Es war heller Tag, als Taran die Augen öffnete. Gurgi schnüffelte hungrig an Gwydions Satteltaschen herum. Der Junge erhob sich und teilte von den Vorräten soviel an die Gefährten aus, wie er verantworten zu können glaubte.
Gurgi verschlang seine Zuteilung mit freudigem Grunzen. Er schmatzte und schnalzte so eifrig, daß man den Eindruck gewinnen mußte, er habe das Doppelte von dem erhalten, was er in Wirklichkeit bekommen hatte. Fflewddur verzehrte sein dürftiges Mahl mit einem Heißhunger, als habe er mindestens eine Woche lang nichts mehr zu beißen gehabt. Eilonwy indessen widmete ihr gesamtes Augenmerk dem Schwert aus der Königsgruft. Sie hatte es quer über die Knie gelegt und betrachtete es neugierig mit gerunzelter Stirn, die Zungenspitze zwischen die Lippen geklemmt. Als Taran sich näherte, zog sie das Schwert vor ihm weg.
„Hab dich nicht so“, rief der Junge lachend. „Ich werde dir’s schon nicht stehlen!“
Griff und Knauf des Schwertes waren reich mit Juwelen besetzt. Die Scheide hingegen war verbeult und vom Alter geschwärzt. „Komm“, sagte Taran und streckte begierig die Hand aus, „laß mich die Klinge mal sehen!“
„Untersteh dich!“ rief Eilonwy, und zu seiner nicht geringen Überraschung bemerkte der Junge, daß sie ernst und ein wenig furchtsam dreinschaute. „Siehst du das Zauberzeichen hier auf der Scheide?“ fragte sie ihn. „Ich kenne es von Achren her und weiß, daß es ein Verbot bedeutet. Ein strenges Verbot sogar! Sie hat einige Gegenstände besessen, die mit dem gleichen Zauberzeichen versehen waren. Außerdem gibt es da eine Inschrift“, fügte sie stirnrunzelnd hinzu, „leider in alter Schreibweise, die ich nicht ganz entziffern kann. Das beunruhigt mich. Es ist ungefähr so, wie wenn jemand etwas zu sagen anfängt und nicht zu Ende sagt.“
Auch Fflewddur trat nun hinzu und besah sich die fremde Waffe. „Stammt aus einer Gruft, wie?“ Der Barde schüttelte die blonde Mähne und stieß einen leisen Pfiff aus. „Am besten, ihr laßt die Finger davon. Zu Dingen, die man in Grüften findet, habe ich wenig Zutrauen. Wer weiß, was für Flüche und Zaubereien man sich damit aufhalst!“
Taran brannte mehr denn je darauf, das Schwert in die Hand zu bekommen. „Wenn es ein Zauberschwert ist, dann sollten wir es erst recht behalten“, meinte er.
„Oh, sei bloß still!“ fuhr ihm Eilonwy über den Mund. „Ich verstehe nicht, was ihr da von Behalten und Nichtbehalten schwatzt. Schließlich ist es ja mein Schwert und nicht das eure! – Wenn ich bloß wüßte, was die Inschrift zu bedeuten hat…“
„Von einem Barden sollte man annehmen, daß er in derlei Dingen Bescheid weiß“, sagte Taran.
„Natürlich!“ antwortete Fflewddur, lächelte geschmeichelt und beugte sich über das Schwert. „Alle solche Inschriften lauten ungefähr gleich, auch die hier macht keine Ausnahme. Soweit ich’s erkenne, heißt es da auf der Scheide ungefähr: Hüte dich vor meinem Zorn! – oder so ähnlich – der übliche Sinnspruch, mit einem Wort.“
In diesem Augenblick gab es einen lauten, scheppernden Klang. Fflewddur blickte verlegen zu seiner Harfe hinüber. Ohne erkennbaren Grund war eine ihrer Saiten gerissen. „Entschuldigt mich, bitte, ich muß das in Ordnung bringen“, sagte er und entfernte sich.
„Die Inschrift lautet ganz anders“, erklärte Eilonwy. „Ein wenig kann ich davon entziffern. Das erste Wort heißt ›Dyrnwyn‹, wohl der Name des Schwertes. Und dann geht es weiter: ›Dyrnwyn ziehe nur, wer da königlichen Geblüts ist, zu herrschen damit, zu schlagen die …‹ Schlecht zu lesen“, seufzte das Mädchen. „Die Buchstaben haben sich mit der Zeit abgenutzt. Aber nein, das ist sonderbar! Jemand hat sie herauszukratzen versucht, deshalb kann ich den Rest nicht lesen. Dies Wort hier sieht aus, als bedeute es ›Tod‹…“ Sie schauderte.
