Hen Wen war verschwunden. Wenige Schritte vor sich hörte Taran ein Rascheln im Laub. Er war überzeugt davon, daß sie sich irgendwo im Gebüsch verborgen hielt. Dem Geräusch folgend, rannte er weiter. Nach einiger Zeit stieg der Boden steil an. Taran mußte auf allen vieren einen bewaldeten Hang hinaufklettern und kam an den Rand einer Wiese. Für einen Augenblick sah er Hen Wen durch das wogende Gras sausen. Dann verschwand sie jenseits der Wiese aufs neue im Wald. Taran eilte ihr nach. Nie zuvor hatte er gewagt, sich so weit von Caer Dallben zu entfernen. Verbissen kämpfte er sich durchs Gestrüpp. Bald stieß er auf einen einigermaßen breiten Pfad, der es ihm gestattete, schneller voranzukommen. Hen Wen war entweder irgendwo untergeschlüpft, oder sie hatte ihn abgeschüttelt. Er hörte jetzt bloß noch die eigenen Schritte. Da der Pfad in zahlreichen Krümmungen verlief und sich häufig verzweigte, wußte der Junge bald nicht mehr, woher er gekommen war.
Die Bäume standen nicht allzu dicht, aber sie waren in tiefe Schatten getaucht, nur wenige dünne, zitternde Sonnenstrahlen durchbrachen das Gewirr der Äste und Zweige. Ein dumpfer Geruch lag in der Luft. Kein Vogel ließ sich vernehmen, kein Eichhörnchen schwatzte. Und doch war das Dickicht von einer kaum hörbaren, seufzenden Unrast erfüllt. Weil es ihn fröstelte, schlug der Junge mit den Armen um sich und beschleunigte den Schritt. Nach einiger Zeit wurde ihm klar, daß er sich in der Wildnis verirrt hatte. Plötzlich war Hufschlag zu hören, der durch den Wald dröhnte. Kurz darauf brach ein schwarzes Roß aus dem Dickicht hervor.
Taran ließ sich erschrocken zurückfallen. Im Sattel des schaumbedeckten Tieres gewahrte er eine furchterregende Gestalt. Von den Schultern des fremden Reiters flammte ein blutroter Mantel herab. Blutrot waren auch seine gewaltigen Arme.
Voll Entsetzen erkannte der Junge, daß er ein Hirschgeweih auf dem Kopf trug.
Der Gehörnte König! Taran preßte sich gegen den Stamm einer Eiche, um den blitzenden Hufen zu entrinnen. Roß und Reiter stürmten an ihm vorbei. Der Blutrote trug einen Totenschädel als Maske vor dem Gesicht; ihr entsprossen die mächtigen Äste eines Geweihs. Hinter der bleichen Knochenmaske glühten zwei feurige Augen.
Dem Gehörnten König folgte eine Schar berittener Kriegsleute. Er stieß einen langgezogenen Schrei aus, den Schrei eines wilden Tieres. Die Reiter nahmen ihn johlend auf. Einer von ihnen, ein häßlich grinsender Krieger, erblickte Taran. Er wandte sein Roß und zückte das Schwert. Taran sprang von der Eiche weg, er tauchte im Dickicht unter. Wie eine Natter zischend, ereilte ihn die Klinge. Er fühlte einen beißenden Schmerz quer über den Rücken.
Blindlings rannte der Junge davon. Schößlinge peitschten ihm das Gesicht. Er stolperte über verborgene Felsbrocken, riß sich an ihren Zacken die Knie wund. Später lichtete sich der Wald. Keuchend hastete Taran ein ausgetrocknetes Flußbett entlang. Dann übermannte ihn die Erschöpfung, er taumelte, streckte hilflos die Hände aus. Alles begann sich im Kreis zu drehen. Als Taran die Augen öffnete, stand die Sonne schon tief im Westen. Er lag auf dem Rasen, jemand hatte einen Mantel über ihn gebreitet, die linke Schulter schmerzte ihn stark. Ein fremder Mann kniete neben ihm, in der Nähe graste ein weißes Roß. Taran richtete sich benommen auf. Hatten die Reiter ihn überwältigt? Der Mann hielt ihm eine Flasche hin.
