Im Gegensatz zu den oberen Gängen bestanden die Seitenwände des neuen Stollens aus sauber aufgeschichtetem Mauerwerk. Die Decke war gleichfalls aus Steinen gefügt und ruhte auf kräftigen Stützpfeilern, die sich in regelmäßigen Abständen aneinanderreihten. Die Luft war zwar muffig, als habe sie sich seit Jahrhunderten nicht bewegt, doch es ließ sich hier besser und freier atmen als in den oberen Stollen. Außerdem konnten die beiden jetzt nebeneinander gehen und brauchten sich nicht zu bücken.
Taran war es trotz allem nicht wohl zumute. Eilonwy hatte selbst zugegeben, daß sie von diesem Gang keine Ahnung gehabt hatte. Ihr munteres Selbstvertrauen vermochte den Jungen keineswegs zu beruhigen. Obwohl sie sich nicht im geringsten hier unten auskannte, eilte sie unbekümmert dahin. Ihre Sandalen klapperten auf dem Steinboden, das goldene Licht der Kugel in ihren Händen geisterte durch die Finsternis. Sie kamen an einigen Seitengängen vorbei, denen Eilonwy keine Beachtung schenkte. „Wir werden dem Hauptstollen bis an sein Ende folgen“, verkündete sie. „Kann sein, daß er uns ins Freie führt.“ Tarans Bedenken wurden mit jedem Schritt größer.
„Wir hätten an Ort und Stelle bleiben und alles daransetzen müssen, um wieder nach oben zu kommen“, sagte er stirnrunzelnd. „Bis wir das Ende des Ganges erreicht haben, können Tage vergehen.“ Noch etwas machte ihm Sorge. „Ich denke, wir wollten zurück an die Oberwelt“, brummte er, „doch der Stollen führt stetig nach unten. Ich habe den Eindruck, wir gehen nur immer tiefer hinein in den Berg.“
Eilonwy überhörte geflissentlich, was er sagte, und eilte weiter. Plötzlich, nach wenigen Schritten schon, war der Gang zu Ende. Sie standen vor einer Sperre aus Felsblöcken, die ihn ganz und gar ausfüllte. „So was Ähnliches hab’ ich befürchtet!“ rief Taran ärgerlich. „Warum hast du nicht auf mich hören wollen? Wir haben bloß Zeit verloren und nichts erreicht.“
Eilonwy deutete kopfschüttelnd auf die Sperre. „Ich verstehe das nicht“, erklärte sie. „Warum sich wohl jemand die Mühe macht, einen solchen Stollen zu graben und auszumauern, der nirgends hinführt? All diese Heidenarbeit für nichts und wieder nichts? Überleg doch mal!“
„Ach was!“ fiel Taran ihr ins Wort. „Ich wünschte, du würdest aufhören, dir über Dinge den Kopf zu zerbrechen, die uns nichts angehen. Los jetzt, wir müssen zurück in die Felsenkammer, aus der wir gekommen sind! Und dann nichts wie hinauf in den oberen Stollen, irgendwie werden wir das schon schaffen.“
„Recht hast du“, sagte Eilonwy. „Es ist alles sehr fremd hier und unheimlich. Ich weiß wirklich nicht, wo wir sind …“
„Ich wußte ja, daß wir uns bloß verlaufen würden“, knurrte Taran.
„Wir haben uns nicht verlaufen“, entgegnete Eilonwy eigensinnig. „Im Augenblick weiß ich bloß nicht, wo wir sind. Immerhin ist mir wohlbekannt, daß wir uns unter Spiral Castle befinden – und das ist eine ganze Menge.“
„Du kannst mir mit deinen Haarspaltereien gestohlen bleiben“, sagte Taran. „Du bist ja noch schlimmer als Dallben!“
„Wer ist Dallben?“
„Dallben ist mein – oh, es tut nichts zur Sache!“ Taran machte wütend kehrt und wollte den Rückweg antreten. Eilonwy hielt ihn am Ärmel fest.
„Ob wir in einen der Seitengänge hineinschauen?“ meinte sie.
Taran wollte von ihrem Vorschlag nichts wissen. Trotzdem verlangsamte er an der Mündung des nächsten Seitenganges den Schritt ein wenig und warf einen Blick hinein.
„Los!“ drängte Eilonwy, „laß uns ein Stück hineingehen und uns drin umsehen!“
„Still doch!“ Der Junge streckte den Kopf vor und lauschte angestrengt in den Stollen. Von fern her hörte er etwas wispern und rauschen. „Was das wohl sein mag?“
„Laß uns herausfinden, was es ist!“ Eilonwy stupste ihn in den Rücken. „Vorwärts, geh du voran!“ Der Nebenstollen war enger und niedriger als der Hauptgang und führte noch tiefer hinab in den Berg. Taran folgte ihm langsam und vorsichtig. Mißtrauisch setzte er Fuß vor Fuß, er hatte genug von dem einen Sturz in die Tiefe.
