16. Doli

„Warum hast du nichts von Hen Wen erwähnt?“ warf Taran dem Herrn und Gebieter der Unterirdischen vor.

„Hast du mich etwa nach ihr gefragt?“ erwiderte Eiddileg.

„Solche Haarspaltereien sind eines Königs unwürdig“, murrte Fflewddur; und Taran fügte hinzu: „Verschweigen ist manchmal schlimmer als eine Lüge! Hättest du uns nicht aufgehalten, so hätten wir nie erfahren, was mit Hen Wen geschehen ist.“

„Du solltest dich schämen!“ Eilonwy deutete mit dem Finger auf Eiddileg, dem es sichtlich Verlegenheit bereitete, daß man ihm auf die Schliche gekommen war. „Du hast dich verhalten wie jemand, der wegschaut, wenn neben ihm einer in den Brunnen fällt.“

„Was wir Unterirdischen finden, gehört uns“, erklärte der Zwergenkönig barsch. „Hen Wen ist einigen meiner Leute am Ufer des Avren in die Hände gelaufen. Von den Häschern des Gehörnten Königs verfolgt, kam sie durch eine Schlucht gerannt. Meine Krieger haben sie dem Zugriff ihrer Verfolger entzogen – wir wissen ja, wie man mit solch ungeschlachten Tölpeln fertig wird – und sie auf unterirdischen Wegen hierher gebracht.“ „Also deshalb hat Gwydion keine Spur von ihr finden können!“ murmelte Taran.

„Meine Leute haben Hen Wen gerettet“, fuhr Eiddileg fort und bekam vor Ärger einen roten Kopf. „Aber statt mir dafür zu danken, beschimpft ihr mich. Oh, ich sehe es euren Gesichtern an, was ihr von mir denkt! Eiddileg ist ein Dieb und ein Gauner – das denkt ihr doch, wie? Zur Strafe sollt ihr das weiße Schwein nicht zurückbekommen. Und ich lasse euch in den Kerker werfen!“

Eilonwy schnappte entrüstet nach Luft. „Wenn du das tust“, rief sie, „bist du tatsächlich ein Dieb und ein Gauner! Hast du versprochen, uns freizulassen – ja oder nein? Bei euch scheint das Wort eines Königs nicht viel zu gelten!“

„Bis vorhin war zwischen uns nie die Rede von einem Schwein!“ Eiddileg schlug die Hände über dem Wanst zusammen und kniff die Lippen zu.

„Nein“, sagte Taran, „davon war keine Rede. Aber was hältst du von Ehre und Anstand?“

Eiddileg blickte unsicher in die Runde. Er zog das orangefarbene Tüchlein heraus und begann sich von neuem die Stirn zu tupfen. „Damit hättest du mir nicht kommen dürfen!“ stöhnte er. „Ehre und Anstand gehen dem König der Unterirdischen über alles. Wohlan denn – ich gebe euch euer Schwein zurück.“

„Wir brauchen auch neue Waffen“, sagte Taran. „Was?“ heulte Eiddileg auf. „Wollt ihr mich an den Bettelstab bringen?“

„Reißen-und-Beißen außerdem!“ quäkte Gurgi dazwischen.

Der Junge nickte. „Vorräte brauchen wir selbstverständlich auch.“

„Ihr seid unverschämt!“ schimpfte der König. „Ihr könnt nicht genug kriegen! Waffen, Verpflegung, Schweine – was wollt ihr denn noch von mir?“

„Einen Führer, der uns den Weg nach Caer Dathyl zeigt“, antwortete Taran ungerührt.

Bei diesen Worten wäre Eiddileg fast geplatzt. Schließlich nickte er widerstrebend und sagte: „Ich werde euch Doli mitgeben. Doli ist der einzige meiner Untertanen, den ich entbehren kann.“ Er klatschte in die Hände und erteilte den Zwergenkriegern einen Befehl. Dann fauchte er die Gefährten an: „Schert euch weg hier, bevor es mich reut!“ Eilonwy eilte zum Thron, hauchte Eiddileg einen Kuß auf die Stirn und flüsterte ihm ins Ohr: „Hab Dank! Ich wußte ja, daß du ein ausgemacht netter König bist.“