„Trink!“ sagte er. „Deine Kraft wird sofort zurückkehren.“ Der Fremde hatte das zottige graue Haar eines Wolfes. Seine Augen lagen tief in den Höhlen und schimmerten grünlich. Sonne und Wind hatten sein Antlitz gegerbt, es dunkel gebräunt und mit schmalen Falten durchfurcht. Sein Mantel war grob und abgenutzt von der Reise. Um die Hüften trug er einen weißen Ledergürtel mit kunstvoll geschmiedeter Schnalle.
„Trink!“ sagte der Fremde abermals, während Taran ihn zweifelnd anblickte. „Du schaust drein, als wollte ich dich vergiften.“ Er lächelte. „Das ist nicht die Art, wie Gwydion aus dem Hause Don mit Verwundeten umgeht …“
„Gwydion?“ Taran nahm einen Schluck aus der Flasche und rappelte sich hoch. „Du bist nicht Gwydion!“ rief er. „Man hat mir von ihm erzählt. Fürst Gwydion ist ein großer Feldherr, ein Held! Du aber bist…“ Jetzt erst fiel ihm das lange Schwert am Gürtel des Fremden auf. Eschenblätter von blassem Gold umrankten den Griff, goldener Zierat von Laubwerk und Zweigen bedeckte die Scheide. Wahrhaftig – die Waffe eines Fürsten! Taran fiel auf die Knie und senkte den Kopf. „Ich wollte Euch nicht verletzen, Fürst Gwydion!“ stammelte er verwirrt. Gwydion half ihm beim Aufstehen. Taran starrte noch immer ungläubig auf die einfache Kleidung und das abgezehrte Gesicht mit den tiefen Falten. War dies der stolze, glorreiche Held, von dem ihm Dallben erzählt hatte?
Gwydion verstand seinen enttäuschten Blick. „Nicht der Schmuck macht den Helden“, sagte er freundlich, „noch macht das Schwert den Krieger aus. Komm und verrate mir nun, wie du heißt und was dir geschehen ist. Aber versuch mir nicht einzureden, du habest dir deine Verletzung beim Vogelfang zugezogen oder auf einer Hasenjagd!“
„Ich sah den Gehörnten König!“ stieß Taran hervor. „Er reitet mit seinen Kriegsleuten durch den Wald. Einer von ihnen hat mich zu töten versucht. Ich hab’ den Gehörnten König mit eigenen Augen gesehen – und es war schrecklich. Dallben hat mir nicht zuviel erzählt!“
Gwydion blickte ihn durchdringend an. „Wer bist du, daß du von Dallben sprichst?“ fragte er streng.
„Ich bin Taran von Caer Dallben“, antwortete der Junge, und obwohl er bleich wie ein Semmelpilz war, versuchte er, ein keckes Gesicht zu machen.
„Von Caer Dallben?“ Gwydion stutzte einen Augenblick und musterte Taran befremdet. „Weiß Dallben davon, daß du dich in den Wäldern herumtreibst? Ist Coll in der Nähe?“
Tarans Kinnlade klappte herunter. Er sah aus wie vom Donner gerührt. Gwydion warf den Kopf zurück und brach in schallendes Gelächter aus. „Warum so überrascht?“ meinte er. „Dallben und Coll sind gute Bekannte von mir. Sie sind viel zu vernünftig, als daß sie dich hier allein herumstreunen ließen. Du bist also fortgelaufen, nicht wahr? Ich warne dich, Dallben ist nicht der Mann, der sich das bieten läßt!“
„Es ist wegen Hen Wen“, erwiderte Taran. „Ich hätte wissen müssen, daß ich sie nicht aufhalten kann. Nun ist sie fort, und mich trifft die Schuld daran. Ich bin nämlich der Hilfsschweinehirt…“
„Fort ist sie?“ Gwydions Züge spannten sich. „Was ist mit Hen Wen geschehen? Wo steckt sie?“
„Ich weiß es nicht“, sagte Taran. „Sie muß irgendwo hier im Wald sein.“ Er berichtete von den merkwürdigen Ereignissen dieses Morgens, und Gwydion hörte ihm aufmerksam zu.
