DIE STARKE BRANDUNG

Den Touristinnen unter dem Laubdach der Hau-Bäume, die den Strand vor dem Moana-Hotel säumen, blieb die Luft weg, als Lee Barton und seine Frau Ida aus den Umkleidekabinen traten. Und als das Paar an ihnen vorbei zum Sand hinunterging, rangen sie immer noch um ihre Fassung. Nicht etwa, daß Lee Barton etwas an sich gehabt hätte, das ihnen den Atem raubte. Diese Damen waren nicht von der Sorte, denen beim Anblick eines nur mit einem Badeanzug bekleideten männlichen Körpers der Atem stockte, gleichgültig mit welchen prächtigen Proportionen und schwellenden Muskeln so ein Körper auch ausgestattet sein mochte. Dennoch würde der Anblick seiner Gestalt Trainer und Sportlehrer zu einem anerkennenden Schnauben verleitet haben. Nur hätten sie nicht so wie die Frauen nach Luft geschnappt, bei denen diese Reaktion Ausdruck moralischer Entrüstung war.

Ida Barton war die Ursache ihrer mißbilligenden Irritation. Bereits der erste Blick, den sie von ihr erhaschten, löste dieses tiefe Mißfallen aus. Sie dachten - mit solcher Inbrunst betrogen sie sich selbst -, daß sie über ihren Badeanzug entrüstet wären. Doch Freud hat aufgezeigt, wie manche Menschen immer dann, wenn Erotik ins Spiel kommt, dazu neigen, eine Sache durch eine andere zu ersetzen und an diesem Ersatz so heftig Anstoß zu nehmen, als liefere er den wahren Grund.

Ida Bartons Badeanzug war, was Damenbadeanzüge angeht, sehr hübsch. Aus feinster, dichtgewebter schwarzer Wolle mit weißem Besatz und einem weißen Gürtel, war er hochgeschlossen, kurzärmelig, mit angesetztem kurzen Rockchen. Ebenso kurz wie der Rock war auch die Beinbekleidung. Und doch waren viele der Damen am Strand vor dem angrenzenden Outrigger-Club, die ins Wasser gingen oder wieder herauskamen, ohne daß jemand bei ihrem Anblick nach Atem rang, viel gewagter gekleidet. Ihre Badeanzüge mit kurzen Beinen und Röcken paßten ihnen wie angegossen, waren jedoch ärmellos, wie es bei Herrenbadeanzügen üblich ist, mit tiefausgeschnittenen Armlöchern, und zeigten durch die entblößten Achselhöhlen, daß die Trägerinnen mit dem 1916 üblichen Dekollete vertraut waren.

Es war also nicht der Badeanzug Ida Bartons, wenn die Damenwelt sich auch gerne dieser Täuschung hingeben wollte. Es waren in erster Linie ihre Beine, oder sagen wir, es war ihre gesamte Erscheinung, dieses süße und funkelnde Juwel ihrer Weiblichkeit, das die Anwesenden aus dem seelischen Gleichgewicht brachte. Ob Witwe, verheiratete Frau oder junges Mädchen, die allesamt ihre schlaffen Muskeln schonten oder ihren Treibhausteint im Schatten des Laubdaches der Hau-Bäume pflegten, sie alle empfanden die unmittelbare Herausforderung, die von ihr ausging. Denn sie war auch eine Bedrohung und mit ihrer Überlegenheit ein Angriff auf den von ihnen gewählten, mehr oder weniger erfolgreichen Lebensplan.

Doch sie sprachen es nicht aus. Sie erlaubten sich nicht einmal, es zu denken. Sie glaubten, es sei der Badeanzug, und sagten das auch den anderen gegenüber, ohne die zwanzig viel gewagter gekleideten, aber nicht so gefährlich schönen Frauen zu beachten. Hätte man aus den Seelen dieser mißbilligenden Geschöpfe herausfiltern können, was der Verdammung von Idas Badeanzug zugrunde lag, so wäre man auf den von sexueller Eifersucht erfüllten Gedanken gestoßen, daß es keiner Frau, die so schön war wie diese, gestattet sein dürfte, ihre Schönheit zu zeigen. Es war ihnen gegenüber einfach nicht fair. Welche Chance blieb ihnen bei einer so unübersehbar gefährlichen Rivalin schließlich noch, Männer zu erobern?

Sie hatten recht. Denn Stanley Patterson sagte zu seiner Frau, die sich wie er im Sand neben dem kleinen Süßwasserbach trocknen ließ, den die Bartons auf ihrem Weg zum Strand des Outrigger-Clubs durchwateten:

»Großer Gott, Herr über alles, was Modell sitzt, schau sie dir an! Meine Liebe, hast du je eine kleine Frau mit einem solchen Paar Beine gesehen? Schau nur, wie rund und wohlgeformt sie sind. Es sind Knabenbeine. Ich habe Federgewichte im Boxring mit solchen Beinen gesehen. Und dabei sind es doch auch unverkennbar Frauenbeine. Da besteht kein Zweifel. Die geschwungene Linie dieses Oberschenkels auf der Vorderseite! Und die sie genau ergänzende Fülle auf der Rückseite! Und wie sich die einander gegenüberliegenden Kurven zum Knie hin verjüngen, zu einem Knie, das wirklich ein Knie ist! Mich juckt es in den Fingern. Wenn ich jetzt etwas Ton hier hätte.«

»Es ist ein vollkommenes menschliches Knie«, stimmte ihm, nicht weniger überwältigt, seine Frau zu, denn wie ihr Mann war auch sie Bildhauerin. »Schau nur, wie sich das Gelenk unter der Haut bewegt. Es hat Form und ist glücklicherweise nicht unter einer Fettschicht begraben.« Sie schwieg und seufzte, als sie an ihre eigenen Knie dachte. »Es ist fehlerfrei und schön und zierlich. Welch eine Anmut! Wenn ich je die Anmut eines Körpers gesehen habe, dann jetzt. Wer sie wohl ist?«

Stanley Patterson, der sie immer noch gebannt anstarrte, übernahm wieder seinen Part des Chorus.

»Hast du gesehen, daß bei ihr die runden Muskelkissen auf der Knieinnenseite, die die meisten Frauen x-beinig erscheinen lassen, fehlen. Es sind Knabenbeine, fest und trittsicher - « »Und doch reizende Frauenbeine, weich und rund«, beeilte sich seine Frau hinzuzufügen. »Und schau, Stanley! Sieh nur, wie sie auf den Fußballen geht. Sie wirkt dadurch so leicht wie eine Schwanendaune. Jeder Schritt scheint ein wenig über der Erde zu schweben, und jeder weitere hebt sie noch ein bißchen höher, bis man den Eindruck erhält, sie fliege oder sei gerade im Begriff, aufzusteigen...«

Soweit Stanley Patterson und seine Frau. Aber sie waren Künstler und sahen sie deshalb mit anderen Augen, während die Spießruten der anderen Blicke Ida Barton überall auf den Lanais (Veranden) des Outrigger-Clubs und im Schatten der Hau-Bäume des dicht angrenzenden Seaside-Hotels verfolgten. Der größte Teil des Publikums im Outrigger bestand nicht aus Touristen, sondern aus Clubmitgliedern und Leuten, die schon seit langem auf Hawaii lebten. Und sogar diese Frauen rangen nach Atem.

»Es ist einfach unanständig«, meinte Mrs. Black zu ihrem Mann Hanley. Sie selbst war eine um die Taille herum viel zu füllige Matrone von fünfundvierzig, die auf den Hawaii-Inseln geboren war und nie etwas von Ostende gehört hatte.

Hanley Black bedachte die strafbare Formlosigkeit seiner Frau und ihren prallen vorsintflutlichen Badeanzug mit einem vernichtenden Blick. Sie waren lange genug miteinander verheiratet, so daß er mit seiner Meinung nicht hinter dem Berg hielt.

»Der Badeanzug dieser fremden Dame läßt deinen eigenen unanständig aussehen. Du erscheinst wie ein Geschöpf, das sich schmählich bemüht, unter einem grotesken Gewand irgendeine geheime Scheußlichkeit zu verbergen.«

»Sie hat die Körperhaltung einer spanischen Tänzerin«, sagte Frau Patterson zu ihrem Mann, denn die beiden waren in dem kleinen Bach hinter ihrem Traumbild hergewatet.

»Beim heiligen Georg, das ist wahr«, stimmte Stanley Patterson ihr bei. »Sie erinnert mich an Estrellita. Der Torso gerade ausgeprägt genug, schlanke Taille, nicht zu mager in der Bauchgegend, mit Muskeln wie ein junger Boxer, der seinen Leib gestählt hat, um die Schläge nicht fürchten zu müssen. Sie braucht sie, um sich so zu halten und als Gegengewicht zur Rückenmuskulatur. Sieh nur diese muskulöse Rückenlinie! Wie bei Estrellita.«

»Wie groß, meinst du, wird sie sein?« erkundigte sich seine Frau.

»Das täuscht bei ihr«, war die taxierende Antwort. »Sie könnte etwa einen Meter fünfundfünfzig, vielleicht auch einen Meter sechzig oder einen Meter dreiundsechzig messen. Das kommt durch ihre Art zu gehen, die du als fast schwebend bezeichnet hast.«

»Ja, das ist es«, stimmte Frau Patterson zu. »Es ist ihre Energie, diese unbändige Lebenskraft, die sie scheinbar auf den Zehenspitzen gehen läßt.«

Stanley Patterson dachte eine Weile darüber nach.

»Ja, genau«, rief er aus. »Sie ist eigentlich ziemlich klein. Ich würde ihr ohne Schuhe einen Meter achtundfünfzig geben. Und als Gewicht würde ich ihr höchstens neunundvierzig, fünfzig, äußerstenfalls zweiundfünfzig Kilo zugestehen.«

»Sie wiegt bestimmt keine fünfzig Kilo«, behauptete seine Frau im Brustton der Überzeugung.

»Und angezogen und noch dazu mit ihrer Haltung (die der Vitalität und Willenskraft entspringt) würde ihre kleine Statur niemandem auffallen.«

»Ich kenne diese Art Frau«, nickte seine Frau. »Du begegnest ihr irgendwo in der Gesellschaft, und du hast das Gefühl, als sei sie, obwohl nicht unbedingt eine grazile, große Frau, doch sehr viel größer als der Durchschnitt. Und nun ihr Alter?«

»Das kannst du am besten einschätzen«, wich er aus.

»Sie könnte fünfundzwanzig, aber ebensogut achtunddreißig sein.«

Doch Stanley Patterson hatte ihr unhöflicherweise gar nicht zugehört.