Das Wispern und Rauschen ging in verhaltenes Wehklagen über. Es hörte sich an, als ob jemand an menschlichen Stimmen zupfte, die man zu Saiten gesponnen und straff gespannt hatte. Eisige Luft strich den Gang herauf, brachte Seufzer und dumpfes Gemurmel mit. Irgendwo in der Tiefe des Berges knirschte und kreischte es, als ob Schwerter am Fels gewetzt würden. Taran spürte, wie ihm die Hände zitterten. Er zögerte einen Augenblick, winkte Eilonwy, hinter ihm stehenzubleiben, flüsterte: „Gib mir das Licht und warte hier!“
„Ob es Geister sind?“ fragte Eilonwy. „Leider haben wir keinen Besen, auf den ich spucken könnte. Ein besseres Mittel, um sich vor Geistern zu schützen, gibt es nicht. Aber vielleicht ist es bloß der Wind.“
„Der Wind? Woher sollte denn hier ein Wind kommen?“ fragte Taran. „Aber kann sein, daß du recht hast. Vielleicht gibt es da irgendwo eine Öffnung …“ Entschlossen, sich von den gespenstischen Stimmen nicht bange machen zu lassen, beschleunigte er den Schritt. Eilonwy folgte ihm, ohne sich im geringsten darum zu scheren, daß er es ihr verboten hatte.
Das Ende auch dieses Stollens war bald erreicht. Wiederum standen die beiden vor einer Sperre aus übereinandergeschichteten Steinblöcken. Diesmal entdeckten sie einen Durchschlupf darin. Taran überwand seine Furcht. Auf dem Bauch kriechend, schob er sich unter der Sperre durch. Eilonwy folgte ihm. Sie kamen in eine geräumige Felsenhöhle mit niedriger Decke. Die klagenden Stimmen erschollen nun lauter als je zuvor. Tarans Stirn war ungeachtet des kalten Luftzuges naß vom Schweiß. Die Kugel emporhebend, trat er weiter vor. Nun erkannte er in der Dämmerung Schilde, die von den Wänden herabhingen. Darunter gewahrte er ganze Stapel von Schwertern und Speeren. Sein Fuß stieß an etwas Hartes. Er beugte sich vor – und fuhr erschaudernd zurück. Ihm zu Füßen lag der verdorrte Leichnam eines Mannes. Ein Krieger in voller Rüstung war es. Neben ihm lag ein zweiter, daneben ein dritter, ein vierter – einige zwanzig im ganzen. In ihrer Mitte ruhte auf steinernem Sarkophag eine schattengraue Gestalt.
Eilonwy schenkte den toten Kriegern bloß einen flüchtigen Blick, etwas anderes zog ihre Aufmerksamkeit auf sich. „Wenn Achren das wüßte!“ Staunend wies sie auf ganze Berge von Otterfellen und Dutzende irdener Krüge, aus denen Juwelen hervorquollen. Kostbarer Zierat funkelte von den Helmen und Schilden. Eine Anzahl aus Weidenruten geflochtener Körbe floß über von Armreifen, Ringen und glitzernden Halsketten. „Das hätte sie längst herausgeholt, wenn sie davon gewußt hätte!“ meinte Eilonwy. „Achren ist verrückt nach Geschmeide. Sie kann nicht genug bekommen davon, obwohl es ihr gar nicht besonders steht.“
Über die toten Krieger hinwegsteigend, näherte Taran sich der Gestalt auf dem Sarkophag. Es stand für ihn außer Zweifel, daß sie sich hier in der Gruft jenes großen und mächtigen Herrschers befanden, der Spiral Castle vorzeiten erbaut hatte. Reiche Gewänder umhüllten den Leichnam des Königs, Perlen und Edelsteine zierten den breiten Gürtel. Mit seinen Knochenfingern umfaßte der Tote den reich mit Juwelen besetzten Griff seines Schwertes, als sei er bereit, es im nächsten Augenblick aus der Scheide zu ziehen.
Betroffen wich Taran ein Stück zurück. Der tote König, so schien es ihm, blickte ihn warnend an: Wehe dem, der es wagen sollte, ihm seine Schätze zu rauben! Als Taran sich umdrehte, traf ihn ein Windstoß. „Ich glaube, hier ist ein Durchgang!“, rief er. Er lief in die Richtung, aus der sie noch immer die Stimmen der Geister vernehmen konnten.
