DAS KIND DES WASSERS

Verdrossen hörte ich dem endlosen Gesang des alten Kohokumu zu; er handelte von den Taten und Abenteuern Mauis, jenes prometheischen Halbgotts Polynesiens, der mit am Firmament befestigten Haken trockenes Land aus den Tiefen des Ozeans heraufholte, der das Himmelszelt emporhob, unter dem die Menschen zuvor auf allen vieren kriechen mußten, weil nicht genug Platz da war, um aufrecht zu stehen, und der die Sonne mit ihren sechzehn, in Schlingen gefangenen Beinen zum Stehen gebracht und ihr die Einwilligung abgenötigt hatte, den Himmel langsamer zu durchwandern - denn die Sonne war offensichtlich eine Gewerkschaftlerin und für den Sechs-Stunden-Tag, während Maui für den nicht gewerkschaftlich organisierten Betrieb und eine Arbeitszeit von zwölf Stunden eintrat.

»Das ist jetzt«, sagte Kohokumu, »aus Königin Liliuokalanis eigenem Familien-Mele:

>Maui wurde unzufrieden und bekämpfte die Sonne Mit einem Fallstrick, den er legte.

Und den Winter gewann die Sonne,

Und den Sommer eroberte Maui.. .<«

Da ich selbst auf den Inseln geboren bin, kannte ich die hawaiischen Mythen besser als dieser alte Fischer, wenn ich auch nicht jenes phänomenale Gedächtnis besaß, das ihn befähigte, sie endlose Stunden lang vorzutragen.

»Und du glaubst das alles?« fragte ich ihn in der wohlklingenden hawaiischen Sprache.

»Es ist vor langer Zeit geschehen«, überlegte er. »Ich habe Maui nie mit eigenen Augen gesehen. Aber alle unsere Ahnen erzählen uns seit altersher diese Geschichten, so wie ich, ein alter Mann, sie meinen Söhnen und Enkeln erzähle, die sie wiederum an ihre Söhne und Enkel und alle künftigen Nachfahren weitergeben werden.«

»Du glaubst also«, wiederholte ich hartnäckig, »dieses Lügenmärchen, daß Maui die Sonne wie einen wilden Stier mit dem Lasso eingefangen hat, und auch diesen anderen Schwindel, daß er den Himmel von der Erde hochstemmte?«

»Ich gelte nicht viel, und ich bin nicht sehr gescheit, o Lakana«, entgegnete mein Fischer. »Und doch habe ich die hawaiische Bibel gelesen, die uns die Missionare übersetzt haben, und da stand geschrieben, daß euer Großer Mann, der ganz am Anfang steht, Erde und Himmel, Sonne, Mond und Sterne und alle Arten von Tieren, von den Pferden bis zu den Kakerlaken, von den Tausendfüßlern und Stechmücken bis zu den Meerasseln und Quallen, und Mann und Frau und alles übrige in nur sechs Tagen erschaffen hat. Nun, Maui hat bei weitem nicht so viel getan. Er hat überhaupt nichts erschaffen. Er hat die Dinge lediglich in Ordnung gebracht, und er hat viel, sehr viel Zeit gebraucht, um diese Verbesserungen durchzuführen. Und es ist jedenfalls viel leichter und viel sinnvoller, die kleine Lüge zu glauben als die große.«

Und was konnte ich darauf schon antworten? Mit dem Argument der Vernunft hatte er mich geschlagen. Außerdem tat mir der Kopf weh. Und das komische war - wie ich mir selbst eingestehen mußte - , daß die Evolution uns klipp und klar beweist, daß der Mensch sich auf allen vieren fortbewegte, ehe er zum aufrechten Gang gelangte, daß die Astronomie bestätigt, daß die Rotationsgeschwindigkeit der Erde sich ständig verringert und dadurch die Tageslänge zugenommen hat und daß die Seismologen der Auffassung sind, alle hawaiischen Inseln seien durch Vulkantätigkeit vom Meeresboden emporgewachsen.