„Raus, raus!“ schrie der Herrscher der Unterirdischen. Bevor sich die Tür hinter ihnen schloß, sah Taran noch, wie er sich glückstrahlend über die Stirn strich. Ein paar Zwergenkrieger führten sie den gewölbten Gang entlang. Taran hatte vermutet, Eiddilegs Königreich sei nicht viel mehr als ein Wirrwarr von unterirdischen Gängen. Doch zu seiner Überraschung erweiterten sich die Stollen alsbald zu breiten Straßen und Plätzen. Hoch oben in den Gewölben funkelten Edelsteine wie kleine Sonnen. Hier unten gedieh kein Gras, die Wiesen waren von grünen Flechten bedeckt. Es gab blaue Seen, die im Schein der Edelsteine glitzerten, und es gab da und dort Hütten und kleine Bauerngehöfte. Fast hätten Taran und seine Gefährten darauf vergessen, daß sie sich unter der Erde befanden. „Es wäre vielleicht das klügste, wenn wir Hen Wen einstweilen hier unten zurückließen“, flüsterte Fflewddur. „Später, wenn alle Gefahr vorüber ist, könnten wir sie dann abholen.“

„Daran habe ich auch schon gedacht“, antwortete Taran. „Doch wer weiß, ob wir jemals hierher zurückfänden. Deshalb bin ich der Meinung, daß wir sie unter allen Umständen mitnehmen müssen. Von nun an, das habe ich mir geschworen, lasse ich sie nie mehr aus den Augen.“

Nach einiger Zeit hielten die Unterirdischen vor einer der niedrigen Hütten an. In der Nähe befand sich ein Zaun, hinter dem sich ein lautes Grunzen vernehmen ließ. Taran horchte auf. Einer ihrer Begleiter öffnete das Gatter, und zappelnd und quiekend kam ein weißes Schwein auf sie zugerannt.

Taran schlang die Arme um seinen Hals. „O Hen Wen!“ rief er. „Selbst Medwyn hat dich für tot gehalten!“ Hen Wen quiekte freudig, ihre runden Äuglein glänzten vor Glück. Sie beschnüffelte Taran voll überschwenglicher Zärtlichkeit und warf ihn vor lauter Freude fast um.

„Hen sieht wunderbar aus“, sagte Eilonwy und kraulte das Zauberschwein hinter den Ohren. „Wenn sich zwei Freunde wiederfinden, dann ist das, wie wenn man vom Schlaf erwacht und draußen die Sonne scheint.“

„Sie ist wirklich ein Prachtstück von einem Schwein“, stimmte der Barde zu. „Seht nur, wie glücklich sie ist!“

„Und der tüchtige, noble, tapfere, weise Gurgi hat sie gefunden!“ rief Gurgi stolz.

Taran klopfte ihm auf die Schulter. „Keine Sorge, mein Lieber, das werd’ ich dir nie vergessen!“

Grunzend und schnaufend folgte Hen Wen dem Jungen und seinen Begleitern nach, bis sie zu einer Stelle jenseits der Felder gelangten, wo ein einzelner Zwerg sie erwartete. Die Unterirdischen erklärten ihnen, dies sei Doli, der Führer, den König Eiddileg ihnen versprochen habe. Doli war von kurzer, gedrungener Gestalt, fast so breit wie lang. Er trug eine rostfarbene Lederjacke und derbe kniehohe Stiefel. Sein Kopf war von einer runden Kappe bedeckt, unter deren Rand ein paar Strähnen feuerroten Haares hervorquollen. Eine Axt und ein kurzes Schwert hingen an seinem Gürtel, außerdem war er mit Pfeil und Bogen bewaffnet.

Taran verbeugte sich höflich vor ihm. Doli starrte ihn aus hellroten Augen an und knurrte. Dann holte er zu Tarans Überraschung tief Atem und hielt die Luft an, bis sein Gesicht puterrot anlief. Es hatte den Anschein, als werde er jeden Augenblick platzen. Doch plötzlich stieß er die Luft wieder aus und atmete hastig weiter.

„Was ist los mit dir?“ fragte Taran.

„Du kannst mich noch sehen, nicht wahr?“ keuchte Doli.

„Warum sollte ich dich nicht sehen können?“ erwiderte Taran befremdet.

Doli warf ihm einen ärgerlichen Blick zu und schwieg. Zwei Unterirdische führten Gwydions Schimmel herbei.