»Es sind nicht nur ihre Beine!« rief er bewundernd aus. »Es ist ihre gesamte Erscheinung. Sieh nur die Zartheit ihres Unterarms. Und die sanft ansteigende Linie bis zur Schulter. Und dieser Bizeps! Er ist kräftig. Ich möchte wetten, daß sie ihn ganz beachtlich anspannen kann.«

Keiner Frau, viel weniger noch einer Ida Barton, hätte die Wirkung verborgen bleiben können, die sie am Strand von Waikiki hervorrief. Aber statt sie glücklich und ein wenig stolz zu machen, irritierte es sie nur.

»Diese falschen Frauenzimmer«, lachte sie ihrem Mann zu. »Und wenn man bedenkt, daß ich vor fast genau einem Drittel Jahrhundert hier geboren bin! Aber damals waren sie noch nicht so schlimm. Vielleicht weil es damals keine Touristen gab. Ja, Lee, genau an diesem Strand vor dem Outrigger habe ich schwimmen gelernt. Wir kamen immer mit Papa in den Ferien und an den Wochenenden hierher und kampierten in einer Grashütte, die eben an der Stelle stand, wo jetzt die Damen des Outrigger-Clubs ihren Tee einnehmen. Und Tausendfüßler fielen von dem Strohdach auf uns herab, während wir schliefen, und wir aßen alle Poi und Opihis und rohen Aku, und niemand hatte besonders viel an beim Schwimmen und Fischen, und es gab keine richtige Straße zur Stadt. Ich erinnere mich, daß sie bei starken Regenfällen manchmal so überschwemmt war, daß wir mit dem Kanu in die Stadt fahren mußten, über das Riff und dann durch den Hafen von Honolulu.«

»Wenn mich nicht alles täuscht«, fügte Lee Barton hinzu, »war das gerade zu der Zeit, als ein gewisser junger Bursche hierherkam, um auf seiner Rundreise für ein paar Wochen zu bleiben. Ich muß dich damals am Strand gesehen haben - eines von den Kindern, die wie die Fische schwammen. Ja, gütiger Gott, die Frauen hier ritten alle im Herrensitz, und das war lange, bevor die übrige weibliche Gesellschaft dies nicht mehr als unsittlich ansah und auch dazu überging, gleichzeitig beide Seiten eines Pferdes zu benutzen. Damals lernte ich selbst an diesem Strand schwimmen. Du und ich, wir haben vielleicht sogar auf den gleichen Brechern das Wellenreiten geübt, oder ich habe dir vielleicht eine Handvoll Wasser in den Mund gespritzt, und du hast mir dafür die Zunge herausgestreckt - «

Unterbrochen durch das hörbare, entrüstete Nach-Luft-Schnappen eines altjüngferlich wirkenden weiblichen Wesens, das sich in ihrer unmittelbaren Nähe in einem ungeheuer häßlichen Badeanzug sonnte, bemerkte Lee Barton, wie seine Frau sich unwillkürlich und fast sichtbar verkrampfte.

»Ich finde das amüsant«, sagte er zu ihr. »Dadurch werden deine kräftigen, kleinen Schultern nur noch kräftiger. Es mag dich vielleicht befangen machen, aber es gibt dir auch gleichzeitig ein unwahrscheinliches Selbstvertrauen.«

Denn, das muß man vorausschicken, Lee Barton war ein Übermensch ebenso wie seine Frau Ida, oder zumindest waren sie Personen, die von unerfahrenen Buchrezensenten so bezeichnet wurden, von oberflächlichen Männern und Frauen, akademisch verbildeten, saft- und kraftlosen Kritikern, die aufgrund des jämmerlichen Existenzniveaus, auf dem sie sich bewegen, nicht mehr imstande sind, großartige Menschen wahrzunehmen, die ihren Horizont übersteigen. Dieses traurige Völkchen, Echos einer längst überlebten Vergangenheit und aufdringliche, selbsternannte Sargträger der Gegenwart und Zukunft, die, Eunuchen gleich, nur stellvertretend leben und als Platzhalter fremder Sinnlichkeit agieren, behauptet, da sie selbst, ihre Umgebung und ihre beschränkten Lebensäußerungen mittelmäßig und banal sind, daß kein Mann und keine Frau über das Mittelmaß und das Banale hinausgelangen kann.

Da ihnen selbst Großartigkeit fehlt, sprechen sie der ganzen Welt Großartigkeit ab, zu feige für das Außergewöhnliche und den Heldenmut, versichern sie, daß Außergewöhnlichkeit und Heldenmut allerspätestens im Mittelalter aufgehört hätten zu existieren; selbst nur flackernde kleine Lichter, sind ihre schwachen Augen geblendet, so daß sie die flammenden Feuer anderer Seelen, die ihren Himmel erleuchten, nicht sehen. Da sie nicht mehr Kraft besitzen, als man sie Pygmäen zugestehen mag, können sie sich nicht vorstellen, daß anderen ein größeres Potential innewohnt. Früher gab es Riesen; doch diese Riesen sind, wie ihnen ihre modrigen Bücher erzählen, längst ausgestorben, und nur ihre Gebeine sind noch übrig. Weil man nie Berge gesehen hat, gibt es auch keine Berge.

Im Morast ihres in selbstzufriedener Weise auf Ewigkeit angelegten Bauernteiches behaupten sie, daß es außer in Märchenbüchern, alten Sagen und abergläubischen Überlieferungen keine hellgewandeten, leuchtenden Figuren mit strahlenden Mienen geben könne. Da sie nie Sterne erblickt haben, leugnen sie die Sterne. Da sie nie die leuchtenden Pfade, noch die Sterblichen gesehen haben, die auf ihnen wandeln, bestreiten sie die Existenz der Lichtpfade ebenso wie die Existenz der strahlenden Menschen, die sich auf diese Lichtpfade wagen. Weil sie die verengten Pupillen ihrer Augen für den Mittelpunkt der Welt halten, stellen sie sich das Universum nach ihrem eigenen Bild vor, machen ihre dürftigen Persönlichkeiten zu armseligen Maßstäben, mit denen sie die hell glänzenden Seelen messen wollen, indem sie sagen: »So groß sind alle Seelen und nicht größer; es ist unmöglich, daß es größere geben sollte, als wir es sind, und unsere Götter wissen, welche imposante Statur wir haben.«

Aber alle oder doch beinahe alle am Strand verziehen Ida ihren Badeanzug und ihre Figur, als sie ins Wasser ging. Eine Berührung ihrer Hand am Arm ihres Mannes, eine Andeutung und Aufforderung in ihrem lachenden Gesicht, und die beiden rannten ein halbes Dutzend Schritte, als wären sie eins, und sprangen gleichzeitig wie eine Person von dem festen, nassen Sand des Strandes ab, wobei ihre Körper in der Luft flache Kurven beschrieben, bevor sie ins Wasser tauchten.

Es gibt in Waikiki zwei Brandungen: die große Sturzseenbrandung, die weit draußen hinter der Sprungplattform tost, und die kleinere, sanftere, Wahine- oder Frauenbrandung, die sich am Ufer selbst bricht. Hier ist es sehr flach, so daß man dreißig oder mehr Meter waten kann, bevor es tief wird. Und doch erzeugt die Wahine-Brandung manchmal bis eineinhalb Meter hohe Wellen, so daß der feste Sandboden in Ufernähe einen Meter oder auch nur zehn Zentimeter tief unter der tobenden Gischt liegen kann. Vom Strand aus hier hineinzutauchen, sich im schnellen Lauf abzustoßen und durch die Luft zu fliegen, sich mitten im Flug zu drehen, so daß die Fersen nach oben und der Kopf nach unten schauen, und mit dem Kopf voran in das Wasser hineinzutauchen, dazu muß man die Wellen ganz genau kennen, den richtigen Zeitpunkt abschätzen und geübt und gewandt sein, um in solch wechselnde Wassertiefen mit einem schönen, furchtlosen Kopfsprung so flach wie nur möglich einzutauchen.

Es ist ein hübscher und gewagter Trick, den man sich nicht an einem Tag aneignen kann. Er kann überhaupt nicht ohne den einen oder anderen sanften Aufprall auf dem Meeresboden gelernt werden, wobei mancher einer Schädelfraktur oder einem Genickbruch nur um Haaresbreite entgangen ist. Hier an dieser Stelle, wo die Bartons so traumhaft schön ins Wasser sprangen, hatte sich zwei Tage zuvor ein Leichtathlet von der Stanford Universität das Genick gebrochen. Er hatte den Zeitpunkt des Steigens und Absinkens einer Wahine-Welle falsch eingeschätzt.

»Eine Berufssportlerin«, kommentierte Mrs. Black spöttisch Ida Bartons Bravourstück.

»Irgend so eine Sensationsdarstellerin vom Variete«, war eine der vergleichbaren Bemerkungen, mit denen die im Schatten lagernden Damen einander selbstzufrieden beruhigten; sie fanden durch den sonderbaren geistigen Vorgang der Selbsttäuschung Genugtuung in der allein vom Geld bestimmten gesellschaftlichen Unterscheidung zwischen jemandem, der für sein Essen arbeiten mußte, und ihnen, die das nicht zu tun brauchten.

An diesem Tag herrschte in Waikiki eine hohe Brandung. Die Wahine-Brandung war sogar für die geübten Schwimmer rauh genug. Doch weiter hinaus, in die Kanaken- oder Männerbrandung, wagte sich niemand. Nicht daß den zwanzig oder mehr jungen Wellenreitern, die am Strand herumlagen, der Mut fehlte; vielmehr wußten sie nur zu gut, daß selbst ihre größten Auslegerkanus vollaufen und ihre Surfbretter in dem Sichbrechen und Herabstürzen der donnernden Wassermassen umschlagen würden. Sie selbst, jedenfalls die meisten von ihnen, hätten schwimmen können, denn es ist möglich, Brecher zu durchtauchen, die man mit Kanus und Surfbrettern nicht bewältigen kann. Doch sie waren von Honolulu nach Waikiki gekommen, um auf den Wellen zu reiten, sich aus dem Schaum zu erheben, um aufrecht in voller Größe frei über dem Wasser zu stehen und gleichsam beflügelt oder wie dahinstürmende Rosse auf den Strand zuzurasen. Nur das reizte sie.

Der Steuermann des Kanus Nummer Neun, selbst ein langjähriges Mitglied des Outrigger-Clubs und mehrmaliger Medaillengewinner im Langstreckenschwimmen, hatte nicht gesehen, wie die Bartons ins Wasser gesprungen waren und erspähte sie erst hinter der letzten Girlande der Badenden, die sich an den Halteleinen anklammerten. Von da an ließ er sie von seinem günstigen Posten auf dem oberen Lanai nicht mehr aus den Augen. Als sie an dem Stahlgerüst vorbeischwammen, wo ein paar der kühnsten Kunstspringer sich vergnügten, murmelte er verärgert »Verdammte Malihinis!« vor sich hin.