Zum Glück sah ich, wie eine Bambusstange, die in etwa hundert Metern Entfernung auf dem Wasser trieb, sich plötzlich aufrichtete und einen wahren Veitstanz vollführte. Das lenkte uns von der fruchtlosen Diskussion ab, und Kohokumu und ich tauchten unsere Paddel ein und eilten mit unserem kleinen Auslegerkanu zu dem tanzenden Stab. Kohokumu griff nach der Leine, die am dicken Ende der Stange befestigt war, und holte sie mit beiden Händen ein, bis schließlich ein etwa siebzig Zentimeter langer Ukikiki, der sich bis zum Schluß heftig wehrte, seinen nassen Silberleib in der Sonne aufblitzen ließ und mit dem Schwanz auf dem Boden des Kanus einen Trommelwirbel zu schlagen begann. Kohokumu hob einen sich windenden, schleimigen Tintenfisch auf, biß ihm mit seinen Zähnen bei lebendigem Leib ein Stück Köderfleisch heraus, befestigte den Köder an dem Haken und ließ Leine und Gewicht über Bord fallen. Die Stange schwamm flach auf dem Wasser, und das Kanu trieb langsam davon. Während Kohokumu den Halbkreis überblickte, den zwanzig solcher flach auf dem Wasser liegenden Stangen bildeten, wischte er sich die Hände an seinem nackten Oberkörper ab und stimmte den ermüdenden und jahrhundertealten Gesang von Kuali an:

»Oh, der große Angelhaken Mauis!

Manai-i-ka-lani - festgemacht am Firmament!

An einer irdenen Schnur hängt der Haken,

Ausgeworfen vom hochaufragenden Kauiki!

Sein Köder ist der rotschnäblige Alae Der Hina geweihte Vogel!

Er sinkt, sich heftig wehrend Und unter Qualen sterbend

Tief hinab auf Hawaii!

An der Angel hängt das Land unter dem Wasser,

Es schwimmt hinauf, hinauf zur Oberfläche,

Hina jedoch verbarg eine Schwinge des Vogels Und brach das Land unter dem Wasser entzwei!

Der Köder dort unten wurde geschnappt Und sogleich von den Fischen,

Den Ulua der schlammigen Tiefen, verschlungen!«

Seine Greisenstimme war rauh und kratzig, da er auf einem Leichenschmaus am Abend zuvor zuviel Dünnbier getrunken hatte, was nicht gerade dazu beitrug, mich weniger reizbar zu machen. Mein Kopf schmerzte. Der grelle Glanz der Sonne auf dem Wasser tat meinen Augen weh, außerdem war ich mehr als nur ein wenig seekrank von dem heftigen Geschaukle des Auslegerkanus auf der bewegten See. Die Luft stand. Auf der Leeseite von Waihee, zwischen dem weißen Strand und dem Riff, milderte nicht der leiseste Windhauch die drückende Schwüle. Ich glaube wirklich, mir war viel zu übel, als daß ich mich dazu hätte aufraffen können, das Fischen aufzugeben und an Land zu gehen.

Mit geschlossenen Augen lehnte ich mich zurück und verlor jedes Zeitgefühl. Ich vergaß sogar, daß Kohokumu sang, und wurde erst wieder daran erinnert, als er aufhörte. Ein Ausruf brachte mich dazu, meine Augen der stechenden Sonne preiszugeben. Er starrte durch das Nautiskop in die Tiefe.

»Es ist ein großer«, sagte er, reichte mir das Gerät und glitt mit den Füßen voraus ins Wasser.

Er tauchte ohne einen Spritzer und die kleinste Welle ein, drehte sich im Meer und schwamm nach unten. Ich verfolgte seinen Weg durch das Nautiskop, das nichts weiter als ein etwa siebzig Zentimeter langer, rechteckiger, nach oben hin offener Kasten mit einer den Boden wasserdicht verschließenden gewöhnlichen Glasscheibe ist.

