monde lang bei den Vogelfängern verstecken konnte. Doch das erfuhr ich erst später.

Und ich? Ich saß noch da und schämte mich, daß mein Verlangen nach einer Frau nicht so stark wie mein sklavischer Gehorsam gegenüber einem Häuptling gewesen war. Und ich ertränkte meine Schande in Unmengen von Rum und Whisky, bis sich die ganze Welt um mich herum und in meinem Kopf drehte und das Kreuz des Südens am Himmel einen Hula tanzte und die Koolau-Berge ihre hohen Gipfel nach Waikiki herunterneigten und die Brandung von Waikiki sie auf die Stirn küßte. Und der hünenhafte Harpunier brüllte immer noch, und sein Gebrüll klang mir als letztes in den Ohren, bevor ich auf die Lauhala-Matte zurücksank und wie ein Toter schlief.

Als ich aufwachte, dämmerte schon der Morgen herauf. Ein harter, nackter Fuß stieß mir in die Rippen. Wenn ich auch ungeheuer viel getrunken hatte, so waren es doch keine angenehmen Gefühle, die dieser Fuß bei mir hervorrief. Die Kanaken und Wahines, die an dem Gelage teilgenommen hatten, waren alle verschwunden. Ich allein war unter den schlafenden Matrosen zurückgeblieben, und der riesige Harpunier, der wie ein Wal schnarchte, hatte den Kopf auf meine Füße gelegt.

Noch mehr Fußtritte folgten, ich setzte mich auf und mußte mich übergeben. Doch der, der mich trat, war ungeduldig und wollte wissen, wo Anapuni sei. Und ich wußte es nicht und wurde dafür jetzt beidseitig von zwei ungeduldigen Männern malträtiert. Ich wußte auch nicht, daß Kahekili tot war. Dennoch ahnte ich, daß etwas Ernstes im Gange sein mußte, denn die beiden Männer, die mir die Tritte versetzten, waren Häuptlinge, und kein gemeiner Mann kroch hinter ihnen her, um ihre Befehle auszuführen. Der eine war Aimoku von Kaneohe, der andere Humuhumu von Manoa.

Sie befahlen mir mitzukommen, und es klang nicht sehr freundlich; und als ich aufstand, rollte der Kopf des Harpuniers von meinen Füßen herunter über den Rand der Matte in den Sand. Er grunzte wie ein Schwein, seine Lippen öffneten sich, und seine ganze Zunge fiel ihm aus dem Mund heraus auf den Sand. Er zog sie nicht zurück. Zum erstenmal wurde mir bewußt, wie lang die Zunge eines Menschen ist. Als ich sah, wie der Sand darauf klebte, wurde mir zum zweiten Mal übel. Der Tag nach einer durchzechten Nacht ist etwas Schreckliches. Ich war wie ausgeglüht, ausgebrannt und ausgetrocknet, mein ganzes Inneres fühlte sich an wie verglühte Schlacke, wie Lava, trocken und so sandig wie die Zunge des Harpuniers. Ich bückte mich nach einer halbgeleerten Trinkkokosnuß, aber Aimoku stieß sie mir aus meinen zitternden Fingern, und Humuhumu schlug mir mit der Handkante in den Nacken.

Seite an Seite gingen sie vor mir her, mit feierlichen, düsteren Gesichtern, und ich folgte ihnen auf den Fersen. Mein Mund stank nach Alkohol, mein Kopf war krank von dem schalen Dunst, der ihn umnebelte, und ich hätte mir die rechte Hand abhacken lassen für ein Glas Wasser, ein einziges Glas, ja nur einen einzigen Schluck. Und hätte ich es getrunken, so hätte es sich in meinem Bauch zischend verflüchtigt wie Wasser, das man auf heiße Röststeine gießt. Der Tag nach einer durchzechten Nacht ist etwas Furchtbares. Das Leben vieler Männer, die früh starben, habe ich vorübergehen sehen, seit ich zuletzt imstande war, solche irrwitzigen Trinkgelage der Jugend mitzumachen, die kein Maß kennt und sich nicht abschrecken läßt.