„Das konnte ich nicht voraussehen“, murmelte er, als Taran geendet hatte. „Wenn ich das weiße Schwein nicht finde, ist alles verloren.“ Er wandte sich unvermittelt dem Jungen zu. „Ja“, sagte er, „auch ich suche Hen Wen.“
„Ihr?“ rief Taran verwundert aus. „Wie kommt Ihr dazu?“
„Weil ich Auskünfte von ihr brauche, die sie allein besitzt“, sagte Gwydion. „Ihretwegen bin ich seit einem Monat von Caer Dathyl unterwegs. Verfolgt bin ich worden, bespitzelt, gejagt – und nun ist sie weggelaufen! Sehr schön! Aber ich werde sie finden, ich muß alles von ihr erfahren, was sie über den Gehörnten König weiß!“ Gwydion zögerte einen Augenblick. „Übrigens fürchte ich“, fügte er düster hinzu, „daß auch er nach ihr sucht. Hen Wen muß gespürt haben, daß er nach Caer Dallben unterwegs war – und deshalb hat sie das Weite gesucht …“
„Wir müssen ihn aufhalten!“ rief Taran. „Wir werden ihn angreifen und zusammenschlagen! Gebt mir ein Schwert, ich streite an Eurer Seite!“
„Langsam, langsam!“ erwiderte Gwydion. „Ich will nicht behaupten, mein Leben sei mehr wert als das eines anderen Mannes, aber ich schätze es trotzdem hoch. Glaubst du, ein einzelner Krieger und ein Hilfsschweinehirt dürften es wagen, den Gehörnten König mit seinem Gefolge anzugreifen?“
Taran prahlte: „Ich fürchte mich nicht vor ihm!“
„Dann bist du ein Narr“, sagte Gwydion. „Er ist der gefährlichste Mann in ganz Prydain. Soll ich dir etwas zeigen, was ich unterwegs gelernt habe – etwas, worauf sich noch nicht einmal Dallben versteht?“ Gwydion kniete ins Gras nieder. „Kennst du die Kunst des Webens? Faden zu Faden, bis das Gewebe fertig ist…“ Während er sprach, pflückte er ein paar lange Grashalme ab und verknotete sie zu einer Art Netz.
„Wie geschickt Ihr seid!“ Voll Bewunderung blickte Taran auf Gwydions schnelle Finger. „Laßt sehen!“
Gwydion schob das Grasnetz in die Rocktasche. „Auch König Arawn, der Herr von Annuvin, versteht sich aufs Netzeknüpfen“, sagte er. „Du mußt wissen, daß es in aller Welt vornehme Herren gibt, die von der Machtgier getrieben werden, als hetze man sie mit Hunden. Einigen von ihnen verspricht Arawn Reichtümer und Besitz. Er spielt mit ihrer Habsucht wie ein Barde auf seiner Harfe und macht sie sich Untertan. Fortan dienen sie ihm selbst außerhalb von Annuvin, weil sie ihm hörig sind.“
„Auch der Gehörnte König?“
Gwydion nickte. „Auch er hat Arawn die Treue geschworen. Wieder einmal wird Prydain von den finsteren Mächten Annuvins bedroht.“
Taran war sprachlos und staunte.