Nun war Kohokumu eine Nervensäge, und seine Redseligkeit machte mich ganz krank, aber als ich beobachtete, wie er hinuntertauchte, konnte ich nicht umhin, ihn zu bewundern. Weit über siebzig Jahre alt, schlank wie eine Gerte und verschrumpelt wie eine Mumie, tat er etwas, wozu nur wenige junge Athleten meiner Rasse imstande sein würden. Bis zum Grund waren es zwölf Meter. Dort konnte ich, zum Teil sichtbar, doch größtenteils unter der Auswölbung eines Korallenstocks verborgen, sein Ziel erkennen. Seine scharfen Augen hatten den herausragenden Fangarm eines Tintenfisches entdeckt. Noch als er auf ihn zuschwamm, wurde der Tentakel langsam eingezogen, so daß nichts mehr von dem Tier zu sehen war. Doch das flüchtige Erscheinen dieses Tentakelstückchens ließ bereits vermuten, daß sein Besitzer ein Tintenfisch von beachtlicher Größe sein mußte.

Der Druck in einer Tiefe von zwölf Metern ist schon für einen jungen Mann keine Kleinigkeit, doch diesem Alten schien er nichts auszumachen. Ich bin sicher, daß es ihm nie in den Sinn kam, sich dadurch beeinträchtigt zu fühlen. Unbewaffnet, bis auf einen kurzen Malo oder Lendenschurz völlig nackt, ließ er sich von dem riesigen Tier, das seine Beute werden sollte, nicht abschrecken. Ich sah, wie er sich mit der rechten Hand an dem Korallenstock festhielt und seinen linken Arm bis zur Schulter in die Öffnung steckte. Eine halbe Minute verstrich, in der er mit der linken Hand herumzutasten und herumzuwühlen schien. Dann kam ein mit unzähligen Saugnäpfen bewehrter und heftig um sich schlagender Fangarm nach dem andern zum Vorschein. Sie packten seinen Arm und wanden und schlangen sich wie Nattern um seinen Körper. Plötzlich quoll mit einem Ruck der ganze Tintenfisch, ein richtiger Krake oder Polyp, hervor.

Doch der alte Mann hatte keine Eile, wieder in sein eigentliches Element, die Luft über dem Wasser, zu gelangen. Dort unten in zwölf Metern Tiefe, umklammert von einem Polypen, der von einer Fangarmspitze zur anderen einen Durchmesser von drei Metern hatte und den kräftigsten Schwimmer ohne weiteres ertränken konnte, tat er kaltblütig und ganz beiläufig das einzig Richtige, um über das Ungeheuer Herr zu werden. Er stieß sein mageres Habichtsgesicht direkt mitten hinein in die schleimige, sich windende Masse und biß mit seinen paar alten Hauern in das Herz und Lebenszentrum dieses Körpers. Nachdem das erledigt war, kam er langsam wieder nach oben, wie es jeder Schwimmer tun sollte, der aus der Tiefe hochsteigt und großen Druckunterschieden ausgesetzt ist. Am Kanu und noch während er im Wasser war und sich das gräßliche, ihn umklammernde Ding abschälte, brach der unverbesserliche alte Halunke in den Triumph-Pule aus, den schon unzählige Generationen von Krakenfängern vor ihm gesungen hatten:

»O Kanaloa der geweihten Nächte!

Steh aufrecht auf dem festen Boden!

Steh auf dem Boden, wo der Krake liegt!

Steh auf und hole den Kraken aus tiefer See!

Erhebe dich, o Kanaloa!

Reg dich! Reg dich! Weck den Kraken auf!

Laß den Kraken, der platt daliegt, erwachen! Laß den

Kraken, der ausgestreckt am Boden liegt.«

Ich verschloß Augen und Ohren und bot ihm nicht einmal meine Hilfe an, da ich genau wußte, daß er auch so in das schwankende Boot zurückklettern konnte und dabei nicht im mindesten Gefahr lief, es zum Kentern zu bringen.