Nun heißt >Malihini< soviel wie Neuankömmling, Greenhorn, und trotz ihres eleganten Schwimmstils wußte er, daß nur Malihinis sich in die Rinne hinter der Sprungplattform wagen würde. Deshalb war der Bootsführer der Nummer Neun so verärgert. Er ging zum Strand hinunter, ließ hier und da ein leises Wort fallen und stellte eine Mannschaft aus den kräftigsten Wellenreitern zusammen. Dann kehrte er mit einem Fernglas bewaffnet zu seinem Lanai zurück. Eher beiläufig trug die sechsköpfige Besatzung die Nummer Neun dicht an das Wasser, sah nach, ob die Paddel und alles andere in Ordnung waren, um schnell ablegen zu können, und streckte sich dann wieder unbekümmert auf den Sand. An ihnen lag es, daß niemand bemerkte, daß irgend etwas im Gange war, wenn sie auch ab und zu verstohlene Blicke hinauf zu ihrem Steuermann warfen, der angestrengt durch sein Fernglas schaute.

Der Kanal war durch den Zufluß von Süßwasser entstanden. Korallen können nicht im Süßwasser leben. Was die starke Strömung verursachte, die in dieser Rinne herrschte, war der ungeheure, landeinwärts gerichtete Wellengang des Meeres. Da das hochaufgetürmte Wasser vom Strand aus zurückflutete und doch durch den unaufhörlichen Ansturm der Kanaken-Brandung jedesmal wieder zurückgetrieben wurde, gelangte es nur durch den Kanal und in Form einer Widersee unter den Brechern hindurch zurück ins Meer. Selbst im Kanal türmten sich die Wellen, jedoch nicht zu der herrlichen Schreckensgröße wie rechts und links davon. Deshalb konnte ein Kanu oder ein verhältnismäßig kräftiger Schwimmer sich in den Kanal wagen. Doch mußte der Schwimmer wirklich kräftig sein, um gegen den Sog anzukommen. Das war auch der Grund, weshalb der Steuermann der Nummer Neun seine Wache fortsetzte und weiterhin gemurmelte Verwünschungen gegen die Malihinis ausstieß. In seiner Verärgerung war er sicher, daß diese beiden Malihinis ihn dazu zwingen würden, die Nummer Neun zu Wasser zu lassen, um sie zu retten, sobald sie merkten, daß die Strömung zu stark war, um an Land zu schwimmen. Hätte er sich in ihrer mißlichen Lage befunden, dann würde er nach links abgeschwenkt sein und auf den Diamond Head zugehalten haben, um sich von den Wellenbergen der Kanakenbrandung an Land spülen zu lassen. Aber er war auch ein ganzer Kerl, ein bronzefarbener Herkules von zweiundzwanzig, der reinrassigste Weiße, der je von einer subtropischen Sonne mahagonibraun gefärbt worden war und dessen wohlproportionierter und muskulöser Körper den herrlichen Formen des Fürsten Kahanamoku glich. Auf einer Strecke von hundert Metern hätte ihn der amtierende Weltmeister um genau eine Sekunde geschlagen, aber bei einer Entfernung von mehreren Kilometern konnte er dafür den Champion ständig umkreisen.

Außer dem Bootsführer und seiner Mannschaft wußte keiner von den vielen Hunderten von Menschen am Strand, daß die Bartons die Sprungplattform hinter sich gelassen hatten. Alle, die sie beim Hinausschwimmen beobachtet hatten, gingen davon aus, daß sie sich zu den anderen auf der Plattform gesellt hatten.

Plötzlich sprang der Bootsführer auf das Verandageländer, hielt sich mit einer Hand an einem Pfeiler fest und visierte die beiden punktgroßen Köpfe erneut durch sein Glas an. Seine Vermutung bestätigte sich. Die beiden Narren waren aus dem Kanal heraus in Richtung Diamond Head abgedreht und befanden sich genau seewärts vor der Kanakenbrandung. Noch schlimmer, gerade, als er hinsah, schickten sie sich an, durch die Kanakenbrandung hindurch an Land zu schwimmen.

Er warf einen raschen Blick hinunter auf das Kanu, und als er noch hinschaute und die scheinbar müßig herumliegende Mannschaft ruhig aufstand und ihre Plätze neben dem Kanu einnahm, um es zu Wasser zu lassen, fällte er seine Entscheidung. Ehe das Kanu in dem Kanal auf gleicher Höhe sein konnte, würde es mit dem Mann und der Frau schon vorbei sein. Und angenommen, das Kanu erreichte sie, so würde es in dem Augenblick, da es sich in die Brandung wagte, vollschlagen, und selbst der beste Schwimmer unter ihnen hätte wenig Aussicht, einen Menschen zu retten, den die Wucht der großen Sturzseen auf dem Meeresgrund zu Brei zerstampfte.

Der Steuermann sah, wie die erste Kanakenwoge, zwar groß an sich, jedoch klein im Vergleich mit ihren Genossen, sich seewärts hinter den beiden winzigen Schwimmern erhob. Dann sah er sie Seite an Seite kraulen, lang ausgestreckt auf der Oberfläche, mit den Gesichtern unter Wasser, während ihre Füße wie Propeller wirbelten und ihre Arme mit schnellen Schlägen wie Dreschflegel arbeiteten, als sie versuchten, Tempo zu machen, um sich der Geschwindigkeit der sie einholenden Welle anzupassen, so daß sie von ihr erfaßt und mitgenommen wurden, anstatt hinter ihr zurückzubleiben. Auf diese Weise würden sie, wenn sie kaltblütig und geschickt genug waren, vor dem Kamm auf der Welle zu reiten, anstatt hochgeschleudert und zerschmettert oder kopfüber in den Abgrund gestürzt zu werden, auf den Strand zustürmen, getrieben nicht von ihrer eigenen Kraft, sondern von der Gewalt der Woge, mit der sie eins geworden waren.

Und sie schafften es! »Was für Schwimmer«, sagte der Steuermann der Nummer Neun leise zu sich selbst. Gespannt beobachtete er sie weiter. Die besten Schwimmer könnten sich bis zu etwa hundert Meter weit auf so einer Welle halten. Aber konnten sie das? Wenn ja, dann hätten sie ein Drittel ihres Weges durch jene Gefahrenzone bewältigt, der sie sich selbst ausgeliefert hatten. Die Frau jedoch, er hatte so etwas erwartet, blieb zuerst zurück, da ihr Körper dem Wasser nicht so eine große Angriffsfläche bot wie der ihres Mannes. Nach etwa zwanzig Metern ging sie unter. Von dem Tonnengewicht des über ihr zusammenschlagenden Wassers wurde sie nach unten gedrückt und war nicht mehr zu sehen. Ihr Mann folgte ihr, und beide kamen, hinter der Welle schwimmend, die sie verloren hatten, wieder zum Vorschein.

Der Bootsführer sah die nächste Welle zuerst. »Wenn sie auf der zu reiten versuchen, dann gute Nacht«, murmelte er, denn er wußte, daß es den Schwimmer noch nicht gab, der mit ihr fertig werden würde. Selbst noch ohne Schaumbart, war dieser Wellenberg doch der Vater aller Bärtigen, eineinhalb Kilometer lang erhob er sich schon viel weiter draußen als die anderen, türmte seine kompakten Massen höher und höher, bis er den Horizont verdeckte und wie ein Riese seine Genossen überragte, ehe sein Gischtbart zu wachsen begann und sein Kamm sich zum Überschlagen ausdünnte.

Doch es war offensichtlich, daß der Mann und die Frau sich mit hohem Wellengang auskannten. Keinen einzigen schnellen Zug machten sie vor der Welle. Der Bootsführer klatschte ihnen innerlich Beifall, als er sah, wie sie sich zur Welle umdrehten und auf sie warteten. Es war ein Bild, das von allen Menschen am Strand nur er allein sah, herrlich deutlich und lebhaft durch sein Vergrößerungsglas. Die Wellenwand war wirklich eine Wand, die immer höher und höher und ganz oben immer dünner wurde, bis sie eine Transparenz erreichte, die die Farben der untergehenden Sonne durch das Grün und Blau des Meeres schimmern ließ. Das Grün lichtete sich zu einem helleren Ton, der, noch als er hinsah, ins Blaue überging. Doch es war ein leuchtender Edelstein mit unzähligen funkelnden rose- und goldfarbenen Sprenkeln, die im Sonnenlicht glitzerten. Weiter hinauf zum sprießenden Bart des ansteigenden Wellenkamms wurde die Farborgie immer intensiver, bis sie sich schließlich in ein sprühendes Kaleidoskop ineinander verschwimmender Regenbogen verwandelte.

Vor der Wellenfront waren die Köpfe des Mannes und der Frau nur als zwei winzige Punkte sichtbar. Lebendige Punkte waren es, die sich tollkühn zwischen die blinden Elementargewalten wagten und den titanischen Schlägen der See die Stirn boten. Das Gewicht dieser herab stürzenden Urwelle, die sich jetzt über ihren Köpfen auftürmte, konnte einen Mann betäuben oder einer zarten Frau die Knochen brechen. Der Bootsführer der Nummer Neun bemerkte nicht, daß er den Atem anhielt. Auch den Mann hatte er ganz vergessen, er dachte nur an die Frau. Verlor sie den Kopf oder den Mut oder setzte sie ihre Muskeln für einen Augenblick falsch ein, dann konnte sie durch diesen gigantischen Schlag dreißig Meter oder weiter durch die Luft geschleudert werden und würde mit verrenkten Gliedern hilflos und halb erstickt weitertreiben, um auf dem Korallengrund zermalmt und von der Unterströmung ins offene Meer hinausgespült zu werden, wo sie dann jener Haiart, die zu feige ist, sich lebendes Menschenfleisch zu holen, als Futter gedient hätte.