Gwydion wandte ihm das Gesicht zu. „Wenn die Zeit reif ist, werden der Gehörnte König und ich im Kampf aufeinandertreffen, und einer von uns wird sterben. Darauf habe ich einen Eid geschworen. Doch die Ziele des Gehörnten sind dunkel und unbekannt, deshalb muß ich Hen Wen befragen.“
„Sie kann nicht weit sein!“ rief Taran. „Ich glaube, daß ich die Stelle wiederfinde, wo sie verschwunden ist. Kommt mit! Es war nahe dem Dickicht, aus dem der Gehörnte König hervorbrach…“
Gwydion lächelte streng und fragte ihn: „Hast du Eulenaugen? Wie willst du den Weg finden, wenn es dunkel wird? Laß uns hier schlafen, beim ersten Morgenlicht will ich mich dann auf die Suche machen.“
„Und ich?“ unterbrach ihn Taran. „Hen Wen ist mir anvertraut. Ich habe sie ausreißen lassen, ich muß sie auch wieder einfangen!“
„Die Aufgabe ist wichtig – und nicht, wer sie ausführt“, erwiderte Gwydion. „Oder meinst du, ich ließe mich von einem Hilfsschweinehirten behindern, der offenbar den Hang hat, sich ständig in Schwierigkeiten zu bringen?“ Er hielt inne und musterte Taran mit schiefem Blick. „Und trotzdem! Wenn ich es recht bedenke, so scheint es mir, daß mir nichts anderes übrigbleibt, als dich mitzunehmen. Wenn der Gehörnte König nach Caer Dallben reitet, kann ich dich nicht allein zurückschicken. Aber ich kann es mir auch nicht leisten, mit dir zu gehen und einen ganzen Tag zu verlieren. Du darfst nicht allein in den Wäldern bleiben. Aber vielleicht gibt es einen Ausweg …“
„Ich schwöre, daß ich Euch nicht behindern will!“ rief Taran. „Laßt mich mit Euch gehen! Coll und Dallben sollen sehen, daß ich das schaffe, was ich mir vornehme.“
„Habe ich eine andere Wahl?“ meinte Gwydion. „Es scheint mir, wir müssen dem gleichen Pfad folgen, Taran von Caer Dallben – für eine Weile wenigstens.“
Das weiße Roß kam herbeigetrottet und beschnupperte Gwydions Hand. „Melyngar erinnert mich daran, daß es Zeit zum Essen ist“, sagte der Fürst. Er holte etwas von seinen Vorräten aus den Satteltaschen. „Wir wollen heut nacht kein Feuer anmachen“, schlug er vor. „Möglich, daß die Späher des Gehörnten Königs in der Nähe sind.“
Hastig verschlang Taran sein karges Mahl. Die Wunde war angeschwollen, er konnte sich nur unter Schmerzen auf den Wurzeln und Steinen niederlassen. Bisher war es ihm nie in den Sinn gekommen, ein Held könnte mitunter auch gezwungen sein, auf der nackten Erde zu schlafen.
Gwydion saß mit angezogenen Knien da, den Rücken gegen den Stamm einer mächtigen Ulme gelehnt, und wachte. In der hereinbrechenden Dunkelheit konnte Taran den Mann kaum vom Baum unterscheiden. Es war, als sei Gwydion ganz und gar im Wald versunken. Nur seine grünen Augen schimmerten im Glanz des aufgehenden Mondes.
Lange Zeit saß er still und gedankenverloren da. „Du bist also Taran von Caer Dallben“, sagte er schließlich; seine Stimme klang ruhig und fest aus dem Dunkel herüber. „Wie lange bist du schon bei Dallben, wer sind deine Verwandten?“
Taran zog den Mantel dichter um die Schultern. „Ich habe von klein auf in Caer Dallben gelebt“, sagte er. „Ich glaube nicht, daß ich irgendwelche Verwandte habe. Wer meine Eltern gewesen sind, weiß ich auch nicht, Dallben hat es mir nie gesagt.“ Er kehrte sein Gesicht von Gwydion ab und fügte hinzu: „Manchmal scheint es mir fast, daß ich nicht einmal weiß, wer ich selber bin.“
„Das muß, in gewisser Hinsicht, jeder für sich allein herausfinden“, antwortete Gwydion. „Ein Glück, daß ich dich getroffen habe. Du hast mir den Umweg nach Caer Dallben erspart. Vielleicht ist es mir vom Schicksal bestimmt, daß mir ein Hilfsschweinehirt bei der Erfüllung meiner Aufgabe helfen soll – oder verhält es sich etwa umgekehrt?“
„Wie meint Ihr das?“ fragte Taran. „Ich bin mir nicht sicher“, erwiderte Gwydion. „Außerdem tut es nichts zur Sache. Schlaf jetzt, morgen müssen wir zeitig weiter!“