»Ein prachtvoller Tintenfisch«, dröhnte er. »Es ist ein Wahine, ein weibliches Exemplar. Ich werde dir jetzt das Lied von der Kauri-Muschel vorsingen, der roten Kauri-Muschel, die wir als Köder für den Tintenfisch verwendeten - «

»Du hast dich gestern abend bei der Beerdigung schändlich benommen«, lenkte ich ihn ab. »Man hat mir alles über dich erzählt. Du hast viel Radau gemacht. Du hast gesungen, bis alle taub waren. Du hast den Sohn der Witwe beleidigt. Du hast Bier gesoffen wie ein Schwein. Dieses Gebräu ist nicht gut für dein hohes Alter. Eines Tages wirst du noch tot aufwachen. Du müßtest eigentlich heute ein Wrack sein.«

»Ha!« kicherte er. »Und du, der du kein Bier getrunken hast, der du noch nicht einmal geboren warst, als ich schon ein alter Mann war, der du gestern mit der Sonne und den Hühnern schlafen gegangen bist - du bist heute völlig am Boden zerstört. Kannst du mir das erklären. Meine Ohren dürsten danach, das zu erfahren, so wie meine Kehle gestern abend dürstete. Und sieh einer an, ich bin heute, wie jener Engländer mit seiner Jacht zu sagen pflegte, in sehr guter Form, in verteufelt guter Form.«

»Ich geb’s auf mit dir«, entgegnete ich achselzuckend. »Nur eins ist klar, nämlich daß der Teufel dich nicht haben will. Der Ruf deiner Singerei ist dir vorausgeeilt.«

»Nein«, antwortete er nach sorgfältiger Überlegung. »Das ist es nicht. Der Teufel wird sich über mein Kommen freuen, denn ich habe einige sehr schöne Lieder für ihn und Skandal- und Klatschgeschichten von den hohen Aliis, die ihn zum Lachen bringen werden. Deshalb laß mich dir das Geheimnis meiner Geburt erklären. Die See ist meine Mutter. Ich wurde während eines von Kona kommenden Sturmes im Kanal von Kahoolawe in einem Doppelkanu geboren. Von ihr, der See, meiner Mutter, erhielt ich meine Kraft. Immer wenn ich wie heute in ihre Arme zurückkehre, um mich von ihr an die Brust drücken zu lassen, werde ich wieder stark, und zwar unverzüglich. Sie ist für mich die Milchspenderin, die Quelle des Lebens - «

»Erinnert an Antaeus!« dachte ich.

»Eines Tages«, fuhr der alte Kohokumu in seiner Erzählung fort, »wenn ich wirklich alt bin, werden die Leute von mir berichten, ich sei im Meer ertrunken. Aber das wird nur ein Hirngespinst der Menschen sein. In Wahrheit bin ich dann in die Arme meiner Mutter zurückgekehrt, um dort unter ihrem Herzen bis zu meiner Wiedergeburt zu ruhen, wenn ich als feuriger, strahlender Jüngling wie einst Maui selbst in seiner goldenen Jugend wieder zum Sonnenlicht emporsteigen werde.«

»Eine seltsame Religion«, bemerkte ich.

»Als ich jünger war, habe ich mir meinen armen Kopf über seltsamere Religionen zerbrochen«, entgegnete mir der alte Kohokumu. »Aber höre, du junger Weiser, auf die Weisheit meines Alters. Das eine weiß ich: Nun da ich älter werde, suche ich weniger nach der Wahrheit, die von außen kommt, und entdecke mehr von der Wahrheit, die in mir selbst liegt. Weshalb ist mir der Gedanke gekommen, daß ich zu meiner Mutter zurückkehre und von dort dem Licht wiedergeboren werde? Du weißt es nicht. Auch ich weiß es nicht, außer daß dieser Gedanke ohne ein gedrucktes Wort und ohne mir von einer Menschenstimme eingeflüstert worden zu sein, ohne jede Eingebung von anderswoher in mir selbst entstanden ist, in den Tiefen meines Innern, das so tief ist wie die See. Ich bin kein Gott. Ich erschaffe keine Dinge. Deshalb habe ich auch diesen Gedanken nicht erschaffen. Ich kenne weder seinen Vater noch seine Mutter. Er stammt aus alten Zeiten, bevor es mich gab, und deshalb ist er wahr. Der Mensch erschafft keine Wahrheit. Der Mensch, sofern er nicht blind ist, erkennt die Wahrheit nur, wenn er sie sieht. Ist dieser Gedanke, den ich gedacht habe, ein Traum?«