Warum tauchten sie nicht tief und beizeiten unter, fragte sich der Bootsführer, anstatt bis zum letzten Augenblick zu warten, wenn es vielleicht schon zu spät war! Er sah, wie die Frau den Kopf wandte und dem Mann zulachte und wie er seinerseits mit einer Kopfdrehung reagierte. Der Gischtbart, der über ihnen hing, zuerst cremeweiß, dann ins Rose- und Goldfarbene hinüberschäumend, wurde in einem Sprühregen von Juwelen emporgeschleudert. Der frische ablandige Passatwind fing diese Bartfransen, blies sie zurück und meterhoch in die Luft. Und da tauchten sie, Seite an Seite, im Abstand von zwei Metern, geradewegs in den Wellenüberhang hinein, der sich eben chaotisch auflöste und zusammenfiel. Wie Insekten, die in den Kelchwindungen irgendeiner prachtvollen, riesigen Orchidee verschwinden, so verschwanden sie, als Schaumbart und Wellenkamm, Sprühregen und Juwelen mit der Wucht vieler Tonnen zusammenstürzten und donnernd genau dort niederschmetterten, wo sie sich noch vor einem Augenblick befunden hatten.

Hinter der Woge, die sie durchtaucht hatten, sah man sie schließlich nebeneinander, immer noch im Abstand von zwei Metern mit gleichmäßigen Zügen auf den Strand zuhalten, bis sie sich von der nächsten Welle mitnehmen lassen oder sich ihr zudrehen und durch sie hindurchschwimmen würden. Der Bootsführer der Nummer Neun bedeutete seiner Mannschaft mit einem Winken, daß er sie nicht mehr brauchte, setzte sich mit einem unbestimmten Gefühl von Müdigkeit auf das Geländer des Lanai und beobachtete weiterhin die Schwimmer durch sein Fernglas.

»Wer und was sie auch sein mögen«, murmelte er, »sie sind jedenfalls keine Malihinis. Sie können einfach keine Malihinis sein.«

Die Brandung in Waikiki ist nicht jederzeit, ja sogar nur selten so stark; und an den folgenden Tagen erregten Ida und Lee Barton, die häufig am Strand und im Wasser zu sehen waren, weiterhin verächtliches Interesse in den Herzen der Touristinnen; die Führer der Auslegerkanus hingegen sorgten sich nicht mehr um sie, wenn sie im Wasser waren. Sie beobachteten, wie das Paar hinausschwamm und in der blauen Ferne verschwand, und wenn sie Glück hatten, konnten sie es Stunden später zurückkehren sehen, oder auch nicht. Der springende Punkt war, daß die Bootsführer sich wegen ihrer Rückkehr keine Gedanken mehr machten, weil sie wußten, daß sie wiederkommen würden.

Der Grund hierfür war, daß sie keine Malihinis waren. Sie gehörten dazu. Mit anderen Worten, oder vielmehr mit dem kraftvollen hawaiischen Ausdruck, sie waren Kamaaina. Kamaaina-Männer und -Frauen von vierzig erinnerten sich an Lee Barton noch aus ihren Kindheitstagen, als er wirklich ein Malihini gewesen war, wenn auch ein sehr junger. Seither hatte er nach etlichen langen Aufenthalten den Titel eines Kamaaina erlangt.

Ida Barton ihrerseits wurde von jungen Matronen ihres Alters (die sich insgeheim fragten, wie sie es schaffte, ihre Figur zu halten) mit Umarmungen und herzlichen hawaiischen Küssen begrüßt. Großmütter bestanden darauf, sie zum Tee einzuladen und in alten Gärten vergessener Häuser, die ein Tourist nie zu Gesicht bekommt, in Erinnerungen zu schwelgen. Kaum eine Woche nach ihrer Ankunft ließ die schon betagte Königin Liliuokalani nach ihr schicken und beklagte sich, daß sie vernachlässigt würde. Und alte Männer auf kühlen und dufterfüllten Lanais erzählten ihr mit zahnlosen Mündern vom Großpapa Kapitän Wilton, der zwar vor ihrer Zeit gelebt hatte, aber an dessen ungestüme Heldentaten und Schelmenstücke, die ihnen von ihren Vätern erzählt worden waren, sie sich mit Vergnügen erinnerten - Großpapa Kapitän Wilton oder David Wilton oder »Hansdampf«, wie ihn die Hawaiianer in jenen längst vergangenen Tagen zärtlich genannt hatten -Hansdampf, ehemaliger Nord-West-Händler, der gottlose, herumlungernde, schifflose und schiffbrüchige Skipper, der in Kailua am Strand gestanden und die allerersten Missionare begrüßt hatte, die mit der Brigg Thaddens im Jahr 1820 angelandet waren, und der wenige Jahre später mit einer ihrer Töchter durchgebrannt war, um sie zu heiraten, zur Ruhe kam und den Kamehamehas lange Zeit und umsichtig als Finanzminister und Leiter der Zollbehörde diente und der als Fürsprecher und Vermittler zwischen den Missionaren auf der einen und den Strandräubern, den Händlern und den hawaiischen Häuptlingen auf der kunterbunten anderen Seite tätig gewesen war.

Aber auch Lee Barton wurde nicht übergangen. Inmitten all der Diners und Mittagessen, der Luaus und abendlichen Poi-Essen, der Schwimm- und Tanzveranstaltungen als liebevolles Aloha ihnen beiden zu Ehren wurde seine Freizeit von der Bande lebhafter junger Burschen aus den alten Kohala-Tagen in Anspruch genommen, die seither erfahren mußten, daß sie über eine Verdauung und andere innere Funktionen verfügten, und die sich an so etwas wie ein gesetztes Leben gewöhnt hatten, die nicht mehr so oft lärmend zechten, sondern dafür viel Bridge spielten und oft zum Baseball gingen. Ähnlich verhielt es sich mit der alten Pokerclique aus Lee Bartons jüngeren Tagen, die jetzt um höhere Einsätze und Limits spielte, während sie Mineralwasser und Orangensaft trank und die letzte Jackpot-Runde unweigerlich auf Mitternacht festsetzte.

Da tauchte in all dem Veranstaltungsrummel Sonny Grandison auf, geboren auf Hawaii und hier eine führende Persönlichkeit, der trotz seiner jugendlichen einundvierzig Jahre das ihm angebotene Amt des Gouverneurs ausgeschlagen hatte. Auch hatte er vor einem Vierteljahrhundert Ida Barton in der Brandung von Waikiki untergetaucht, und noch früher, als er die Ferien auf der großen Lakanaii-Ranch seines Vaters verbrachte, hatte er sie und mehrere andere Knirpse im zarten Alter zwischen fünf und sieben Jahren auf haarsträubende Weise in seine Jungenbande »Die Kannibalen-Kopfjäger« oder »Die Schrecken von Lakanaii« eingeführt. Und davor wiederum hatten sein Großpapa Grandison und ihr Großpapa Wilton gemeinsame geschäftliche und politische Interessen verfolgt.

Erzogen in Harvard, war er eine Zeitlang ein um die Welt ziehender Forscher und Gesellschaftsliebling gewesen. Nach seiner Dienstzeit auf den Philippinen hatte er als Insektenkundler verschiedene Expeditionen durch Malaysia, Südamerika und Afrika begleitet. Mit einundvierzig war er immer noch Bevollmächtigter des Smithsonian Institute, während seine Freunde behaupteten, er verstünde mehr von Zuckerrohrschädlingen als die besten Insektenkundler die er und die mit ihm befreundeten Zuckerrohrpflanzer in der Versuchsstation beschäftigten. Ein wichtiger Mann in seiner Heimat, war er Hawaiis bekanntester Repräsentant im Ausland. Es war ein Gemeinplatz unter vielgereisten Hawaiianern, daß, wo auch immer auf der Welt sie ihre Heimat erwähnten, die erste Frage unweigerlich lautete: »Und kennen sie Sonny Grandison?«

Kurzum, er war der Sohn eines reichen Vaters, der es zu etwas gebracht hatte. Die ererbte Million hatte er auf zehn Millionen vermehrt, während er gleichzeitig die wohltätigen Spenden und Stiftungen beibehalten hatte und sie sogar durch seine eigenen noch in den Schatten stellte.

Aber das war noch nicht alles. Seit zehn Jahren Witwer ohne Nachkommenschaft, war er die beste und begehrteste Partie auf ganz Hawaii. Er war groß, schlank und elegant, mit brünettem Haar und kraftvollen Gesichtszügen, hatte die durchtrainierte Figur eines Sprinters ohne jeden Ansatz von Bauch. Kerngesund und stets bester Laune, stach er in jeder Runde hervor, und seine langsam ergrauenden Schläfen (im Kontrast zu seiner jugendlich straffen Haut und den strahlenden, lebhaften Augen) ließen ihn sogar noch distinguierter erscheinen. Trotz der gesellschaftlichen Verpflichtungen, die seine Zeit in Anspruch nahmen, und trotz seiner vielen Ausschußsitzungen, Vorstandstreffen und politischen Konferenzen fand er noch Zeit, die Polomannschaft von Lakanaii zu mehr als nur einem gelegentlichen Sieg zu führen, und auf seiner Heimatinsel wetteiferte er mit den Baldwins von Maui in der Zucht und Einfuhr von Polopferden.

Wenn bei einem Mann und einer Frau von auffallender Stärke und Lebenskraft ein zweiter und ebenso auffallend starker und vitaler Mann auf den Plan tritt, dann droht die Gefahr einer auffallend starken und vitalen Dreieckstragödie.

Und in der Terminologie des gewöhnlichen Volkes würde man eine solche Dreieckstragödie wohl als »erstklassig« und »unmöglich« beschreiben. Da von ihm der Wunsch und der Wagemut ausging, war es vielleicht Sonny Grandison, der sich zuerst der Situation bewußt wurde, wenn er sich auch sehr beeilen mußte, um der gefühlsmäßigen Einsicht einer Frau wie Ida Barton zuvorzukommen. Jedenfalls und unstrittig war der letzte von den dreien, der etwas merkte, Lee Barton, der dann auch prompt weglachte, was unmöglich wegzulachen war.

Als er zum erstenmal etwas wahrnahm - das sah er schnell ein -, war es bereits so spät, daß die Hälfte seiner Gastgeber und Gastgeberinnen schon Bescheid wußten. Wenn er sich zurückerinnerte, dann fiel ihm auf, daß seit einiger Zeit bei jedem gesellschaftlichen Ereignis, zu dem er und seine Frau eingeladen waren, Sonny Grandison ebenfalls unter den Gästen war. Wo immer sich die beiden aufgehalten hatten, waren sie zu dritt gewesen. Ob man nach Kahuku oder Haleiwa, nach Ahuimanu oder zu den Korallengärten von Kaneohe aufbrach, ob man auf dem Koko Head Picknick machte und schwamm, irgendwie wollte es der Zufall stets, daß Ida in Sonnys Wagen mitfuhr oder daß beide von jemand anderem mitgenommen wurden. Ob bei Tanzveranstaltungen, Luaus, Abendessen oder Ausflügen, immer war es dasselbe, alle drei waren dabei.