Dicht über dem Boden öffnete sich ein Stollen. Er spürte den frischen Luftzug, der ihm daraus entgegenwehte, und sog seine Lungen voll. „Mir nach!“ rief er Eilonwy zu. Er riß einem der toten Krieger das Schwert aus den Fäusten und kroch in den Stollen. Der Gang war entsetzlich eng, weit enger, als Taran befürchtet hatte. Auf dem Bauch liegend, kämpfte er sich hindurch. Eilonwy folgte ihm keuchend und prustend nach. Auf einmal ließ sich ein neuer Ton vernehmen, ein fernes Hämmern und Grollen, das ständig zunahm. Die Erde erbebte, dem Jungen dröhnte der Kopf davon. Plötzlich stürzten die Wände des Stollens ein. Baumwurzeln kamen zum Vorschein, der Boden barst auseinander. Im nächsten Augenblick wurde Taran ins Freie hinausgeschleudert und fand sich am Fuß eines überhängenden Felsens wieder.
Ohrenbetäubendes Krachen erfüllte den ganzen Berg. Hoch droben war Spiral Castle zu sehen, in blaue Flammen gehüllt. Ein Windstoß warf Taran zu Boden. Blitze zeichneten sich am Himmel ab, feurigen Bäumen gleich. Eilonwy rief um Hilfe.
Sie steckte noch immer halb in dem engen Stollen. Die Mauern von Spiral Castle wehten wie graue Fetzen im Wind, selbst die Türme wankten. Taran schob Erde und Steinbrocken aus dem Weg.
„Das Schwert ist es!“ jammerte Eilonwy. „Ich hänge damit in den Wurzeln fest!“
Taran packte das Mädchen unter den Armen und zerrte es aus dem Stollen. Sand im Mund, fragte er: „Was für ein Schwert denn?“
„Uff!“ stöhnte Eilonwy. „Ich fühle mich ganz so, als habe mich jemand vollständig auseinandergenommen und hinterher falsch zusammengesetzt! – Was für ein Schwert das ist? Sagtest du nicht, daß wir Waffen brauchten? Auch ich hab’ mir einfach dort unten eins mitgenommen.“
Mit Donnergetöse, das aus der Tiefe des Berges zu kommen schien, stürzte Spiral Castle in sich zusammen. Die Mauern barsten, die Türme schwankten und brachen nieder. Dann wurde es plötzlich still ringsum, totenstill. Der Sturm war verebbt, kein Blatt im Geäst der Bäume rührte sich mehr.
„Du hast mir das Leben gerettet, ich danke dir“, sagte Eilonwy. „Für einen Hilfsschweinehirten bist du ganz schön mutig, das hätte ich kaum von dir erwartet! – Was wohl aus Achren geworden ist?“ fuhr sie fort. „Ich stelle mir vor, sie ist außer sich vor Wut und hat einen schrecklichen Zorn auf mich. Na, wenigstens zürnt mir die alte Hexe diesmal nicht ohne Grund! Was meinst du, wie oft mich Achren für Dinge bestraft hat, an denen ich gar nicht schuld gewesen bin!“
„Wenn sie in Spiral Castle war, dürfte sie kaum noch imstande sein, dir zu zürnen“, meinte Taran. „Doch komm nun endlich, wir wollen gehen!“
Das Schwert aus der Gruft war entschieden zu lang für Eilonwy. Da sie es nicht an der Hüfte tragen konnte, hängte sie es sich kurz entschlossen über die Schulter.
Taran traute seinen Augen nicht, als er näher hinschaute. „Donnerwetter, das ist ja das Königsschwert!“ rief er aus.
„Warum nicht?“ meinte Eilonwy. „Ich finde, das Beste ist immer gerade gut genug.“ Sie hob ihre goldene Kugel hoch. „Wir befinden uns hier an der Rückseite des Schlosses – oder vielmehr seiner traurigen Überreste“, erklärte sie. „Dein Freund muß dort drüben unter den Bäumen sein, falls er auf dich gewartet hat. Es sollte mich freilich wundern, wenn er noch da wäre.“ Nun liefen sie zu den.Bäumen hinüber. Taran erspähte den Schattenriß einer in einen Mantel gehüllten Gestalt und ein weißes Roß.
„Gwydion!“ rief er. „Gwydion!“ In diesem Augenblick brach der Mond aus den Wolken hervor. Die Gestalt im Mantel wandte den Kopf her – und Taran blickte in das Gesicht eines wildfremden Mannes.