»Vielleicht bist du es, der ein Traum ist«, lachte ich. »Und ich und der Himmel und das Meer und das felsenfeste Land sind Träume, lauter Träume.«

»Ich habe mir das oft überlegt«, versicherte er mir ganz ernsthaft. »Es kann gut sein. Letzte Nacht träumte mir, ich sei eine Lerche, eine wunderschön singende Lerche am Himmel, wie die Lerchen über den Hochlandweiden des Haleakala. Und ich flog empor, der Sonne entgegen und sang, sang, wie der alte Kohokumu niemals gesungen hat. Ich erzähle dir jetzt, daß mir träumte, ich sei eine Lerche, die in den Lüften sang. Aber kann nicht ich, mein wahres Ich, die Lerche sein? Und kann nicht das, was ich dir jetzt erzähle, der Traum sein, den ich, die Lerche, gerade träume? Wer bist du, um mir das zu bejahen oder zu verneinen? Wagst du es, mir zu sagen, daß ich keine Lerche bin, die schläft und träumt, sie sei der alte Kohokumu?«

Ich zuckte die Schultern, und er fuhr triumphierend fort.

»Und woher willst du wissen, ob du nicht der alte Maui selbst bist, der schläft und träumt, er sei John Lakana und unterhalte sich mit mir in einem Kanu? Und kann es nicht sein, daß du selbst als der alte Maui aufwachst und dich vor Lachen ausschüttest und sagst, du hättest einen komischen Traum gehabt, in dem dir träumte, du seist ein Haole?«

»Ich weiß nicht«, gab ich zu. »Außerdem würdest du mir nicht glauben.«

»In Träumen steckt viel mehr, als wir wissen«, versicherte er mir mit großem Ernst. »Träume gehen weit, weit zurück, vielleicht bis zu der Zeit vor allem Anbeginn. Vielleicht hat der gute Maui nur geträumt, er habe Hawaii vom Meeresgrund heraufgezogen? Dann wäre dieses Land Hawaii nur ein Traum, und du und ich und der Krake dort kämen nur in Mauis Traum vor? Und die Lerche auch?«

Er seufzte und ließ den Kopf auf die Brust sinken.

»Und ich zerbreche mir den Kopf über Geheimnisse, die nie gelüftet werden können«, fuhr er fort, »bis ich müde werde und vergessen möchte, und deshalb trinke ich Bier und gehe zum Fischen und singe alte Lieder und träume, ich sei eine Lerche, die hoch oben in den Lüften singt. Das gefällt mir am besten von allem, und das träume ich oft, wenn ich viel Bier getrunken habe - «

In sehr niedergeschlagener Stimmung spähte er durch das Nautiskop in die Lagune hinunter.

»Eine Weile wird nichts anbeißen«, verkündete er. »Die Haie streifen auf der Suche nach Beute umher, und wir werden warten müssen, bis sie fort sind. Und damit die Zeit nicht zu lang wird, will ich dir das Lied an Lono beim Kanuanlanden singen. Du erinnerst dich daran:

>Gib mir den Baumstamm, o Lono!

Gib mir die Hauptwurzel des Baumes, o Lono!