Nachdem Lee Barton sich dessen bewußt geworden war, konnte er nicht umhin, die Freude zu registrieren, die Ida jedesmal zeigte, wenn sie sich in Sonny Grandisons Gesellschaft befand, und auch ihre Bereitwilligkeit, mit ihm im selben Wagen zu fahren, mit ihm zu tanzen oder im Gleichtakt Tänze auszulassen, entging ihm nicht länger. Den besten Beweis aber lieferte Sonny Grandison selbst. Obgleich er ein einundvierzigjähriger, starker und erfahrener Mann war, konnte sein Gesicht doch seine Gefühle ebensowenig verbergen, wie ein ganz gewöhnlicher Bursche von zweiundzwanzig mit seiner Liebe hinter dem Berg halten kann. Trotz der Selbstbeherrschung und Zurückhaltung seiner vierzig Jahre gelang es ihm nicht, mit seinem Gesicht seine Seele so gut zu kaschieren, daß der gleichaltrige Lee Barton nicht mit Leichtigkeit in dieser Seele hätte lesen können. Und oft, wenn Ida sich mit anderen Frauen unterhielt und das Gespräch auf Sonny kam, hörte Lee Barton, wie sie ihrer Sympathie für Sonny Ausdruck verlieh oder ihrer fast zu wortreichen Wertschätzung seines Polospiels, seiner Arbeit überall auf der Welt und seiner großartigen Leistungen im allgemeinen.

Über Sonnys Gedanken und Gefühle war sich Lee nicht im Zweifel. Die waren für jedermann offenkundig. Wie aber stand es um Ida, mit der er seit einem Dutzend Jahren eine wunderbare Liebesehe führte? Er wußte, daß Frauen, seit jeher das rätselhafte Geschlecht, jederzeit zu unvermuteter Heimlichkeit fähig waren. Bedeutete ihre offene Kameradschaftlichkeit gegenüber Sonny nur die Fortsetzung und das Wiederaufleben ihrer Kindheitsbeziehungen? Oder verbarg sich dahinter, auf die subtilere und geheimnisvollere weibliche Art, eine Herzensregung und Erwiderung von Gefühlen, die sogar jene übertrafen, die auf Sonnys Gesicht zu lesen waren?

Lee Barton war verstört. Die zwölf Ehejahre, in denen er das Zusammenleben mit seiner Frau vollkommen und aufs höchste genossen hatte, hatten ihm bewiesen, daß sie, was ihn anging, die einzige auf der Welt war und daß die Frau noch nicht geboren, geschweige denn in Erscheinung getreten war, die ihr auch nur für einen Moment in seinem Herzen, seiner Seele und seinem Gehirn den Rang ablaufen konnte. Es gab keine Frau, die ihn von ihr hätte fortlocken oder sie in den vielfältigen Beglückungen, die er ihr verdankte, hätte übertreffen können.

Sollte das dann, so fragte er sich mit der gefürchteten Ungewißheit aller liebenden Ehemänner, ihre erste »Affäre« sein? Er quälte sich selbst mit dieser immer wiederkehrenden Frage, und zum Erstaunen der aus klugen Burschen mittleren Alters bestehenden geläuterten Pokerrunde von Kahala wie auch als Entschädigung für die eifrigen Nachforschungen der gastgebenden und eingeladenen Damen fing er an, King William Whisky anstelle von Orangensaft zu trinken, das Limit beim Pokern hochzudrücken, des Nachts mit seinem eigenen Wagen ziemlich rücksichtslos über die Straßen nach Pali und zum Diamond Head zu jagen und sich vor dem Mittag- oder Abendessen mehr von den Old Fashioned Cocktails und Scotch Highballs zu genehmigen, als ein Mann normalerweise trinken sollte.

In all den Jahren ihrer Ehe hatte sie ihm sein Kartenspiel stets nachgesehen. Diese Nachsicht war ihm zur Gewohnheit geworden. Aber nun, da dieser Zweifel aufgetaucht war, schien es ihm, als ob sie ihn zu seinen Pokerpartien noch ermuntern würde. Ein anderer entscheidender Punkt, der seiner Aufmerksamkeit nicht entgehen konnte, war, daß Sonny Grandison bei den Poker- und Bridgerunden schmerzlich vermißt wurde. Er schien zu beschäftigt zu sein. Nun, wo war wohl Sonny, während er, Lee Barton, spielte? Bestimmt nicht immer in Komitees und Aufsichtsratssitzungen. Lee Barton überzeugte sich davon. Er erfuhr ohne Mühe, daß Sonny bei solchen Gelegenheiten öfter als sonst dort zu finden war, wo man auch Ida antreffen konnte - bei Tanzveranstaltungen, Abendeinladungen oder Schwimmparties im Mondschein. Und eben an dem Nachmittag, als er Arbeitsüberlastung vorgeschützt hatte, um nicht mit Lee, Longhorne Jones und Jack Holstein einen Bridgewettkampf im Pacific Club austragen zu müssen, hatte er in Dora Niles’ Haus mit drei Damen, von denen eine Ida war, Bridge gespielt.

Als Lee Barton einmal von einer nachmittäglichen Besichtigung der großen Trockendockanlage in Pearl Harbor zurückkehrte und dabei mit größter Geschwindigkeit fuhr, um vor dem Abendessen noch Zeit zum Umkleiden zu haben, überholte er Sonnys Wagen; und der einzige Passagier, den Sonny nach Hause fuhr, war Ida. Eine Woche später, er hatte in der Zwischenzeit nicht mehr Karten gespielt, kam er eines Abends von einer Herrengesellschaft im Universitäts-Club nach Hause, kurz bevor Ida von dem Poi-Essen und Tanzabend bei den Aistones zurückkehrte. Und Sonny hatte sie nach Hause gebracht. Major Franklin und seine Frau waren vorher von ihnen, wie sie erwähnten, in Fort Shafter am anderen Ende der Stadt und meilenweit vom Strand entfernt abgesetzt worden.

Lee Barton, der schließlich auch nur ein Mensch und ein Mann war und als Mensch und Mann Sonny stets mit aller Freundlichkeit begegnete, litt insgeheim bittere Qualen. Nicht einmal Ida ahnte, daß er litt; und sie führte ihr fröhliches, sorgloses und mit Lachen erfülltes Leben weiter, ihres eigenen Herzens sicher, wenn auch ein wenig erstaunt über die zunehmende Anzahl der Cocktails, die ihr Mann vor dem Essen zu sich nahm.

Scheinbar hatte sie, wie stets, Zugang zu allem, was ihn bewegte, doch nun wußte sie weder etwas von seiner ungeahnten Qual noch von den langen, parallel laufenden Kolonnen geistiger Buchführung, die sich von Augenblick zu Augenblick und Tag und Nacht in seinem Kopf zu einem Endresultat zusammenaddierten. Die eine Kolonne bestand aus den unzweifelhaft spontanen Ausdrucksformen ihrer gewohnten Liebe und Fürsorge für ihn, ihren vielen Handlungen, mit denen sie für sein Wohlbefinden sorgte, ihn um Rat fragte und seinen Rat befolgte. In einer anderen Reihe, in der noch mehr Posten aufgeführt wurden, tauchten ihre Äußerungen und Taten auf, die er nur als zweifelhaft einordnen konnte. Waren sie das, was sie zu sein schienen? Oder trieb sie, gewollt oder ungewollt, damit ein doppeltes Spiel?

Die dritte Kolonne, die längste von allen und die für die Regungen des menschlichen Herzens bedeutsamste, war mit Posten angefüllt, die sich direkt oder indirekt auf Ida und Sonny Grandison bezogen. Lee Barton machte diese Buchführung nicht freiwillig. Er konnte einfach nicht anders. Gern hätte er es vermieden. Aber in seinem ziemlich geordneten Verstand nahmen die Eingangsposten ganz von selbst und fast ohne sein Zutun automatisch ihren Platz in den betreffenden Spalten ein.

In seiner verzerrten Sehweise, die offenbar die unbedeutendste Einzelheit vergrößerte, was er sich zumindest halbwegs eingestand, nahm er Zuflucht zu Macllwaine, dem er einst einen sehr großen Dienst erwiesen hatte. Macllwaine war der Chef der Kriminalpolizei. »Ist Sonny Grandison ein Frauenheld?« hatte Barton ihn gefragt. Macllwaine hatte darauf nicht geantwortet. »Dann ist er ein Frauenheld«, hatte Barton erklärt. Und immer noch hatte der Chef der Kriminalpolizei nichts gesagt.

Kurz darauf las Lee Barton den schriftlichen Bericht durch, bevor er ihn wegen seiner Brisanz zerstörte. Nicht belastend, nicht wirklich belastend, faßte er zusammen; aber auch nicht makellos nach dem Tod seiner Frau vor zehn Jahren. Es war eine Liebesheirat gewesen, die in der Gesellschaft von Honolulu beinahe Berühmtheit erlangt hatte, denn die beiden waren vollkommen ineinander vernarrt gewesen, nicht nur vor, sondern auch nach ihrer Heirat und bis zu dem tragischen Tod seiner Frau, die mit ihrem Pferd an die dreihundert Meter tief vom Nahiku-Pfad abgestürzt war. Und lange Zeit danach, stellte Macllwaine fest, hatte Grandison keinerlei Interesse an irgendeiner anderen Frau gezeigt. Und was dann auch immer gewesen war, es war stets sehr anständig zugegangen. Nie auch nur eine Spur von Klatsch oder Skandal; und die ganze Gesellschaft mußte es schließlich als gegeben hinnehmen, daß er ein Mann war, der nur eine einzige Frau geliebt hatte und der nie wieder heiraten würde. Von den kleinen Affären, die aufnotiert waren, behauptete Macllwaine, daß Sonny Grandison keine Ahnung hätte, daß ein anderer als die Hauptbeteiligten selbst etwas davon wüßte.

Barton überflog mit einem Blick, beinahe beschämt, die verschiedenen Namen und Ereignisse, bevor er das Dokument den Flammen übergab. Er war überrascht. Jedenfalls war Sonny überaus diskret gewesen. Als er auf die Asche starrte, überlegte Barton, wieviel von seiner eigenen Jugend, seiner Junggesellenzeit, wohl in den Akten des guten, alten Macllwaine verwahrt war. Im nächsten Augenblick stieg ihm die Schamröte ins Gesicht, Scham vor sich selbst, über sich selbst. Wenn Macllwaine so viel über das Privatleben der Mitglieder der Gesellschaft wußte, hatte dann nicht er, Idas Ehemann, ihr Beschützer und Verteidiger, in Macllwaines Kopf einen Verdacht gegen sie geschürt?