„Laß mich das Schwert aus der Scheide ziehen!“ drängte Taran von neuem. „Vielleicht finden wir auf der Klinge noch eine Inschrift.“
„Nein“, sagte Eilonwy fest. „Ich bin durch das Zauberzeichen gebunden – und aus! Im übrigen hast du ja selbst gehört, daß Dyrnwyn nur ziehen darf, wer da königlichen Geblüts ist. Von einem Hilfsschweinehirten ist nirgends die Rede.“
„Woher willst du wissen, daß ich nicht königlichen Geblütes bin?“ fragte Taran gereizt. „Ich bin nicht als Hilfsschweinehirt zur Welt gekommen. Mein Vater, den ich nicht kenne, kann durchaus ein König gewesen sein, so was kommt in den alten Geschichten zuweilen vor.“
„Was scheren mich deine alten Geschichten?“ entgegnete Eilonwy. „Königlichen Geblütes – das kommt auf die Auslegung an! In den geheimen Schriften bedeutet das nicht allein, daß man von Königen abstammt. Ich weiß nicht, wie ich mich ausdrücken soll; es ist etwas ganz Besonderes. Wer es besitzt, der braucht nicht danach zu fragen.“
„Ach, so ist das“, brummte Taran. „Deiner Meinung nach fehlt mir das ganz Besondere!“
„Ich wollte dich nicht beleidigen“, sagte Eilonwy rasch. „Zweifellos bist du der beste und tapferste Hilfsschweinehirt, dem ich je begegnet bin. Bloß – es ist mir verboten, dir Dyrnwyn zu überlassen; daß du das nicht begreifen kannst!“
„Und du? Was willst du damit anfangen?“
„Ich behalte das Schwert natürlich. Oder erwartest du etwa von mir, daß ich es in den nächsten Brunnen werfe?“
„Gut schaust du aus!“ nörgelte Taran. „Ein kleines Mädchen, das ein gewaltiges Schwert schleppt!“
„Ich – und ein kleines Mädchen?“ Eilonwy schüttelte zornig den Kopf. „Bei meinem Volk pflegten in den alten Tagen die Schwertmaiden neben den Männern zu kämpfen.“
„Die alten Tage sind längst vorüber“, sagte Taran. „Statt eines Schwertes solltest du eine Puppe tragen!“
Eilonwy drang mit ärgerlichem Geschrei auf ihn ein und wollte ihm das Gesicht zerkratzen. Fflewddur Fflam trat dazwischen und trennte sie. „Heda!“ rief er. „Was soll das Gezanke, das führt zu nichts!“ Er drehte mit einem großen Schlüssel den hölzernen Bolzen an der soeben frisch aufgezogenen Harfensaite fest. Eilonwy richtete ihren Unmut nun auf den armen Fflewddur. „Die Inschrift war äußerst wichtig“, warf sie ihm vor. „Keine Rede von Hüte dich vor meinem Zorn! – oder so. Hast du sie überhaupt richtig gelesen? Du bist mir ein feiner Barde, wenn du nicht einmal eine solche Inschrift enträtseln kannst!“
„Nun, siehst du, ehrlich gesagt“, meinte Fflewddur zögernd und schlug die Augen nieder, „ich bin eigentlich gar kein richtiger Barde. Von Hause aus bin ich nämlich – na ja, ich bin sozusagen ein König.“
„Ein König?“ fragte Taran betroffen und beugte das Knie.
„Keine Umstände, keine Umstände!“ wehrte Fflewddur ab. „Ich mag das nicht!“
„Und wo liegt dein Königreich?“ wollte Eilonwy wissen.
„Ein paar Tagereisen ostwärts von Caer Dathyl“, sagte Fflewddur Fflam. „Es handelt sich um ein weites und mächtiges Reich …“
Hier wurde er abermals von einem schrillen Mißklang der Harfe unterbrochen.