Gib mir das Gehör des Baumes, o Lono!<«

»Um der Barmherzigkeit willen, singe nicht!« unterbrach ich ihn. »Ich habe Kopfschmerzen, und dein Gesinge tut mir weh. Du magst ja heute in verteufelt guter Form sein, aber deine Kehle ist eingerostet. Da ist es mir lieber, wenn du über Träume sprichst oder mir irgendwelche Lügenmärchen auftischst.«

»Es ist schade, daß du krank bist, dabei bist du noch so jung«, gab er gutgelaunt nach. »Und ich werde auch nicht mehr singen. Ich werde dir etwas erzählen, das du nicht kennst und wovon du noch nie gehört hast; etwas, das kein Traum und keine Lüge ist, sondern von dem ich weiß, daß es sich wirklich ereignet hat. Vor nicht allzulanger Zeit lebte hier am Strand bei eben dieser Lagune ein kleiner Junge, der Keikiwai hieß, was, wie du weißt, Kind des Wassers heißt. Er war wirklich ein Kind des Wassers. Seine Götter waren die Meeres- und Fischgötter, und er verstand von Geburt an die Sprache der Fische, was die Fische nicht wußten, bis es die Haie eines Tages herausfanden, als sie ihn sprechen hörten.

Das trug sich folgendermaßen zu. Schnelle Läufer hatten die Nachricht gebracht, daß der König eine Reise um die Insel machen würde, und die Einwohner von Waihee angewiesen, ihm ein Luau, ein Festmahl, zu bereiten. Wenn der König eine Reise machte, war es für die wenigen Einwohner solch kleiner Ortschaften immer sehr mühsam und schwierig, die Mägen seiner vielen Begleiter zu füllen. Denn er kam stets mit seiner Gemahlin und deren Damen, mit seinen Priestern und Zauberern, seinen Tänzern, Flötenspielern, Hulasängern, Kriegern und Dienern sowie seinen Oberhäuptlingen und deren Frauen und Zauberern und Kriegern und Dienern.

Manchmal hatte seine Reiseroute in kleinen Ansiedlungen wie Waihee Abmagerung und Hunger zur Folge. Doch ein König muß bewirtet werden, und es ist nicht gut, ihn zu erzürnen. So vernahm Waihee die Nachricht von seinem Kommen wie die Warnung vor einer Katastrophe, und alle, die Nahrung von Feld, Teich, Gebirge oder aus dem Meer lieferten, waren eifrig dabei, Vorräte für das Festmahl herbeizuschaffen. Und siehe, alles wurde zusammengetragen, vom erlesensten königlichen Taro bis zu den Zuckerrohrsprossen zum Braten, von Opihis bis zum Limu, vom Geflügel bis zu wilden Schweinen und mit Poi gefütterten jungen Hunden - alles, außer einem. Die Fischer konnten keinen Hummer fangen.

Nun muß man wissen, daß Hummer des Königs Lieblingsspeise war. Er zog ihn jedem anderen Kow-kow [Essen] vor, und seine Läufer hatten besonders darauf hingewiesen. Und da gab es nun keine Hummer, und es ist nicht gut, den Bauch eines Königs zu erzürnen. Zu viele Haie hielten sich innerhalb des Riffs auf. Das war das Problem. Ein junges Mädchen und ein alter Mann waren schon von ihnen gefressen worden. Und von den jungen Männern, die es wagten, nach Hummern zu tauchen, war einer verschlungen worden, und ein anderer verlor eine Hand und einen Fuß.

Doch da war Keikiwai, das Kind des Wassers, erst elf Jahre alt, aber selbst ein halber Fisch und der Sprache der Fische mächtig. Die Häuptlinge kamen zu seinem Vater und baten ihn inständig, das Kind des Wassers nach Hummern auszuschicken, um den Bauch des Königs zu füllen und seinen Zorn abzuwenden.

Was nun geschah, wurde miterlebt und beobachtet. Denn die Fischer und ihre Frauen, die Taropflanzer, die Vogelfänger und die Häuptlinge und ganz Waihee, sie alle kamen herbei und traten von der Felskante zurück, auf der das Kind des Wassers stand und zu den Hummern tief unten am Meeresgrund hinunterblickte.