Als wir weitergingen, fing ich an zu begreifen, daß irgendein Alii gestorben sein mußte. Nicht ein Kanake lag schlafend im Sand oder stahl sich nach einer Liebesnacht heim, und keine Kanus waren wie sonst zum Fischfang ausgelaufen, wo doch um diese frühe Stunde und beim Gezeitenwechsel die Fische vor dem Riff am leichtesten ins Netz gehen. Als wir hinter dem Tempel, dem Heiau, zu der Stelle kamen, wo der große Kamehameha immer seine Briggs und Schoner anlanden ließ, sah ich, daß unter dem Kanuschuppen die Strohmatten von Kahekilis großem Doppelkanu abgenommen worden waren und daß sich viele Männer sogar jetzt bei Ebbe damit abplagten, es über den Sand zu ziehen und ins Wasser zu bugsieren. Aber alle diese Männer waren Häuptlinge. Und obwohl mir alles vor den Augen verschwamm, obwohl sich mein Kopf drehte und mein Inneres ausgebrannter Schlacke glich, vermutete ich, daß der Alii, der gestorben war, Kahekili sein mußte. Denn er war alt und von allen Aliis dem Tod am nächsten.«

»Wie ich gehört habe, hat sein Tod mehr zum Scheitern des Aufstands von Gouverneur Boki beigetragen als das Eingreifen Kekuanaoas«, bemerkte Hardman Pool.

»Es war Kahekilis Tod, der die Rebellion hintertrieb«, bestätigte Kumuhana. »Das einfache Volk floh, als sein Tod in jener Nacht bekannt wurde, und jeder begab sich in den Schutz der Grashäuser, zündete weder Feuer noch Pfeifen an, atmete nicht laut, blieb im Haus und war deshalb tabu für die Opferung. Und alle einfachen Krieger des Gouverneurs Boki ebenso wie seine Haole-Deserteure von den Schiffen flohen auf diese Weise, so daß die Bronzekanonen nicht bedient werden konnten und seine Handvoll Häuptlinge allein nichts auszurichten vermochte.

Aimoku und Humuhumu befahlen mir, mich dort, wo das große Doppelkanu zu Wasser gelassen wurde, auf den Sand zu setzen. Und als es schwamm, waren die Häuptlinge, die schwere Arbeit nicht gewohnt waren, durstig; und man befahl mir, auf die Palmen neben dem Kanuschuppen zu klettern und Trinkkokosnüsse herunterzuwerfen. Sie tranken und erfrischten sich, doch mich ließen sie nicht trinken.

Dann trugen sie Kahekili in einem neuen, eingeölten und polierten Haole-Sarg von seinem Haus zum Kanu. Der Sarg war von einem Schiffszimmermann angefertigt worden, der meinte, er müsse ein Boot bauen, das nicht lecken dürfte. Er war vollkommen dicht, und auf der Oberseite, dort, wo sich Kahekilis Gesicht befand, war nichts als dünnes Glas. Die Häuptlinge hatten das Außenbrett, das die Glasscheibe abdecken sollte, nicht aufgeschraubt. Vielleicht kannten sie sich mit Haole-Särgen nicht aus, für mich jedenfalls sollte sich ihre Unkenntnis als Glücksfall erweisen, wie du gleich sehen wirst.

>Da ist ja nur ein Moepuuc, sagte der Priester Eoppo, als er mich im Kanu auf dem Sarg sitzen sah. Die Häuptlinge paddelten schon durch das Riff hinaus.

>Der andere ist fortgelaufen und hat sich verstecktc, erwiderte Aimoku. >Dieser hier ist der einzige, den wir erwischen konnten.<

Und da wußte ich Bescheid. Alles wurde mir klar. Ich sollte geopfert werden. Und Anapuni war als zweites Opfer vorgesehen gewesen. Das war es, was Malia ihm bei dem Trinkgelage zugeflüstert hatte. Und sie war fortgeschleppt worden, ehe sie es mir verraten konnte. Und schwarz wie sein Herz war, hatte er mir nichts davon gesagt.

>Es müssen zwei sein<, sagte Eoppo. >So will es das Gesetz.< Aimoku hörte auf zu paddeln und blickte zum Ufer zurück, als wolle er umkehren und ein zweites Opfer holen. Aber mehrere Häuptlinge waren dagegen und meinten, daß alles gemeine Volk in die Berge geflohen oder unter Tabuschutz in den Häusern geblieben sei und daß es Tage dauern könne, ehe sie einen aufgriffen. Schließlich gab Eoppo nach, wenn er auch hin und wieder vor sich hinbrummte, daß das Gesetz zwei Moepuus fordere.