»Hast du irgend etwas auf dem Herzen?« fragte Lee an diesem Abend seine Frau, als er ihren Schal hielt, während sie noch letzte Hand an ihre Garderobe legte.

Das entsprach ganz ihrer alten und erfolgreichen Übereinkunft, offen miteinander zu sein, und er wunderte sich, während er auf ihre Antwort wartete, weshalb er so lange gezögert hatte, sie zu fragen.

»Nein«, lächelte sie. »Nichts Bestimmtes, später, vielleicht.«

Sie wurde ganz davon in Anspruch genommen, sich im Spiegel zu betrachten, während sie etwas Puder auf die Nase tupfte und dann wieder abwischte.

»Du kennst mich, Lee«, fügte sie nach dieser Unterbrechung hinzu. »Ich brauche Zeit, um mir über die Dinge auf meine Art klarzuwerden, wenn es überhaupt etwas gibt, worüber ich mir klarwerden muß; aber wenn es soweit ist, erfährst du es immer. Und oft finde ich schließlich heraus, daß überhaupt nichts dahintersteckte, und dann brauchtest du dich damit gar nicht erst zu belasten.«

Sie breitete die Arme für ihn aus, damit er ihr den Schal umlegen konnte - ihre starken kleinen Arme, die so geschickt und stählern im Kampf mit den Brechern sein konnten, und die doch nur Frauenarme waren, rund, warm und weiß, entzückend, wie Frauenarme sein sollen, mit festen, unter sanft gerundeten Linien und feiner, glatter Haut verborgenen Muskeln, die sich, wenn sie wollte, nach Belieben anspannen ließen.

Er betrachtete sie nachdenklich, von heftigem Schmerz gequält und voller Sehnsucht nach Verständnis - so zart schien sie ihm, so zerbrechlich wie dünnes Porzellan, das ein starker Mann ohne weiteres zerdrücken konnte.

»Wir müssen uns beeilen!« rief sie, als er sich beim Zurechtrücken des leichten Schals über ihrem reizenden leichten Kleid zu lange verweilte. »Wir werden zu spät kommen. Und wenn es oben in Nuuanu regnet, werden wir noch den zweiten Tanz versäumen.«

Er nahm sich vor, zu beobachten, mit wem sie den zweiten Tanz tanzen würde, als sie vor ihm durch den Raum zur Tür ging; dabei erfreute sich sein Auge an ihrem, wie er es so oft bei sich genannt hatte, von geistigem und körperlichem Adel zeugenden Gang.

»Findest du nicht, daß ich dich durch meine allzu häufigen Pokerpartien vernachlässige?« versuchte er es nochmals auf indirektem Weg.

»Himmel, nein! Du weißt doch, daß ich es gern habe, wenn du deine Kartenorgien feierst. Sie wirken belebend auf dich. Und du hast dich da sehr gebessert, bist viel vernünftiger geworden. Ja, es ist fast schon Jahre her, daß du länger als bis ein Uhr nachts aufgeblieben bist.«

Es regnete nicht oben in Nuuanu, und an dem klaren Passathimmel über ihnen war jeder Stern zu sehen. Nachdem sie rechtzeitig bei den Inchkeeps angelangt waren, konnte Lee Barton feststellen, daß seine Frau den zweiten Tanz mit Grandison tanzte - was zwar an sich nichts Ungewöhnliches war, aber umgehend als Posten in Bartons geistigen Kontobüchern aufgelistet wurde.

Bedrückt und unruhig schlenderte er eine Stunde später, da er keine Lust hatte, den vierten Mann bei einem Bridgespiel in der Bibliothek abzugeben, und einigen jungen Matronen entfliehen wollte, in den großzügig angelegten Park hinaus. Er schritt über den Rasen und gelangte am anderen Ende zu einer Cereushecke mit ihrer nächtlichen Blütenpracht. Jede Knospe, die sich nach Einbruch der Dunkelheit öffnete und mit der heraufziehenden Morgendämmerung zu welken begann, vertrocknete und abfiel, lebte nur diese eine Nacht. Die großen, cremeweißen Blüten mit einem Durchmesser von dreißig Zentimetern oder mehr, die wächsern und liliengleich als weißleuchtende Anziehungspunkte das Dunkel der Nacht mit ihrem verlockenden Duft durchdrangen, waren in ihrer kurzlebigen Pracht wunderschön anzusehen.

Doch der Weg entlang der Hecke war voll von Menschen, die sich paarweise zwischen den Tänzen fortgestohlen hatten oder während des Tanzens herauskamen, sich dabei mit leisen, gedämpften Stimmen unterhielten und das Wunder der Blumenliebe betrachteten. Vom Lanai wehten die zärtlichen Liebesklänge des von den jungen Sängern vorgetragenen »Hanalei« herüber. Undeutlich erinnerte sich Lee Barton -vielleicht war es aus irgendeiner Novelle von Maupassant - an den Abbe, der, von der Idee besessen, daß Gottes Plan hinter allen Dingen stecke, keine Erklärung für die Nacht finden konnte, bis er schließlich entdeckte, daß sie der Liebe geweiht war.

Diese eindeutige Bestimmung der Nacht, wie sie Blumen und Menschen verrieten, schmerzte Barton. Er ging im weiten Bogen auf einem gewundenen Pfad, der sich am Rande der Rasenfläche im Schatten der Topffrucht- und Johannisbrotbäume entlangzog, wieder zum Haus zurück. In der Dunkelheit, dort, wo sein Pfad wieder ins Freie führte, sah er zum Greifen nahe auf einem anderen Weg im Dunkeln ein Paar stehen, das sich in den Armen lag. Die leidenschaftlich erregten, leisen Worte des Mannes hatten ihn aufmerken lassen, so daß er hinsah. Der Mann spürte seine Gegenwart; augenblicklich schwieg die Stimme, und die beiden verharrten reglos und verstohlen in ihrer Umarmung.

Er ging weiter, betrübt von dem Gedanken, daß im Dunkel der Bäume sich fortsetzte, was jene, die an der blühenden Hecke entlangschlenderten, dort unter freiem Himmel begonnen hatten. Oh, er kannte dieses Spiel von früher, als kein Schatten zu finster, kein listiges Versteck zu geheim war, um Schutz für ein kurzes Liebesglück zu gewähren. Im Grunde genommen waren die Menschen wie die Blumen, überlegte er.

Ehe er wieder in das lästige Räderwerk des Lebens, in das er hineingehörte, zurückkehrte, blieb er im Schein der erleuchteten Lanais stehen und starrte, obwohl er kaum etwas sah, auf die herrliche Prachtentfaltung scharlachroter, gefüllter Hibiskusblüten. Und plötzlich verdichtete sich all das, was er durchlitt, all das, was er gerade beobachtet hatte - von der des Nachts blühenden Hecke und den Menschen, die Liebesworte flüsternd zu zweit lustwandelten, bis zu dem Paar, das sich verstohlen, wie Diebe in der Nacht, in den Armen lag -, zu einer Parabel des Lebens, ausgelöst von dem nur einen Tag lang blühenden Hibiskus, auf den er jetzt, am Ende dieses kurzen Daseins, blickte. Zur vollen Blüte aufspringend nach der Morgendämmerung, zuerst schneeweiß, dann unter der wärmenden Sonne sich rosa verfärbend und mit Einbruch der Dunkelheit, aus der sie und ihre Schönheit nie wieder auftauchen würden, in ein tiefes Rot überwechselnd, erschien ihm diese Blume wie ein Sinnbild des menschlichen Lebens und seiner Leidenschaft.

Welche weiteren Bedeutungen er sonst noch abgeleitet hätte, sollte er nie erfahren, denn aus der Richtung der Johannisbrot-und Topffruchtbäume erklang von fern Idas unverkennbar heiteres und fröhliches Lachen. Er schaute nicht hin, aus Furcht, das zu sehen, was er erwartete, sondern zog sich hastig, fast stolpernd, die Stufen hinauf auf den Lanai zurück. Obwohl er auf den Anblick gefaßt war, wurde er, als er den Kopf wandte und in seiner Frau und Sonny eben das Paar wiedererkannte, das er in seiner Heimlichkeit beobachtet hatte, plötzlich von einem Schwindel befallen, blieb stehen, hielt sich mit einer Hand an einem Pfeiler fest und lächelte leer zu der Sängergruppe hinüber, die mit ihrem Refrain »Honi ka ua wikiwiki« die Sinnlichkeit der Nacht noch verstärkte.

In der nächsten Sekunde hatte er sich die Lippen mit der Zunge befeuchtet, bekam sein Gesicht und seinen Körper wieder in die Gewalt und scherzte mit Mrs. Inchkeep. Doch er durfte keine Zeit verlieren, um nicht dem Paar begegnen zu müssen, das er jetzt die Stufen hinter sich heraufkommen hörte.

»Ich habe das Gefühl, daß ich am Verdursten bin«, erzählte er seiner Gastgeberin, »und daß mich nur ein Highball retten kann.«

Sie lächelte zustimmend und deutete mit einem Kopfnicken zum Raucherlanai hinüber. Als der Tanzabend zu Ende ging, fanden sie ihn dort, wo er mit den älteren Herren über die Zuckerpolitik diskutierte.

Ein ganzer Konvoi von einem halben Dutzend Wagen brach nach Waikiki auf, und es ergab sich, daß man ihn dazu einteilte, die Leslies und die Burnstons nach Hause zu bringen, doch entging ihm nicht, daß Ida zusammen mit Sonny auf der Fahrerbank seines Wagens saß. Infolgedessen war sie vor ihm zu Hause und bürstete sich das Haar, als er heimkam. Der Abschied vor dem Zubettgehen war auf den ersten Blick wie immer, wenn er sich auch bei seinem erfolgreichen Bemühen, ganz zwanglos zu erscheinen, mächtig zusammennehmen mußte, als er daran dachte, wessen Lippen sich vor den seinen zuletzt auf Idas Mund gepreßt hatten.

War denn eine Frau wirklich das völlig unmoralische Geschöpf, als das es von den deutschen Pessimisten dargestellt wird, ging es ihm durch den Kopf, als er sich, schlaflos und unfähig zur Lektüre, unter seiner Leselampe hin und her wälzte. Nach einer Stunde stand er auf, öffnete seine Hausapotheke und nahm ein starkes Schlafmittel. Eine Stunde später nahm er, aus Furcht vor seinen Gedanken und einer schlaflosen Nacht, noch ein Pulver. Im Abstand von einer Stunde wiederholte er diese Dosierung noch zweimal. Doch die Wirkung der Droge setzte so langsam ein, daß schon der Morgen heraufdämmerte, ehe sich seine Augen schlossen.

