Taran bekam keine Luft. Einem Bergsturz gleich war die Flut über ihn hereingebrochen. Er wurde im Kreis umhergewirbelt und gleichzeitig immer tiefer hinabgezogen. Im Versinken stieß er mit irgend etwas zusammen. Er wußte nicht, was es war, doch packte er es mit beiden Händen und hielt es fest. Dann gab es mit einemmal einen Schlag, als bräche die Erde auseinander. Schaum spritzte auf, Taran spürte, wie er gegen eine Felswand geschleudert wurde. Die Sinne verließen ihn. Als er die Augen öffnete, lag er auf einer nassen Steinfläche. Mit beiden Händen hielt er Fflewddurs Harfe umklammert. In der Nähe rauschte und brauste Wasser. Vorsichtig tastete er um sich: überall nasses, flaches Gestein. Er schien sich auf einer Art Damm zu befinden. Hoch über ihm schimmerte fahles, bläuliches Licht. Offenbar war er in eine Felsenhöhle geraten, in eine unterirdische Grotte. Er setzte sich auf und berührte dabei aus Versehen die Saiten der Harfe.
„Hallo!“ ließ sich unweit von ihm eine Stimme vernehmen. „Wer ist das?“ Bei aller Benommenheit erkannte Taran sofort, daß es Fflewddur war, der da rief. Er kroch in die Richtung, aus der er den Barden gehört hatte. Unterwegs stieß er mit Eilonwy zusammen, die sogleich zu schimpfen anfing:
„Da hast du was Schönes angerichtet mit deiner Abkürzung, Taran! Viel ist nicht übriggeblieben von mir, und das wenige ist klatschnaß. Wenn ich bloß wüßte, wo meine goldene Kugel ist… Oh, ich glaube, da liegt sie ja! Durch und durch naß ist sie, hoffentlich leuchtet sie überhaupt noch!“
Die Goldkugel leuchtete, wenn auch nur schwach. Eilonwys Haar troff von Nässe, sie blickte den Jungen zornig an. „Was mag wohl aus unseren Freunden geworden sein?“ rief sie. „Wir müssen sie suchen!“
Gurgis struppiger. Schatten kam auf sie zugerollt. „O Jammer und Elend!“ rief er. „Der arme schlotternde Gurgi ist fast gestorben vor Spucken und Wasserschlucken!“
Einen Augenblick später stellte sich auch der Barde bei ihnen ein, Melyngar folgte ihm. „Es war mir, als hätte ich meine Harfe gehört“, sagte Fflewddur. „Wahrhaftig, da ist sie ja! Kaum zu fassen! Ich hatte befürchtet, sie nie mehr wiederzufinden. Aber ein Fflam verzweifelt nicht – und mit Recht, wie man sieht!“
„Ich bin froh, daß wir alle wieder beisammen sind“, sagte der Junge, während er Fflewddur die Harfe reichte. „Wir sind da in eine Art künstliche Höhle geschwemmt worden, wie mir scheint. Seht euch die Steinfliesen auf dem Boden an!“
„Du solltest dir lieber Melyngar ansehen!“ rief das Mädchen dazwischen. „Dann würdest du merken, daß unsere Vorräte weg sind und unsere Waffen auch! Dank deiner glorreichen Abkürzung.“
Eilonwy hatte recht. Die Sattelgurte waren gerissen, das Gepäck hatte sich im Strudel selbständig gemacht. Das einzige, was den Gefährten geblieben war, waren die Schwerter.
„Tut mir leid“, sagte Taran achselzuckend. „Durch meine Schuld sind wir hier hereingeraten – ich will mich darum bemühen, nun auch einen Ausweg zu finden.“ Er hielt Umschau. Der Damm war bedeutend breiter, als er vermutet hatte. Mit einem Schlag glommen in der gewölbten Decke der Höhle verschiedenfarbige Lichter auf. „Seltsam!“ rief Taran. „Was mag das wohl zu bedeuten haben?“ Ehe er weitersprechen konnte, wurde er von hinten gepackt, und jemand stülpte ihm einen stark nach Zwiebeln riechenden Sack über den Kopf. Eilonwy brach in lautes Gezeter aus, doch wenige Augenblicke später bekam ihre Stimme einen merkwürdig dumpfen Klang. Taran wurde von unsichtbaren Fäusten hin und her gestoßen. Gurgi begann fürchterlich zu kläffen.