Wir paddelten weiter, am Diamond Head vorbei und bis zur Höhe des Koko Head, bis wir uns mitten im Molokai-Kanal befanden. Dort herrschte ziemlicher Seegang, obwohl der Passat nur leicht blies. Die Häuptlinge ließen die Paddel ruhen, mit Ausnahme der Rudergänger, die den Bug des Kanus am Wind und an der Dünung hielten. Und bevor sie weiterpaddelten, öffneten sie noch einige Kokosnüsse und tranken.

>Daß ich Moepuu bin, macht mir nicht so viel aus<, sagte ich zu Humuhumu; >doch bevor man mich opfert, würde ich gern etwas trinken.< Ich bekam nichts zu trinken. Aber ich hatte die Wahrheit gesagt. Mir war noch zu elend von dem vielen Whisky und Rum, als daß ich Angst vor dem Sterben gehabt hätte. Dann stank wenigstens mein Mund nicht mehr, und mein Kopf tat mir nicht mehr weh, und mein Inneres würde sich nicht mehr so trocken wie heißer Sand anfühlen. Am meisten aber litt ich vielleicht unter der Vorstellung der Zunge des Harpuniers, wie ich sie zuletzt voll Sand auf dem Sand liegen gesehen hatte. Ach, Kanaka Oolea, welche Tiere sind doch die jungen Männer, wenn es ans Trinken geht! Erst wenn sie so alt geworden sind wie du und ich, zügeln sie ihren unbändigen Durst und trinken mäßig wie wir beide.«

»Weil wir müssen«, stimmte Hardman Pool ihm zu. »Alte Mägen sind verbraucht und empfindlich, und wir halten maß, weil wir uns nicht trauen, mehr zu trinken. Wir sind weise, aber die Weisheit ist bitter.«

»Der Priester Eoppo sang ein langes Mele über Kahekilis Mutter und die Mutter seiner Mutter und all ihre Mütter, bis zurück zu den Anfängen«, fuhr Kumuhana fort. »Und es schien, als müßte ich an meiner sandheißen Ausgedörrtheit sterben, ehe er zu einem Ende kam. Und er rief alle Götter der unteren Welt, der mittleren und der oberen Welt an, daß sie für den toten Alii, der ihnen jetzt übergeben würde, sorgen, ihn freundlich aufnehmen und die Verwünschungen - es waren schreckliche Flüche - ausführen sollten, mit denen er alle belegte, die sich jetzt oder in Zukunft an den sterblichen Überresten Kahekilis vergriffen und seine Knochen zur vergnüglichen Jagd auf Schädlinge mißbrauchten.

Weißt du, Kanaka Oolea, der Priester redete in einer ganz anderen Sprache, und ich weiß, daß es die Priestersprache, die alte Sprache war. Maui nannte er nicht Maui, sondern Maui-Tiki-Tiki und Maui-Po-Tiki. Und die Göttin Hina, Mauis göttliche Mutter, nannte er Ina. Und Mauis Göttervater nannte er manchmal Akalana und manchmal Kanaloa. Merkwürdig, daß einer, der dem Tod geweiht und sehr durstig ist, solche Dinge in Erinnerung behält. Und ich erinnere mich, daß der Priester Hawaii als Vai und Lanai als Ngangai bezeichnete.«

»Das waren die Maori-Namen«, erklärte Hardman Pool, »und die samoanischen und tonganischen Namen, die die Priester vor langer Zeit von ihren ersten Reisen aus dem Süden mitbrachten, als sie Hawaii entdeckten und sich hier niederließen.«

»Groß ist deine Weisheit, o Kanaka Oolea«, gestand ihm der Alte feierlich zu. »Ku, der unser Himmelsgewölbe trägt, nannte der Priester Tu und auch Ru, und La, unseren Sonnengott, nannte er Ra - «

»Und Ra war der Sonnengott der Ägypter vor langer, langer Zeit«, unterbrach ihn Pool mit einem Fünkchen zusätzlichen Interesses. »Wahrlich, ihr Polynesier seid weit herumgekommen in Zeit und Raum, seit es euch gibt. Es ist ein weiter Weg vom alten Ägypten jener Zeit, als Atlantis noch nicht untergegangen war, bis zum jungen Hawaii im nördlichen Pazifik. - Aber erzähl weiter, Kumuhana. Erinnerst du dich sonst noch an andere Einzelheiten dessen, was der Priester Eoppo sang?«

»Ganz zum Schluß«, berichtete Kumuhana weiter, »sang er etwas, das ich wortwörtlich behalten habe, obwohl ich halbtot war und bald unter dem Messer des Priesters sterben sollte. Hör zu! Es klang so.«

Und mit zittriger Fistelstimme, die den Ton nicht zu halten versuchte, sang der alte Mann.