Um sieben Uhr war er wieder wach, sein Mund war trocken, und er fühlte sich benommen und schläfrig, döste jetzt aber immer nur für einige Minuten ein. Er gab den Gedanken an Schlaf auf, frühstückte im Bett und widmete sich der Morgenzeitung und den Magazinen. Doch die Wirkung des Medikaments hielt an, und während des Frühstücks und der Morgenlektüre übermannte ihn immer wieder für kurze Zeit die Müdigkeit. Beim Duschen und Ankleiden erging es ihm ebenso, und wenn ihm auch das Medikament wenig Vergessen während der Nacht geschenkt hatte, so war er doch dankbar für die träumerische Lethargie, die den Morgen über von ihm Besitz ergriffen hatte.

Erst als seine Frau aufstand und heiter wie immer, lächelnd und schelmisch, entzückend anzusehen in ihrem Kimono, sein Zimmer betrat, überkam ihn die verrückte Launenhaftigkeit, die das Opium in seinem Körper bewirkte. Und da sie ihm trotz ihrer alten Abmachung, offen miteinander zu sein, unzweideutig zu verstehen gab, daß sie ihm nichts mitzuteilen hatte, begann er seine Opiumlüge aufzubauen. Auf ihre Frage, wie er geschlafen hätte, entgegnete er:

»Schlecht. Zweimal haben mich Krämpfe in beiden Füßen aus dem Schlaf gerissen. Ich hatte fast Angst davor, wieder einzuschlafen. Aber sie sind nicht wieder aufgetreten, wenn meine Füße jetzt auch höllisch wehtun.«

»Letztes Jahr hattest du das auch«, erinnerte sie ihn.

»Vielleicht entwickelt es sich zu einem saisonbedingten Leiden«, lächelte er. »Die Krämpfe sind nicht stark, aber es ist scheußlich, wenn man davon aufwacht. Sie werden vor heute abend nicht wiederkommen, falls sie sich überhaupt wiederholen, aber in der Zwischenzeit fühle ich mich, als hätte ich Stockschläge auf die Fußsohlen erhalten.«

Am Nachmittag desselben Tages sprangen Lee und Ida Barton wieder in das seichte Wasser vor dem Strand des Outrigger Clubs und schwammen mit gleichmäßigen Zügen an der Sprungplattform vorbei, hinaus ins tiefe Wasser hinter der Kanakenbrandung. So ruhig war die See, daß sie, als sie nach zwei Stunden kehrtmachten und sich anschickten, in aller Ruhe durch die Kanaken-Brandung in Richtung Strand zu schwimmen, das Meer ganz für sich allein hatten. Die Brecher waren nicht groß genug, um zu reizen, und die letzten gelangweilten Wellenreiter und Kanuten waren an Land gegangen. Plötzlich drehte sich Lee auf den Rücken.

»Was ist los?« rief Ida ihm aus zehn Metern Entfernung zu.

»Mein Fuß - ein Krampf«, antwortete er ruhig, wenngleich er die Worte mühsam zwischen den zusammengebissenen Zähnen herauspreßte.

Das Opium benebelte ihn noch, und er spürte keinerlei Erregung. Er beobachtete sie, wie sie mit so gleichmäßigen und ruhigen Zügen auf ihn zuschwamm, daß er ihre Selbstbeherrschung bewunderte, wenn ihn auch gleichzeitig Zweifel überfielen bei dem Gedanken, daß sie nur deshalb so gelassen war, weil sie sich so wenig aus ihm oder, besser, auf einmal so viel mehr aus Grandison machte.

»Welcher Fuß?« fragte sie, als sie ihre Beine nach unten sinken ließ und anfing, neben ihm Wasser zu treten.

»Der linke, aua! Jetzt sind es beide.«

Er zog die Knie an, als sei es eine unwillkürliche Reaktion, drückte den Kopf und die Brust nach oben aus dem Wasser und verschwand in einem der harmlosen Brecher. Nachdem er höchstens ein paar Sekunden unter Wasser gewesen war, kam er prustend wieder hoch und legte sich auf den Rücken.

Fast mußte er grinsen, doch es gelang ihm, sein Grinsen in eine schmerzhafte Grimasse zu verwandeln, denn sein vorgetäuschter Krampf war Wirklichkeit geworden. Zumindest in einem Fuß spürte er es, und die Muskeln zogen sich schmerzhaft zusammen.

»Der rechte schmerzt am meisten«, stieß er hervor, als sie sich daran machte, den Krampf wegzumassieren. »Aber es ist besser, wenn du mir vom Leib bleibst. Ich hatte früher schon Krämpfe, und ich weiß, daß ich dich dann leicht mit hinunterziehen könnte, wenn es schlimmer wird.«

Anstelle einer Antwort griff sie nach seinen harten, verknoteten Muskeln und fing an zu massieren, zu drücken und den Fuß zu beugen.

»Bitte«, preßte er zwischen den Zähnen hervor. »Du mußt von mir wegbleiben. Laß mich einfach nur hier treiben - ich werde den Knöchel und die Zehengelenke hin und her bewegen, und dann wird der Krampf verschwinden. Ich habe das früher auch schon so gemacht und weiß, wie man damit umgehen muß.«

Sie gehorchte, blieb jedoch, mühelos wassertretend, an seiner Seite und ließ ihn nicht aus den Augen, um die Fortschritte seines Selbstheilungsversuchs beurteilen zu können. Aber Lee Barton bog die Gelenke und spannte die Muskeln vorsätzlich in die falsche Richtung, so daß der Krampf sich nur noch verschlimmerte. Während seines Anfalls im Jahr zuvor hatte er, wenn ihn das Leiden beim Lesen im Bett überfiel, gelernt, sich zu entspannen und die Krämpfe durch bestimmte Bewegungen zu überwinden, ohne sich bei der Lektüre stören zu lassen. Jetzt jedoch machte er es genau umgekehrt, er verstärkte den Krampf, der, zu seinem freudigen Erschrecken, prompt auch auf die rechte Wade übersprang. Vor Schmerz schrie er auf, verlor anscheinend seine Selbstbeherrschung, versuchte, sich aufzurichten, und wurde von der nächsten Welle nach unten gedrückt. Er kam wieder hoch, spuckte Wasser und trieb mit ausgebreiteten Armen an der Oberfläche, während Ida seine krampfende Wade mit den starken Fingern ihrer kleinen Hände ergriff.

»Ist schon gut«, sagte sie, während sie ihn bearbeitete. »Ein solcher Anfall dauert nicht sehr lang.«

»Ich wußte nicht, daß sie so schlimm sein können«, stöhnte er. »Wenn es nur nicht weiter hinaufzieht. Man fühlt sich dabei so hilflos.«

In plötzlicher Panik packte er sie an beiden Oberarmen, versuchte, auf ihr aus dem Wasser zu klettern, wie etwa ein Ertrinkender auf ein Ruder zu klettern versucht, und tauchte sie unter. Ehe er sie freigab, wurden ihr beim Unterwasserkampf die Gummikappe heruntergerissen und die Haarnadeln herausgezogen, so daß sie, als sie nach Luft schnappend an die Oberfläche kam, kaum etwas sah, weil das nasse Haar auf ihrem Gesicht klebte. Er war auch sicher, daß sie aufgrund des Überraschungseffekts eine Menge Wasser geschluckt haben mußte.

»Bleib weg!« warnte er sie mit gespielter Verzweiflung, als er sich ausgestreckt treiben ließ.

Aber ihre Finger gruben sich schon tief in die wirklich schmerzenden Wadenmuskeln, und er konnte keine Furcht bei ihr feststellen.

»Es kriecht herauf«, murmelte er zwischen den fest zusammengepreßten Zähnen, wobei das Murmeln selbst schon ein halb unterdrücktes Stöhnen war.

Er machte, wie bei einem neuen Anfall, das ganze rechte Bein steif, was zwar für seine tatsächlich vorhandenen kleineren Krämpfe sehr schmerzhaft war, wodurch aber die Muskeln seines Oberschenkels derart angespannt wurden, daß sie tatsächlich krampfartig verhärtet schienen.

Die Droge wirkte immer noch in seinem Kopf, so daß er dieses grausame Spiel fortsetzen konnte, während er gleichzeitig die Selbstbeherrschung und Willensstärke bewunderte, die ihr im Gesicht geschrieben standen. Auch den tödlichen Schrecken in ihren Augen sah er und dahinter, noch tiefer, ihren Mut, ihre hochherzige Denkweise und ihre Entschlossenheit, die nicht klein beigaben.

Und überdies verkündete sie nicht in billiger Ergebung so etwas wie: »Ich will mit dir sterben«. Statt dessen sagte sie ruhig und rief damit seine Bewunderung hervor: »Entspanne dich. Laß dich so weit sinken, bis nur noch deine Lippen über Wasser sind. Ich werde dir den Kopf hochhalten. Jeder Krampf muß irgendwann einmal aufhören. Noch nie ist ein Mensch an Land an einem Krampf gestorben. Dann sollte ein guter Schwimmer ihn auch im Wasser überleben. Er muß irgendwann einmal seinen Höhepunkt erreichen und vorübergehen. Wir sind beide gute Schwimmer - und bewahren einen kühlen Kopf - «

Er verzerrte sein Gesicht und zog sie absichtlich unter Wasser. Aber als sie wieder hochkamen, war sie immer noch an seiner Seite, hielt seinen Kopf, während sie weiter Wasser trat und sagte:

»Entspanne dich. Ganz ruhig. Ich werde deinen Kopf über Wasser halten. Steh es durch. Du mußt durchhalten. Kämpfe nicht dagegen an. Laß ganz locker - auch vom Kopf her, und dein Körper wird auch locker werden. Gib nach. Erinnerst du dich, wie du mir beigebracht hast, der Unterströmung nachzugeben.«

Ein für so eine leichte Brandung ungewöhnlich großer Brecher türmte sich über ihnen auf, und Lee kletterte wieder auf ihr nach oben und versenkte beide, als der Wellenkamm sich überschlug und niederstürzte.