„Zum Teufel mit dem Ding!“ rief er aus. „Schon wieder zwei Saiten hin! – Um die Wahrheit zu sagen: Mein Königreich ist ein winziges Ländchen im Norden, überaus traurig und eintönig. Deshalb habe ich’s eines Tages auch aufgegeben. Schon immer war ich dem Bardentum und dem Wandern zugetan, so ist der Entschluß mir nicht schwergefallen.“
„Muß man als Barde nicht sehr viel lernen?“ fragte Eilonwy.
„Ungeheuer viel!“ sagte der ehemalige König. „Aber ich habe die Prüfungen glänzend bestanden.“ Eine kurze Saite am oberen Ende der Harfe riß mit schrillem Ton und ringelte sich zusammen wie eine Efeuranke. „Ich – habe sie nur mit Ach und Krach bestanden“, berichtigte sich Fflewddur. „Der Rat der Barden wollte mich um ein Haar nicht zulassen. Ehrenwort, heutzutage verlangen sie verdammt viel von einem! Dichtkunst und Chorgesang, Harfenspiel, Grundlagen des Kalenders, Geschichte und Runenkunde, worunter man die Entzifferung aller Geheimzeichen zu verstehen hat. Wie das ein einzelner Mensch in seinem armen Schädel unterbringen soll, ist mir schleierhaft! Nun, in meinem Fall war der Rat der Barden nicht kleinlich. Taliesin selbst, der Oberste aller Barden, schenkte mir diese Harfe, die, wie er sagte, genau das richtige für mich sei. Zugegeben, ein Prachtstück – wenn nur die ewige Schererei mit den Saiten nicht wäre!“
„Sie reißen in einem fort, wie mir scheint“, stellte Eilonwy fest.
„So ist es“, gab Fflewddur zu. „Es geschieht immer dann, wenn ich … Nun, ihr müßt wissen, daß ich ein Künstler bin, dem bisweilen die Worte durchgehen. Dann und wann ist es eben aus Gründen der Kunst erforderlich, daß man die Tatsachen etwas zurechtbiegt, versteht ihr.“
„Hm“, meinte Eilonwy. „Wenn du aufhören würdest, die Tatsachen etwas zurechtzubiegen -, hättest du aller Voraussicht nach weniger Schwierigkeiten mit deiner Harfe, ja?“
„Anzunehmen“, seufzte der Barde. „Doch leider hat man als Künstler seine Gewohnheiten. Ich verbringe mitunter mehr Zeit damit, die zerrissenen Saiten zu flicken, als mit dem Harfenspiel selbst.“
„Wo hat dich Achren gefangen?“ fragte Taran.
„Ich war auf der Wanderschaft“, sagte Fflewddur Fflam. „Und als ich nach Spiral Castle kam, da geschah es. Achren scheint von meinem Spiel nichts gehalten zu haben, sie ließ mich einlochen. Diese Frau hat kein Ohr für Musik, sie versteht nichts von wahrer Kunst.“
Fflewddur Fflam und Eilonwy ließen sich auf dem Rasen nieder, und Taran begann zu erzählen, was er während der letzten Tage erlebt hatte: von der Suche nach Hen Wen, von Gwydion und dem Gehörnten König. Nachdem Gurgi seine Mahlzeit beendet hatte, kam auch er hinzu und lauschte ihm.
„Es gibt für mich keinen Zweifel“, schloß Taran seinen Bericht, „daß die Söhne des Hauses Don gewarnt werden müssen, bevor der Gehörnte König zuschlägt. Wenn er den Kampf gewinnt, wird Arawn ganz Prydain in seinen Krallen haben. Und was das bedeutet, wißt ihr ja selbst.“ Es fiel ihm nicht leicht, wie ein Feldherr im Kriegsrat zu sprechen; doch mit der Zeit ging es immer besser, weil er im Grunde genommen für Gwydion sprach.
„Ich durchschaue deinen Plan“, unterbrach ihn Fflewddur. „Du willst dich weiterhin auf die Suche nach dem Schwein beschränken, während du mir die Aufgabe überträgst, die Söhne des Hauses Don zu warnen. Ausgezeichnet! Ich werde sogleich aufbrechen – und wenn mich die Leute des Gehörnten Königs angreifen…“, er fuchtelte mit beiden Händen in der Luft herum, „dann sollen sie erfahren, was ein rechter Fflam ist!“
Taran erwiderte kopfschüttelnd: „Die Gefahr ist zu groß. Ich selbst muß nach Caer Dathyl wandern.“
„Und wann gedenkst du Hen Wen zu suchen?“ fragte der Barde.