„Hier! Schnapp dir den!“ rief eine heisere Stimme. „Wie denn?“ rief eine andere. „Siehst du nicht, daß ich alle Hände voll habe?“
Taran trat mit den Füßen um sich. Ein festes, rundes Etwas, mutmaßlich irgend jemandes Kopf, fuhr ihm in den Magen. Dann wurde er unter lautem Geschrei davongezerrt.
„Ihr Narren habt ihnen die Schwerter nicht abgenommen!“ rief jemand mit schriller Stimme. Im nächsten Augenblick hörte man Eilonwy zornig aufkreischen. Es gab ein Geräusch, als ob irgendwer einen Fußtritt verabfolgt bekomme, dann wurde es plötzlich ganz still ringsum. „Nun denn!“ rief die Stimme von vorhin. „Laßt sie die Schwerter behalten, aber man wird euch dafür tadeln, ihr Tröpfe! Seit wann schleppt man Menschen mit ihren Waffen vor König Eiddilegs Thron?“ Taran hatte den Eindruck, als würde er mitten durch eine Volksmenge geführt. Viele Leute redeten aufgeregt durcheinander.
Nachdem man ihn mehrmals wie einen Kreisel herumgedreht hatte, wurde er weitergetrieben. Er hörte, wie eine schwere Tür hinter ihm ins Schloß fiel. Die Stimmen waren verstummt, jemand zog ihm den Zwiebelsack vom Kopf.
Taran blickte sich verwundert um. Zusammen mit Fflewddur und Eilonwy stand er in einer geräumigen Felsenhalle, die von blitzenden Lichtern erhellt war. Von Gurgi fehlte jede Spur. Ein gutes Dutzend stämmiger Krieger, die kaum die Größe von siebenjährigen Kindern hatten, umringte sie. Eiserne Streitäxte steckten in ihren Gürteln, jeder von ihnen trug einen Bogen und einen Köcher mit Pfeilen über der Schulter. Vor ihnen saß an einem langen Steintisch ein zwergenhaft kleiner Mann mit borstigem gelbem Bart. Er trug einen Mantel von grellrotem Tuch und ein grünes Gewand. An seinen Fingern funkelten kostbare Ringe. „Was ist los?“ schrie er. „Wer sind diese Leute? Hat man euch nicht den Befehl gegeben, mich nicht zu stören?!“
„Vergebt, König Eiddileg!“ begann einer der Krieger, wobei er verlegen von einem Fuß auf den anderen trat. „Wir haben die drei gefangengenommen, als sie gerade …“
„Verschont mich mit Einzelheiten!“ unterbrach ihn der König zornig. „Ihr werdet mich noch auf den Hund bringen, raus mich euch! Raus, raus, raus! Nein, die Gefangenen nicht, ihr Schafsköpfe!“ König Eiddileg faßte sich an die Stirn und ließ sich in seinen Thron zurücksinken. Die Wachen trippelten davon. Der König musterte Taran und seine Gefährten mit strengem Blick. „Nun also, heraus mit der Sprache – was wollt ihr von mir, ihr bekommt es doch nicht!“
„Herr“, begann Taran, „wir bitten um freien Durchzug durch Euer Reich. Das ist alles, was Ihr uns vieren gewähren sollt.“
„Euch vieren? Ihr seid ja nur drei!“ rief der König. „Du kannst wohl nicht zählen, wie?“
„Einer meiner Gefährten fehlt leider“, sagte Taran. „Es ist Gurgi. Ihr solltet ihn suchen lassen, damit ihm nichts zustößt. Außerdem sind uns auch die Vorräte und Waffen abhanden gekommen.“
„Ach was!“ rief der König. „Lüg mich nicht an, das vertrag’ ich nicht!“ Er zog ein orangefarbenes Taschentuch aus dem Ärmel und wischte sich die Stirn. „Warum seid ihr also hier?“
„Weil uns ein Hilfsschweinehirt auf dem kürzesten Weg nach Norden geführt hat“, antwortete Eilonwy. „Wir wissen nicht, wo wir sind, und schon gar nicht, warum. Das ist schlimmer, als rollte man in der Finsternis einen Berg hinab.“
„Natürlich!“ Eiddilegs Stimme triefte von Spott. „Ihr habt nicht die blasseste Ahnung davon, daß ihr euch im Innersten des Königreiches von Tylwyth Teg befindet – bei den Unterirdischen, wie ihr uns nennt, bei den Kleinen Leuten, dem Feenvolk. Nein, natürlich nicht! Ihr seid nur ganz zufällig da hereingeraten.“
„Der See hat uns in die Tiefe gezogen“, sagte Taran.