König Eiddileg hatte Wort gehalten: Melyngars Satteltaschen waren mit Vorräten vollgestopft, an Waffen fehlte es auch nicht. Das weiße Roß war mit Speeren, Bogen und Pfeilen beladen. Wie alle Waffen der Unterirdischen waren sie kurz und schwer, aber handlich. Mit einer Handbewegung forderte Doli den Jungen und seine Gefährten auf, ihm zu folgen. Unter ständigem Raunzen und Murren wies er ihnen den Weg zu einer hohen Felswand. Als sie davorstanden, sahen sie, daß eine Treppe hinaufführte. Doli wies mit dem Kopf auf die Stufen, und sie begannen den Aufstieg. Es ging steil hinauf, steiler als je zuvor in den Bergen der Oberwelt. Melyngar kletterte geduldig voran, prustend und ächzend schleppte Hen Wen sich auf ihren kurzen Beinen hinterdrein. Alle atmeten auf, als sie endlich die obere Kante des Felsens erreicht hatten. Nun schritten sie einen schmalen, mit Steinen gepflasterten Fußpfad entlang, bis sie plötzlich vor einer Wand aus gleißendem Licht standen: Sie befanden sich auf der Rückseite eines hohen Wasserfalls. Einzeln von Stein zu Stein springend, überquerten sie einen schäumenden Bach und gelangten dann unvermittelt ins Freie hinaus. Doli warf einen Blick nach der Sonne. „Nicht mehr viel Tageslicht übrig“, maulte er. „Glaubt bloß nicht, daß ich mir während der Nacht die Beine ablaufe. Ich hab’ mich um dieses Geschäft nicht gerissen, versteht ihr, bin einfach dazu befohlen worden. Wenn ich mir euch so ansehe – ach du liebe Zeit! Wollen hoffen, daß ihr’s mit keinen feindlichen Kriegern zu tun bekommt. Oder kann einer von euch ein Schwert führen, he?“ Dolis Worte waren alles andere als schmeichelhaft gewesen. Taran hoffte gleichwohl, ihr Begleiter werde mit der Zeit etwas umgänglicher werden. Doli schien jedoch alles, was er zu sagen hatte, gesagt zu haben. Als der Junge ihn eine Weile später ansprach, wandte er sich ab und begann von neuem, den Atem anzuhalten.

„Um Himmels willen, hör auf damit!“ bat ihn Eilonwy. „Wenn man dir zuschaut, kommt man sich vor, als habe man eine Unmenge Wasser geschluckt.“

„Es klappt immer noch nicht“, seufzte Doli.

„Was denn?“ fragte der Junge.

„Nun, was wohl?“ antwortete Doli mißmutig. „Ich versuche mich unsichtbar zu machen.“

„Unsichtbar?“ staunte Fflewddur.

„Ja, unsichtbar“, stöhnte der Zwerg. „Alle meine Verwandten und Freunde können das. Einfach so: Atem anhalten – fertig! Bloß mir will es nicht gelingen. Kein Wunder, daß alle sich über mich lustig machen, und daß mich der König mit einem Haufen von Narren losschickt. Dazu bin ich gut genug – ich, der ich ohnehin alle unangenehmen und kniffligen Dinge erledigen muß, die es in Eiddilegs Reich zu erledigen gibt.“ Wieder hielt Doli den Atem an; sein Gesicht wurde blau, seine Ohren begannen zu zittern.

„Ich glaube, jetzt schaffst du es!“ sagte der Barde mit aufmunterndem Lächeln. „Du bist schon ganz durchsichtig an den Rändern …“ Kaum waren die Worte heraus, da zersprang eine Harfensaite. Fflewddur blickte schuldbewußt zu Boden und murmelte: „Verdammt noch mal – ich gebe ja zu, daß ich wieder ein bißchen übertrieben habe; aber ich habe es bloß aus Mitleid getan.“

„Was ist schon daran gelegen, ob du dich unsichtbar machen kannst oder nicht“, sagte Taran zu Doli. „Ich an deiner Stelle würde mich damit abfinden, daß es nicht klappt.“

„Ja“, fügte Eilonwy hinzu. „Warum sich darüber ärgern, daß man nicht fertigbringt, was unmöglich ist? Das ist schlimmer, als wenn du versuchen wolltest, dich größer zu machen, indem du dich auf den Kopf stellst.“ Keine der wohlgemeinten Reden schien Doli sonderlich zu beeindrucken. Wortkarg und verdrossen schritt er seines Weges. Trotzdem war er ein ausgezeichneter Führer.

Daß sie bis zum Abend eine weitaus größere Strecke bewältigen konnten, als sie für möglich gehalten hätten, war ausschließlich sein Verdienst. Als Taran ihn darauf ansprach, machte Doli bloß „Hm …“ und hielt wieder den Atem an.