»Vergib mir«, murmelte er zwischen qualvoll zusammengebissenen Zähnen, als sie beide wieder nach Luft schnappen konnten. »Und laß mich los.« Er sprach abgehackt, mit schmerzerfüllten Pausen zwischen den Sätzen. »Es ist nicht nötig, daß wir beide ertrinken. Ich muß sterben. Der Krampf wird jeden Moment meinen Bauch erreichen, und dann werde ich dich mit hinunterziehen und dich nicht mehr loslassen können. Bitte, bitte, meine Liebe, bleib weg von mir. Einer von uns ist genug. Du hast noch vieles, wofür du leben mußt.«

Sie sah ihn so voller Vorwurf an, daß die letzte Spur von Todesfurcht aus ihren Augen verschwunden war. Es war, als hätte sie überdeutlich gesagt: »Ich lebe nur für dich.«

Dann galt Sonny ihr nicht soviel wie er! - war Bartons jubilierende Schlußfolgerung. Aber er erinnerte sich daran, wie er sie unter den Topffruchtbäumen in Sonnys Armen gesehen hatte, und blieb weiter unversöhnlich. Außerdem war es das Gift, das noch in ihm steckte und ihm diese Grausamkeit eingab. Wenn er schon einmal einen Härtetest begonnen hatte, drängte der Mohnsaft, dann sollte es auch kein Kinderspiel werden.

Er krümmte sich zusammen und ging unter, tauchte wieder auf und versuchte scheinbar verzweifelt, sich auszustrecken, damit er sich treiben lassen konnte. Und sie wich nicht von seiner Seite.

»Es ist zuviel!« stöhnte, schrie er fast. »Ich kann nicht mehr. Ich muß untergehen. Du kannst mich nicht retten. Bleib weg von mir und rette dich selbst.«

Doch sie blieb bei ihm, bemühte sich, seinen Mund hochzuhalten, damit das Salzwasser nicht eindrang, und sagte: »Es ist schon gut. Es ist schon gut. Jetzt ist es gerade am schlimmsten. Halte es nur noch eine Minute aus, dann wird es besser werden.«

Er schrie auf, krümmte sich zusammen, packte sie und zog sie mit hinunter. Und fast hätte er sie ertränkt, so gut spielte er sein eigenes Ertrinken. Doch sie verlor zu keinem Zeitpunkt den Kopf oder gab der Furcht vor dem Tod, der so schrecklich nahe war, nach. Jedesmal, wenn sie den Kopf aus dem Wasser strecken konnte, versuchte sie auch ihren Mann hochzuziehen, während sie ihn keuchend und nach Luft schnappend ermutigte: »Entspanne dich. Entspanne dich. Locker. Laß locker. Gleich. jetzt gleich. wirst du das Schlimmste überstanden haben. Egal, wie sehr es schmerzt. es geht vorbei. Jetzt ist es schon besser. nicht wahr?«

Und dann zog er sie wieder nach unten, ging noch weiter mit seiner Mißhandlung, ließ sie literweise Salzwasser schlucken, in der Gewißheit, daß es ihr nicht wirklich schaden würde. Manchmal kamen sie kurz hoch, um sekundenlang im Sonnenschein an der Oberfläche Luft zu holen, dann aber tauchten sie wieder unter, von ihm nach unten gezogen, von den sich überschlagenden Brechern überrollt und in die Tiefe geschleudert.

Obwohl sie kämpfte, um sich seinem Griff zu entwinden, versuchte sie doch in den Augenblicken, wenn er sie freigab, nicht, von ihm fortzuschwimmen, sondern kam, mit schwindender Kraft und einem Kopf, in dem sich alles drehte, immer wieder zu ihm zurück, um ihn zu retten. Als es seiner Meinung nach genug, mehr als genug war, wurde er ruhiger, ließ sie los und streckte sich an der Wasseroberfläche aus.

»A-a-h«, seufzte er lange, fast genüßlich und sprach mit Pausen dazwischen, um Atem zu schöpfen. »Es ist vorbei. Ich komme mir vor wie im Himmel. Meine Liebe, ich bin zwar immer noch mit Wasser vollgepumpt, aber allein dadurch, daß der Krampf vorbei ist, fühle ich mich wie neugeboren.«

Sie versuchte keuchend zu antworten, schaffte es aber nicht.

»Mir geht es gut«, versicherte er ihr. »Wir lassen uns am besten treiben, um auszuruhen. Streck dich auch aus, damit du wieder zu Atem kommst.«

Eine halbe Stunde lang trieben sie Seite an Seite in der friedlichen Kanaken-Brandung dahin. Ida Barton ließ als erste erkennen, daß sie sich erholt hatte, indem sie fragte:

»Und wie fühlst du dich jetzt, mein liebster Mann?« »Ich fühle mich, als ob mich eine Dampfwalze überrollt hätte«, erwiderte er.

»Und du, mein armer Liebling?«

»Ich fühle mich wie die glücklichste Frau der Welt. Ich bin so glücklich, daß ich fast weinen könnte, aber ich bin sogar dafür zu glücklich. Du hast mich furchtbar erschreckt. Ich dachte schon, ich würde dich verlieren.«

Lee Bartons Herz hämmerte. Sie erwähnte mit keinem Wort, daß sie selbst hätte sterben können. Das war dann Liebe, wirkliche Liebe, die sich bewiesen hatte - die größte Liebe, die über dem Geliebten sich selbst vergaß.

»Und ich bin der stolzeste Mann der Welt«, sagte er zu ihr, »weil meine Frau die tapferste Frau der Welt ist.«

»Ach was, tapfer«, widersprach sie. »Ich liebe dich. Ich wußte erst, wie sehr, wie sehr ich dich wirklich liebe, als ich dich zu verlieren glaubte. Und jetzt laß uns machen, daß wir an Land kommen. Ich möchte mit dir allein sein, in deinen Armen, während ich dir erzähle, was du alles für mich bedeutest und immer für mich sein wirst.«

In einer halben Stunde erreichten sie, kräftig und gleichmäßig schwimmend, den Strand und gingen über den festen, nassen Sand zwischen den sich sonnenden Müßiggängern hindurch.

»Was haben Sie beide da draußen getrieben?« fragte einer der Bootsführer des Outrigger Clubs. »Faxen gemacht?«

»Ja, Faxen«, antwortete Ida Barton mit einem Lächeln.

»Wir sind die Dorfspaßvögel, wissen Sie«, versicherte ihm Lee Barton.

Diesen Abend verbrachten die beiden, nachdem sie ihre Verabredungen abgesagt hatten, in einem großen Sessel und hielten sich in den Armen.

»Sonny reist morgen mittag ab«, erwähnte sie beiläufig und ohne jeden Zusammenhang mit ihrer Unterhaltung. »Er fährt an die malaiische Küste, um nachzusehen, was aus seiner Holz- und Gummigesellschaft geworden ist.«

»Das ist das erste, was ich höre«, brachte Lee trotz seiner Überraschung heraus.

»Ich war die erste, die es erfuhr«, fügte sie hinzu. »Er hat es mir gestern abend erzählt.«

»Auf dem Ball?«

Sie nickte.

»Ziemlich plötzlich, nicht wahr?«

»Sehr plötzlich.« Ida befreite sich aus den Armen ihres Ehemannes und setzte sich auf. »Und ich möchte mit dir über Sonny sprechen. Ich habe noch nie zuvor ein wirkliches Geheimnis vor dir gehabt. Ich hatte eigentlich nicht die Absicht, es dir je zu erzählen. Aber heute, draußen in der Kanaken-Brandung, wurde mir plötzlich klar, daß etwas zwischen uns ungesagt geblieben wäre, wenn wir beide den Tod gefunden hätten.«

Sie stockte, und Lee, der schon halb vorausahnte, was kommen würde, tat nichts, um ihr zu helfen, außer daß er mit seiner Hand ihre Hand umschloß und sie drückte.

»Sonny hat wohl etwas - den Kopf verloren - meinetwegen«, stotterte sie. »Du hast es sicher bemerkt. Und. und gestern abend bat er mich, mit ihm durchzubrennen. Wozu ich nie bereit gewesen wäre.«

Lee Barton wartete immer noch.

»Ich gebe ja zu, daß ich nicht im geringsten böse auf ihn war - nur besorgt und bekümmert. Ich gebe auch zu, daß ich selbst ein wenig, vielleicht sogar etwas mehr als ein wenig, den Kopf verloren hatte. Deshalb war ich freundlich und sanft zu ihm gestern abend. Ich bin nicht töricht. Mir war klar, daß es so kommen mußte. Und - ach, ich weiß, ich bin nur eine schwache, eitle Frau - ich war stolz darauf, daß ein solcher Mann von mir, von einer kleinen Frau wie mir, aus dem Gleichgewicht gebracht worden war. Ich ermutigte ihn noch. Ich habe dafür keine Entschuldigung. Der gestrige Abend wäre nicht so verlaufen, wenn ich ihn nicht ermutigt hätte. Und als er mich gestern abend fragte, war das meine Schuld, nicht seine. Und ich sagte zu ihm, nein, es sei unmöglich - weshalb, solltest du wissen, ohne daß ich es dir zu wiederholen brauche. Und ich war mütterlich zu ihm, sehr mütterlich. Ich gestattete ihm, mich in seine Arme zu nehmen, lehnte mich an ihn und ließ mich zum erstenmal - weil ich wußte, daß es auch das allerletzte Mal war - von ihm küssen und küßte ihn. Du - ich weiß, daß du es verstehst -, es war meine Absage an ihn. Und ich habe Sonny nicht geliebt. Ich liebe ihn auch jetzt nicht. Ich habe immer dich geliebt, und nur dich.«

Sie wartete und fühlte, wie sich der Arm ihres Mannes um ihre Schulter legte und sich unter ihren Arm schob, und sie ließ ihn gewähren, als er sie zu sich herabzog.

»Du hast mir tatsächlich mehr als nur ein bißchen Sorgen bereitet«, gab er zu, »bis ich schließlich fürchtete, dich zu verlieren. Und - «. Er brach in offensichtlicher Verlegenheit ab, nahm sich dann aber mutig zusammen. »Na ja, du weißt, du bist die einzige Frau für mich. Genug der Worte.«

Sie tastete in seiner Tasche nach der Streichholzschachtel und entfachte ein Zündholz für ihn, damit er sich seine längst erloschene Zigarre anstecken konnte.

»Nun«, sagte er, als sich der Rauch um sie kräuselte, »so wie ich dich kenne, durch und durch kenne, kann ich nur sagen, daß ich Sonny bedaure, weil ihm all das entgangen ist -schrecklich bedaure, aber daß ich mich meinetwegen genauso darüber freue. Und noch etwas: In fünf Jahren muß ich dir eine Geschichte erzählen, eine köstliche und aberwitzige Geschichte - über mich und darüber, wie ich mich dir gegenüber zum Narren gemacht habe. In fünf Jahren. Hältst du die Verabredung ein?«

»Ich werde sie einhalten, und wenn es in fünfzig Jahren wäre«, seufzte sie und kuschelte sich näher an ihn.

Загрузка...