„Gut gemacht, wie?“ antwortete König Eiddileg augenzwinkernd. „Ich habe da selbstverständlich ein wenig nachhelfen lassen.“
„Falls es deine Absicht ist, Fremde von deinem Reich fernzuhalten“, meinte Eilonwy, „dann solltest du dir was Besseres ausdenken.“
„Seid ihr Menschen uns allzu nahe gekommen, dann ist es das klügste, man zieht euch gleich ganz herein“, antwortete der König.
„Ich war immer der Meinung, die Unterirdischen seien über ganz Prydain verteilt“, sagte Fflewddur kopfschüttelnd.
„Oh, das sind sie!“ erwiderte König Eiddileg. „Dies aber ist der Königssitz. Ihr befindet euch hier im Herzen des ganzen Reiches, und ich, der ich auf dem Thron sitze, bin für alles verantwortlich, was bei uns geschieht. Es ist fast zuviel für mich, sage ich euch, fast zuviel! Dieser Ärger den ganzen Tag, diese Arbeit, man kann sich ja heutzutage auf niemanden mehr verlassen. Wenn man sich nicht um jeden Dreck selber kümmert, geht alles schief!“ Mit einemmal wurde die Tür des Thronsaales von draußen aufgestoßen, und eine Menge seltsamen Volkes drängte herein. Taran erkannte bei näherem Hinsehen, daß es nicht lauter Zwerge waren. Er entdeckte auch einige große, schlanke Gestalten in weißen Gewändern darunter; andere waren am ganzen Körper von glitzernden Schuppen bedeckt wie Fische, und wieder andere kamen auf zarten Schmetterlingsflügeln hereingeschwebt. Eine Zeitlang hörte man nichts als ein Durcheinander von vielen Stimmen, Geschrei und Gezänk vor allem. König Eiddileg schimpfte und drohte nach allen Seiten. Schließlich gelang es ihm, den ganzen Haufen wieder hinauszudrängen.
„Da habt ihr es!“ rief er Taran und seinen Gefährten zu. „Man hat nichts wie Ärger und Scherereien den ganzen Tag, wenn man hier unten als König herrscht!“
„Ich beneide dich nicht um dein schweres Amt“, sagte Eilonwy. „Jedenfalls scheinst du ein überaus tüchtiger Mann zu sein – nach allem, was wir gehört und gesehen haben.“
„Ich danke dir, liebes Mädchen“, sagte der Zwergenkönig geschmeichelt. „Wie schön, einmal jemanden vor sich zu haben, mit dem man vernünftig reden kann.“ Und mit einem verächtlichen Blick auf Taran und den Barden fügte er hinzu: „Von diesen großen langbeinigen Lümmeln weiß man ja, daß sie kein Herz für uns kleine Leute haben. Ein Glück, daß wenigstens du uns Verständnis entgegenbringst!“
„Herr“, unterbrach ihn Taran, „Eure Zeit ist kostbar, das wissen wir. Darum wollen wir Euch nicht länger stören und bitten Euch: Gebt uns sicheres Geleit nach Caer Dathyl, dann seid Ihr uns los.“
„Was?“ schrie Eiddileg. „Wie? Euch fortlassen? Unmöglich! Unerhört! Wer einmal bei den Unterirdischen gelandet ist, kommt so bald nicht weg. Ich könnte der jungen Dame zuliebe vielleicht eine Ausnahme machen und euch bloß in einen fünfzigjährigen Schlaf versenken. Oder soll ich euch lieber für alle Zeiten in Fledermäuse verwandeln? Das wäre ausgesprochen entgegenkommend von mir.“
„Die Zeit drängt!“ rief Taran. „Wir dürfen nicht eine Stunde verlieren, begreift das doch!“
„Das ist eure Angelegenheit, nicht meine“, erwiderte Eiddileg achselzuckend.
„Dann müssen wir uns den Weg eben freikämpfen!“ schrie Taran und zog das Schwert. Auch Fflewddurs Klinge flog aus der Scheide.