Sie verbrachten die Nacht an einem geschützten Hang in den Vorbergen. Gurgi, der von Taran gelernt hatte, wie man ein Feuer anmacht, war glücklich, daß er sich seinen Freunden nützlich erweisen konnte. Er sammelte eifrig Zweige, hob eine Kochgrube aus und verteilte die Verpflegung zu jedermanns Erstaunen gleichmäßig und gerecht, ohne dabei auf den eigenen Vorteil bedacht zu sein.

Doli lehnte es ab, auch nur einen Handgriff für Taran und dessen Gefährten zu tun. Mißgelaunt kramte er seine Wegzehrung aus dem Lederbeutel, den er an der Seite trug, und setzte sich verdrießlich kauend auf einen Stein. Er nörgelte bei jedem Bissen vor sich hin, und von Zeit zu Zeit versuchte er aufs neue, sich unsichtbar zu machen.

„Nicht aufgeben, alter Junge!“ rief Fflewddur. „Noch ein Versuch, und du schaffst es vielleicht! Verschwimmen nicht deine Umrisse schon allmählich?“

„Oh, still!“ wies Eilonwy den Barden zurecht. „Wenn du ihn weiter ermunterst, wird er sich noch entschließen, den Atem für immer anzuhalten!“

„Ich habe es ja bloß gut gemeint“, erklärte der Barde kleinlaut. „Ein Fflam, du weißt es, gibt niemals auf – und ich sehe nicht ein, warum es ein Unterirdischer tun sollte.“

Hen Wen war dem Jungen während des ganzen Tages nicht von der Seite gewichen. Als er nun seinen Mantel auf dem Boden ausbreitete, grunzte sie vor Wonne, kam herbeigewatschelt und kuschelte sich an seine Seite. Ihre Ohren entspannten sich. Sie lehnte den Kopf an Tarans Schulter und kicherte wohlgelaunt vor sich hin. Das Gewicht ihres Körpers machte es dem Jungen unmöglich, sich von ihr abzuwenden. Während sie genüßlich schnarchte, begann er sich auf eine schlaflose Nacht einzurichten. „Wie gut, dich zu spüren, Hen“, dachte er. „Und wie gut, daß du glücklich bist. Aber ich wünschte, du machtest halb soviel Aufhebens davon!“


Am nächsten Morgen kehrten sie dem Gebirge den Rücken und schlugen die Richtung nach Caer Dathyl ein. Wieder einmal mußte Taran an Gwydion denken. Was hatte er wohl von Hen Wen zu erfahren gewünscht? Als sie das nächstemal rasteten, sprach er mit Fflewddur darüber.

„Vielleicht gibt es in Caer Dathyl jemanden, der sich darauf versteht, sie zu befragen“, meinte er. „Schade, daß wir sie nicht selbst zum Reden bringen können. Ich bin überzeugt, sie hätte uns eine Menge wichtiger Dinge zu sagen.“

Der Barde pflichtete ihm bei. Zu dumm, daß sie keine geeigneten Runenstäbe zur Hand hatten! „Vielleicht kann ich sie trotzdem zum Sprechen bringen“, bot sich Eilonwy an. „Achren hat mir allerlei Beschwörungsformeln beigebracht. Möglich, daß uns eine davon weiterhilft.“

Damit ließ sie sich neben Hen Wen auf dem Rasen nieder und begann auf sie einzuflüstern. Hen hörte ihr eine Zeitlang freundlich zu, lachte dabei und grunzte, gab jedoch mit keiner Miene zu verstehen, daß sie auch nur ein Wort von dem, was das Mädchen sagte, begriffen habe. Schließlich machte sie sich mit fröhlichem Quieken von Eilonwy los und rannte zu Taran zurück. „Alles zwecklos“, sagte der Junge. „Hoffentlich haben sie Runenstäbe in Caer Dathyl. Aber ich fürchte, daß Dallben der einzige Mann in Prydain ist, der welche besitzt.“

Nach kurzer Rast brachen sie auf und wanderten weiter. Doli führte sie auf eine Lichtung hinaus und an einer Reihe von Erlen entlang. Dann hielt er mit einemmal an und hob lauschend den Kopf.

Auch Taran hatte das Geräusch vernommen: ein zartes, hohes Weinen, das aus einem verfilzten Dornbusch zu kommen schien. Sein Schwert ziehend, eilte er darauf zu.

Plötzlich blieb er wie angewurzelt stehen. Was da wimmernd im Dornbusch hing, war – ein Gwythaint.

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