»Ein Totenlied der Maori, ganz unverkennbar«, rief Pool aus, »von einem Hawaiianer mit tätowierter Zunge gesungen! Wiederhole es noch einmal, und ich werde es dir ins Englische übersetzen.«

Und als der andere es wiederholt hatte, sprach er es langsam auf Englisch nach:

»Doch der Tod ist nichts Neues.

Der Tod ist und war von je, seit der alte Maui starb.

Da lachte Pata-Tai laut auf Und weckte den Koboldgott,

Der ihn in zwei Stücke riß und einsperrte,

So daß die Abenddämmerung heraufkam.«

»Und schließlich«, fuhr Kumuhana fort, »wurde ich doch nicht geopfert. Eoppo, das tödliche Messer in der Hand und bereit, den Streich zu führen, stach nicht zu. Und ich? Was fühlte und dachte ich? Oft, Kanaka Oolea, habe ich seither bei dem Gedanken daran gelacht. Ich fühlte großen Durst. Ich wollte nicht sterben. Ich wollte Wasser trinken. Ich wußte, daß ich sterben würde, und ich mußte immer wieder an die tausend Wasserfälle denken, die ungenutzt die Palis [Klippen] an der Luvseite der Koolau-Berge herabstürzen. Ich dachte nicht an Anapuni. Ich war zu durstig. Ich dachte nicht an Malia. Ich war zu durstig. Aber immer wieder hatte ich die mit trockenem

Sand bedeckte Zunge des Harpuniers vor Augen, so wie ich sie zuletzt im Sande liegen gesehen hatte. Meine Zunge fühlte sich ebenso an. Und auf dem Boden des Kanus rollten viele Trinkkokosnüsse umher. Doch ich wagte nicht zu trinken, denn sie waren Häuptlinge, und ich war ein gemeiner Mann.

>Nein<, sagte Eoppo, und befahl den Häuptlingen, den Sarg über Bord zu werfen. >Es sind nicht zwei Moepuus, deshalb soll es keinen geben.<

>Opfere den einen!< riefen die Häuptlinge.

Aber Eoppo schüttelte den Kopf und sprach: >Wir können Kahekili nicht nur mit den Tarospitzen auf seinen Weg schicken.<

>Ein halber Fisch ist besser als gar keiner<, zitierte Aimoku das alte Sprichwort.

>Nicht bei der Beisetzung eines Alii<, erwiderte der Priester prompt. >So will es das Gesetz. Wir können bei Kahekili nicht knausern und ihm nur die Hälfte des Opfers geben, das ihm zusteht.<

So wurde ich also in dem Augenblick, als der Sarg über Bord ging, nicht getötet. Und es war merkwürdig, wie ich mich sofort des Lebens zu freuen begann. Und Malia kam mir wieder in den Sinn, und ich fing an, Rachepläne gegen Anapuni zu schmieden. Und mit dem Blut, das mich frisch durchströmte, wurde mein Durst noch zehnmal stärker, und Zunge, Mund und Kehle schienen mir so sandig wie die Zunge des Harpuniers. Da der Sarg über Bord war, saß ich nun auf dem Boden des Kanus. Eine Kokosnuß rollte mir zwischen die Beine, und ich schloß sie über ihr. Als ich sie jedoch aufhob, schlug mir Aimoku mit der Paddelkante auf die Hand. Sieh nur!«

Er hielt die Hand hoch und zeigte zwei Finger, die ganz verkrümmt waren, da man sie ihm nicht wieder eingerenkt hatte.

»Ich hatte keine Zeit, an meinen Schmerz zu denken, denn Schlimmeres stand mir bevor. Alle Häuptlinge schrien laut auf vor Entsetzen. Der Sarg war nicht gesunken, das Kopfende ragte aus dem Wasser. Es tanzte achteraus auf den Wellen. Und da das Kanu ohne Führung war, wurde es von See und Wind auf den Sarg zugetrieben. Die Scheibe war gerade zu uns hergedreht, so daß wir Kahekilis Gesicht und Kopf durch das Glas sehen konnten; und er grinste uns durch das Fenster an. Er schien bereits in der anderen Welt zu leben und zornig auf uns zu sein und mit der Macht der anderen Welt seinen Zorn an uns auslassen zu wollen. Auf und nieder tanzte er, und das Kanu trieb immer näher und näher.