„Später“, sagte Taran. „Nun, da Gwydion nicht mehr am Leben ist, gibt es für mich nur die eine Pflicht: das zu tun, was auch er getan hätte. Mein Entschluß ist gefaßt.“
Fflewddur war drauf und dran, ihm zu widersprechen; doch die Festigkeit, mit der Taran ihnen seine Pläne dargelegt hatte, ließ ihn verstummen. Nach einer Weile fragte er: „Und was kann ich für dich tun?“
„Zweierlei“, sagte Taran. „Erstens beschreibe mir, bitte, wie ich am schnellsten nach Caer Dathyl gelange; und zweitens könntest du Eilonwy sicher zu ihren Leuten zurückbringen.“
Ehe Fflewddur den Mund öffnen konnte, stieß Eilonwy einen Schrei der Entrüstung aus und sprang auf. „Wohin soll er mich bringen? Mich kann man nicht einfach abschieben, nicht ein zweitesmal! Ich gehe nach Caer Dathyl und an keinen anderen Ort der Welt, verstanden?“
„Der Weg dorthin ist gefährlich genug“, widersprach ihr Taran, „selbst wenn man sich nicht um ein Mädchen zu sorgen braucht.“
Eilonwy stemmte die Hände in die Hüften, ihre Augen blitzten. „Ich bin nicht ein ›Mädchen‹, als hätte ich keinen Namen! Ich heiße Eilonwy, merk dir das! Wie wollt ihr mich daran hindern, daß ich nach Caer Dathyl gehe? Wenn du“ – sie deutete auf den Barden – „versuchen wolltest, mich zu meinen lausigen Verwandten zu bringen, die übrigens nur um sieben Ecken mit mir verwandt sind, dann werd’ ich dir deine Harfe um die Ohren hauen, daß nichts davon übrigbleibt!“
Fflewddur barg die Harfe besorgt an der Brust, während Eilonwy fortfuhr:
„Und wenn ein gewisser Hilfsschweinehirt, dessen Namen ich lieber nicht nennen mag, anders darüber denkt, wird er sich eben geirrt haben!“
Nun begannen alle, laut und aufgebracht durcheinanderzureden. „Aufhören!“ rief Taran. „Aufhören!“ Und nachdem sich die beiden anderen etwas beruhigt hatten, wandte er sich an Eilonwy. „Wir könnten dich einfach auf Melyngar setzen und festbinden“, sagte er. „Aber das werden wir nicht tun, wir nehmen dich trotzdem mit. Und zwar keineswegs deshalb, weil du es so gewollt hast, sondern weil ich es für das beste halte.“ Der Barde machte ein überraschtes Gesicht. „Je mehr wir sind, desto größer die Aussicht, daß einer durchkommt“, fuhr Taran fort. „Deshalb, glaube ich, sollten wir alle beisammenbleiben..
„Ja – alle!“ schrie Gurgi. „Es lauern zu viele schreckliche Feinde im Wald, mit Schwertern und Spießen und Pfeilen zum Schießen! Deshalb kommt auch der brave, unerschrockene Gurgi mit euch.“
„Fflewddur soll uns den Weg weisen“, sagte Taran. „Doch ich warne euch, Gurgi und Eilonwy! Nichts darf uns daran hindern, unsere Aufgabe zu erfüllen.“
„Eigentlich würde ich es ja vorziehen, selbst den Befehl über euch zu führen“, meinte der Barde und einstige König. „Doch da du die Stelle des Fürsten Gwydion einnimmst“, wandte er sich an Taran, der gerade aufbrausen wollte, „beuge ich mich deinem Oberbefehl, wie ich mich dem seinen gebeugt hätte. Vorwärts also! Und sollten wir uns schlagen müssen – wohlan denn, so sei es! Wie oft schon habe ich mich durch Mauern von waffenstarrenden Feinden hindurchgekämpft!“ An dieser Stelle seiner Rede rissen sechs Harfensaiten auf einen Schlag; die übrigen spannten sich derart, daß es den Anschein hatte, als wollten auch sie im nächsten Augenblick zerspringen. Während Taran Melyngar sattelte, begann der Barde reuevoll, seine Harfe zu flicken.