Und ein Hai, der mit seinen Katzenaugen hinaufschaute, beobachtete ihn und holte mit dem Signal >Frisches Fleisch< in der Haisprache alle Haie in der Lagune herbei. Denn auf diese Weise arbeiten die Haie zusammen, deshalb sind sie auch so stark. Und die Haie kamen dem Ruf nach, bis vierzig von ihnen versammelt waren, lange und kurze, magere und dicke, vierzig an der Zahl; und sie sprachen miteinander und sagten: >Seht euch diesen Leckerbissen von einem Kind an, diese köstliche Portion süßen Menschenfleisches, ohne das Salz des Meeres, dessen wir schon überdrüssig sind, schmackhaft und gut verträglich, ein köstlicher Genuß, der unter unseren Herzen nur so schmelzen wird, wenn unsere Bäuche ihn aufnehmen und ihm seine Süße entziehen.<

Sie sagten noch viel mehr: >Er ist gekommen, um Hummer zu fangen. Wenn er hineinspringt, gehört er einem von uns. Er ist nicht wie der Greis, den wir gestern fraßen, vor Alter zäh und trocken, und auch nicht wie die jungen Burschen, deren Gliedmaßen zu harte Muskeln hatten, sondern zart, so zart, daß er uns im Schlund zergehen wird, ehe er in den Magen gelangt. Wenn er hinabtaucht, werden wir uns auf ihn stürzen, und der Glückspilz unter uns wird ihn bekommen und, schwupps, wird er, mit einem Biß und auf einmal geschluckt, im Bauch des Glücklichsten unter uns verschwunden sein.<

Und Keikiwai, das Kind des Wassers, hörte die Verschwörung, da er die Sprache der Haie verstand; und er richtete in der Hai-Sprache ein Gebet an Mokuhalii, den Gott der Haie, und die Haie hörten es und winkten einander mit ihren Schwanzflossen zu und zwinkerten mit ihren Katzenaugen zum Zeichen, daß sie seine Rede verstanden. Und dann sagte er: >Ich werde nun nach einem Hummer für den König tauchen. Und mir wird nichts geschehen, weil der Hai mit dem kürzesten Schwanz mein Freund ist und mich beschützen wird.<

Und mit diesen Worten hob er einen Brocken Lavagestein auf und warf ihn mit einem mächtigen Plumps einige Meter entfernt ins Wasser. Die vierzig Haie schwammen eiligst zu der Stelle, während er tauchte, und als sie entdeckten, daß sie ihn verfehlt hatten, war er schon auf dem Grund gewesen, wieder hochgekommen und kletterte aus dem Wasser zurück an Land, in der Hand einen dicken Hummer, einen Wahine-Hummer voller Eier für den König.

>Ha!< machten die Haie, höchst verärgert. >Da ist ein Verräter unter uns. Dieser Leckerbissen von einem Kind, dieses süße Häppchen, hat es bestätigt und hat den einen unter uns bloßgestellt, der ihn gerettet hat. Laßt uns nun die Länge unserer Schwänze messen!<

Was sie dann auch taten, in einer langen Reihe, Seite an Seite, wobei die mit den kurzen Schwanzflossen schwindelten und sich streckten, um länger zu erscheinen, und die mit den längeren schwindelten und sich streckten, um nicht ihrerseits übervorteilt und an Länge übertroffen zu werden. Sie waren sehr wütend auf den einen mit dem kürzesten Schwanz und stürzten sich von allen Seiten auf ihn und fraßen ihn auf, bis nichts mehr von ihm übrig war.

Wieder lauschten sie, während sie darauf warteten, daß das Kind des Wassers hineinsprang. Und wieder richtete das Kind des Wassers sein Gebet in der Sprache der Haie an Mokuhalii und sagte: >Der Hai mit dem kürzesten Schwanz ist mein Freund und wird mich beschützen.< Und wieder warf das Kind des Wassers einen Lavabrocken ins Meer, diesmal etliche Meter weit auf die andere Seite. Die Haie stürzten darauf zu und stießen in ihrer Hast zusammen. Dabei peitschten ihre Schwanzflossen und spritzten so heftig, daß das Wasser voller Schaum war und sie nichts sehen konnten, und jeder dachte, ein anderer verschlinge den Leckerbissen. Und das Kind des Wassers kam herauf und kletterte abermals mit einem dicken Hummer für den König heraus.