>Töte ihn!< >Laß ihn bluten!< >Stoß ihm das Messer ins Herz!< So riefen die Häuptlinge in ihrer Furcht Eoppo zu. >Über Bord mit den Tarospitzen!< >Gib dem Alii seinen halben Fisch!<

Eoppo, obgleich ein Priester, fürchtete sich ebenfalls, und der Verstand schwand ihm beim Anblick Kahekilis in dem Haole-Sarg, der nicht sinken wollte. Er packte mich beim Haar, zog mich hoch und hob das Messer, um es mir ins Herz zu stoßen. Und in mir regte sich keinerlei Widerstand. Wieder wußte ich nur, daß ich sehr durstig war, und dicht vor meinen Augen, die mir fast übergehen wollten, baumelte die sandbedeckte Zunge des Harpuniers.

Doch ehe das Messer niedersausen und mich durchbohren konnte, geschah das, was mich rettete. Akai, der Halbbruder des Gouverneurs Boki, wie du dich erinnern wirst, war Steuermann des Kanus und deshalb im Heck des Bootes dem Sarg und seinem Toten, der nicht sinken wollte, am nächsten. Außer sich vor Angst stieß er mit der Spitze des Paddels wild darauflos, um den eingesargten Alii, der darauf versessen zu sein schien, wieder an Bord zu kommen, abzuwehren. Die Paddelspitze traf das Glas. Das Glas zerbrach - «

»Und der Sarg sank sofort«, fiel Hardman Pool ein, »da die Luft, die ihn über Wasser gehalten hatte, durch die zerbrochene Glasscheibe entwich.«

»Der Sarg sank sofort, da er von dem Schiffszimmermann wie ein Boot gebaut worden war«, bestätigte Kumuhana. »Und ich, der ich ein Moepuu war, wurde wieder ein Mensch. Und ich lebte, wenn ich auch vor Durst tausend Tode starb, ehe wir den Strand von Waikiki erreichten.

Und daher, Kanaka Oolea, ruhen die Überreste Kahekilis nicht im Königlichen Mausoleum. Sie liegen auf dem Grund des Molokai-Kanals, wenn sie sich nicht schon längst in treibende Schlammschlieren verwandelt haben oder, von inzwischen selbst verendeten Korallentieren verzehrt, ihrerseits Teil des Korallenriffs geworden sind. Von den Menschen bin ich der einzige Lebende, der Kahekilis sterbliche Hülle im Kanal von Molokai versinken sah.«

In der Pause, die darauf folgte und in der Hardman Pool in tiefes Nachdenken versunken war, leckte sich Kumuhana immer wieder die Lippen. Schließlich brach er das Schweigen:

»Die zwölf Dollar, Kanaka Oolea, für den Esel und den gebrauchten Sattel und das Zaumzeug?«

»Die zwölf Dollar wären dein«, entgegnete Pool, und gab dem Alten sechseinhalb Dollar, »befände sich nicht unter dem Gerümpel in meinem Stall Zaumzeug und Sattel, wie du sie brauchst; und beides will ich dir geben. Mit diesen sechseinhalb Dollar kannst du dir den dazu passenden Esel von dem Pake [Chinesen] in Kokako kaufen, der mir erst gestern sagte, daß er so viel kosten würde.«

So saßen sie da. Pool, der in Gedanken immer wieder das Totenlied der Maori, das er gehört hatte, hersagte und besonders an der Zeile »So daß die Abenddämmerung heraufkam« Gefallen fand, die seinem Schönheitsempfinden vollkommen entsprach. Kumuhana, der sich die Lippen leckte und erkennen ließ, daß er noch auf etwas wartete. Schließlich brach er das Schweigen.

»Ich habe lange gesprochen, Kanaka Oolea. Die Feuchtigkeit in meinem Mund hält nicht mehr so lange vor wie in meiner Jugend. Mir scheint, der Durst, der mich quälte, als ich die Zunge des Harpuniers vor mir sah, hat mich erneut überfallen. Der Gin mit Milch, Kanaka Oolea, ist sehr gut für eine Zunge wie die des Harpuniers.«

Ein flüchtiges Lächeln huschte über Pools Gesicht. Er klatschte in die Hände, und das kleine Mädchen kam herbeigelaufen.

»Bring ein Glas Gin mit Milch für den alten Kumuhana«, befahl Hardman Pool.

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