„Dummes Zeug!“ sagte König Eiddileg spöttisch und schnalzte mit den Fingern. „So, nun versucht einmal zuzuschlagen!“
Taran nahm seine ganze Kraft zusammen. Trotzdem gelang es ihm nicht, den Arm zu bewegen. „Weg mit den Dingern, dann wollen wir alles in Ruhe besprechen“, sagte der Zwergenkönig. „Wenn ihr mir einen vernünftigen Grund nennt, weshalb ich euch laufenlassen soll, dann will ich mir’s überlegen und euch in ein bis zwei Jahren Bescheid geben.“
Taran sah ein, daß es keinen Zweck hatte, dem König der Unterirdischen den Grund ihrer Reise zu verheimlichen, und erläuterte ihm alles, was ihnen zugestoßen war. Als er Arawn erwähnte, zuckte der Zwergenkönig zusammen; doch nachdem Taran geendet hatte, schüttelte Eiddileg bloß den Kopf und murrte: „Das ist eine Sache, mit der ihr großen Tölpel alleine fertig werden müßt, uns Unterirdische geht das nichts an. Ganz Prydain hat einmal uns gehört, bevor ihr dort auftauchtet. Ihr habt uns unter die Erde vertrieben, ihr habt unsere Erzlager ausgeraubt, ihr tolpatschigen Lümmel, und habt es auf unsere Reichtümer abgesehen. Ihr habt uns schon immer bestohlen und werdet uns weiter bestehlen.“
„Herr!“ antwortete Taran. „Ich kann nur für mich allein sprechen; aber ich habe Euch nie beraubt und gedenke auch, es in Zukunft niemals zu tun. Wenn es zwischen euch Unterirdischen und dem Menschenvolk Zwistigkeiten gibt, ist das nicht meine Sache. Wenn aber der Gehörnte König die Söhne des Hauses Don besiegt, wird der Schatten Annuvins über ganz Prydain fallen – und selbst in der tiefsten Tiefe wird König Arawn euch finden, verlaßt Euch darauf!“
„Für einen Hilfsschweinehirten bist du ganz schön beredt“, sagte Eiddileg. „Doch wir Unterirdischen fürchten uns nicht. Was schert uns Arawn? Wir werden uns seiner schon zu erwehren wissen, wenn es soweit ist.“
„Ich hoffe nur, daß es dann nicht zu spät sein wird“, sagte Taran.
„Mein Gefährte hat recht“, rief Eilonwy dazwischen. „Du redest von Dingen, König Eiddileg, die du einfach nicht verstehst. Ich fürchte, du hast keine Ahnung davon, was auf Erden tatsächlich vorgeht! Dazu bist du viel zu eingebildet und eigensüchtig und halsstarrig.“
„Eingebildet?“ schrie Eiddileg. „Eigensüchtig?“ Die Augen quollen ihm fast aus dem Kopf. „Wie kannst du dich unterstehen, so was zu sagen! Du wirst niemanden finden, der selbstloser wäre als ich. Was verlangst du von mir? Du sollst es bekommen, und wenn es mein Herzblut ist!“ Er riß sich den Mantel herunter, streifte die Ringe von den Fingern und warf sie dem Mädchen vor die Füße. „Los, nimm sie dir! Du kannst alles haben, was ich besitze! Sagtet ihr nicht, daß ihr weg wolltet? Geht doch, geht! Je eher ihr euch aus dem Staube macht, desto besser. Und halsstarrig nennst du mich außerdem? Daß ich nicht lache! Ich bin viel zu weichherzig, wie ihr seht, viel zu weichherzig!“
In diesem Augenblick wurde die Tür zum Thronsaal abermals aufgestoßen, und – Gurgi erschien auf der Schwelle. Einige Zwergenkrieger versuchten ihn aufzuhalten, doch er packte sie wie Kaninchen am Wickel und schleuderte sie zur Seite.
„Juhu!“ rief er Taran und seinen Gefährten zu. „Der treue Gurgi ist wieder da! Diesmal ist er nicht ausgerissen, o nein! Der brave, tapfere Gurgi hat wacker um sich geschlagen, mit Püffen und Knüffen, mit Kratzen und Beißen und Steineschmeißen! Doch dann hat man die mächtigen Herren davongeschleppt, und Gurgi, der helle, pfiffige Gurgi, ist losgezogen, um sie zu retten. Jetzt endlich hat er sie wiedergefunden – aber das ist nicht alles! Der treue, ehrliche, furchtlose Gurgi hat noch einen anderen Fund gemacht, o Jubel und Freude!“
Gurgi war so aufgeregt, daß er auf einem Bein zu tanzen begann, sich im Kreis drehte und in die Hände klatschte. „Die mächtigen Krieger suchen ein weißes Schweinchen, nicht wahr? Und wer hat das Schweinchen gefunden? Niemand sonst als der listige Gurgi!“
„Hen Wen?“ rief Taran überrascht. „Wo steckt sie?“
„Hier unten, mächtiger Herr!“ schrie Gurgi. „Hier unten, in einer der Felsenhöhlen!“