Und die neununddreißig Haie maßen ihre Schwänze und fraßen den mit dem kürzesten auf, so daß es nur noch achtunddreißig Haie waren. Und das Kind des Wassers fuhr fort mit dem, was ich geschildert habe, und auch die Haie machten weiter so, wie ich es erzählt habe, und für jeden Hai, den seine Brüder fraßen, wurde wieder ein dicker Hummer für den König auf den Felsen gelegt. Natürlich gab es viel Zank und Streit unter den Haien, als sie ihre Schwänze maßen. Doch am Ende war alles korrekt und mit rechten Dingen zugegangen, denn als nur noch zwei Haie übrig waren, waren es auch die beiden größten der ursprünglich vierzig Haie.

Und das Kind des Wassers behauptete wieder, daß der Hai mit dem kürzesten Schwanz sein Freund sei, narrte die beiden Haie erneut mit einem Lavabrocken und brachte noch einen Hummer herauf. Jeder der beiden Haie bezichtigte den anderen, er besitze den kürzeren Schwanz, und sie kämpften miteinander, um sich gegenseitig aufzufressen, und der mit dem längeren Schwanz gewann - «

»Halt, o Kohokumu!« unterbrach ich ihn. »Vergiß nicht, daß dieser Hai bereits - «

»Ich weiß, was du sagen willst«, schnitt er mir das Wort ab. »Und du hast recht. Er brauchte sehr lange, um den neununddreißigsten Hai zu fressen, denn in dem neununddreißigsten Hai steckten schon die neunzehn anderen Haie, die er gefressen hatte, und in dem vierzigsten Hai die neunzehn anderen Haie, die er verschlungen hatte, und er hatte auch nicht mehr den gleichen Appetit wie zu Anfang. Aber du darfst nicht vergessen, daß er schon von vornherein ein sehr großer Hai war.«

Er brauchte so lange, um den anderen Hai und die neunzehn Haie, die dieser im Bauch hatte, zu fressen, daß er immer noch fraß, als die Dunkelheit hereinbrach und die Leute von Waihee mit all den Hummern für den König heimgingen. Und fanden sie nicht den letzten Hai am nächsten Morgen tot am Strand? Sein Leib war von der Völlerei geplatzt und klaffte weit.

Kohokumu kam nun zu Ende und hielt meinem Blick mit seinen verschmitzten Augen stand.

»Halt, o Lakana!« kam er den Worten zuvor, die mir auf der Zunge lagen. »Ich weiß, was du als nächstes sagen willst. Du willst sagen, daß ich das ja nicht mit meinen eigenen Augen gesehen habe und daß ich deshalb nicht sicher weiß, was ich dir erzähle. Aber ich weiß es doch und kann es dir auch beweisen. Mein Vater kannte den Enkel des Onkels von Keikiwais Vater. Außerdem ist dort auf der Felsspitze, auf die ich mit meinem Finger zeige, die Stelle, wo das Kind des Wassers stand und von wo es hinuntersprang. Ich habe dort selbst nach Hummern getaucht. Es ist ein ausgezeichneter Platz für Hummer. Ich habe dort auch oft Haie bemerkt. Und dort am Grund sind, was ich am besten wissen muß, weil ich sie gesehen und gezählt habe, die neununddreißig Lavabrocken, die das Kind des Wassers, wie ich es dir schilderte, hineingeworfen hat.«

»Aber - «, begann ich.

»Ha!« unterbrach er mich erneut. »Sieh nur! Während wir jetzt reden, haben die Fische wieder angefangen zu beißen.«

Er deutete auf drei Bambusstangen, die sich aufgerichtet hatten, einen wilden Tanz vollführten und anzeigten, daß drunten an den Leinen Fische am Haken hingen, die sich heftig wehrten. Als er sich nach seinem Paddel bückte, brummte er in meine Richtung:

»Natürlich weiß ich es. Die neununddreißig Lavasteine liegen immer noch dort. Du kannst sie selbst zählen, wann immer du willst. Natürlich weiß ich es, und ich weiß es ganz genau.«

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