3. Gurgi

Als Taran erwachte, hatte Gwydion schon das Roß gesattelt. Der Junge kroch unter dem Mantel hervor, der naß vom Tau war. Von der Nacht auf dem harten Boden schmerzten ihn alle Glieder. Der Fürst drängte zum Aufbruch, zog Taran hinter sich in den Sattel und erteilte Melyngar mit ruhiger Stimme einen Befehl. Das weiße Roß trabte los, in den aufkommenden Nebel hinein. Gwydion suchte nach der Stelle, an der Taran das Zauberschwein zum letztenmal gesichtet hatte. Nach einer Weile zügelte er das Roß und saß ab. Dann kniete er nieder und untersuchte den Rasen. „Das Glück ist mit uns“, sagte er und zeigte auf eine Stelle, an der das Gras niedergetrampelt war. „Hier hat sie geschlafen, es ist noch nicht lange her.“

Im Weitergehen prüfte er sorgfältig jeden abgebrochenen Zweig, jeden Grashalm. Nichts entging seinem scharfen Blick. Er bewegte sich lautlos dahin wie ein magerer grauer Wolf. Nach einem kurzen Wegstück verhielt er abermals, hob den zottigen Kopf, kniff die Augen zusammen und spähte zu einem fernen Bergrücken hinüber. „Die Fährte ist undeutlich“, sagte er. „Dennoch vermute ich, daß Hen Wen diesen Abhang hinuntergelaufen ist.“

„Woher wollt Ihr das wissen?“ fragte Taran.

Gwydion zog sein Jagdmesser aus dem Gürtel. „Sieh her!“ sagte er, kniete nieder und zog ein paar Linien in den Sand. „Dies sind die Adlerberge. Sie liegen in meiner Heimat, im Norden des Landes. Hier fließt der Avren-Fluß. Siehst du, wie er nach Westen abbiegt, bevor er das Meer erreicht? Möglicherweise werden wir ihn überqueren müssen, bevor wir mit unserer Suche zu einem Ende kommen. – Und dies ist der Ystrad-Fluß. Sein Tal führt nach Norden hinauf, in die Richtung von Caer Dathyl.

Aber hier“, fuhr Gwydion fort und deutete auf eine Gegend am linken Ufer des Ystrad, „hier beginnt Arawns Reich mit dem Drachenberg. Dieses Gebiet wird Hen Wen unter allen Umständen meiden, dazu ist sie viel zu lang als Gefangene in Annuvin gewesen.“

„Hen Wen – in Annuvin?“ fragte Taran überrascht.

„Vor langer Zeit“, sagte Gwydion, „lebte Hen Wen bei einem Bauern, der keine Ahnung von ihren geheimnisvollen Kräften hatte. Arawn aber wußte davon und raubte sie. Was für gräßliche Dinge mit ihr geschehen sind, während sie Arawns Gefangene war, davon wollen wir lieber schweigen.“

„Die Arme!“ sagte Taran. „Es muß schrecklich für sie gewesen sein. Und wie ist sie wieder entkommen?“

„Man hat sie befreit“, sagte Gwydion. „Ein einzelner Krieger hat sie herausgeholt, mitten aus Arawns Reich. Noch heute singen die Barden des Nordens davon, sein Name wird nie vergessen sein.“

„Und wer war dieser tapfere Mann?“ wollte Taran wissen. Gwydion blickte ihm in die Augen. „Dallben hat offenbar deine Erziehung vernachlässigt“, sagte er. „Coll war es – Coll, Sohn des Collfrewr.“

„Coll?“ rief Taran. „Doch nicht etwa unser Coll?“

„Doch“, sagte Gwydion.

„Was denn!“ stammelte Taran. „Coll – ein Held? Wo er doch eine Glatze hat!“

Gwydion schüttelte lachend den Kopf. „Du scheinst mir eine sonderbare Vorstellung von Helden zu haben“, sagte er. „Seit wann mißt man den Mut eines Mannes an der Länge seines Haupthaares?“

Taran starrte schweigend auf Gwydions Zeichnung.

„Hier“, setzte Gwydion fort, „nicht weit von Annuvin, liegt Spiral Castle, das Schloß der Königin Achren. Auch diesen Ort wird Hen Wen um jeden Preis meiden. Achren ist nicht minder gefährlich als Arawn selbst. Ihre Bosheit steht ihrer Schönheit um nichts nach – und sie ist über alle Beschreibung schön. Jedenfalls bin ich sicher, daß Hen Wen sich freiwillig weder nach Annuvin noch nach Spiral Castle begeben wird. Aus dem wenigen, was ich der Fährte entnehmen kann, muß sie nach Norden gelaufen sein.“

Sie ritten den Hang hinab. Als sie die Talsohle erreicht hatten, hörte Taran die Wasser des Flusses Avren rauschen und brausen wie einen Gewittersturm.

„Wir müssen absitzen“, sagte Gwydion. „Laß uns langsam und aufmerksam weitergehen. Am besten hältst du dich hinter mir. Wenn du vorausläufst, verdirbst du mir bloß die Spur – falls es eine gibt.“

Taran folgte dem Fürsten gehorsam im Abstand von wenigen Schritten nach. Gwydion bewegte sich lautlos dahin wie der Schatten eines Vogels. Auch Melyngar verursachte kaum ein Geräusch, selten nur knackte ein Zweig unter seinen Hufen. So leise vermochte Taran nicht zu gehen, obgleich er sich große Mühe gab. Je behutsamer er Schritt vor Schritt setzte, desto lauter raschelten die Blätter unter seinen Sohlen. Überall schienen Löcher und tückische Äste darauf zu lauern, ihn straucheln zu machen. Von Zeit zu Zeit wandte Melyngar den Kopf und warf ihm einen vorwurfsvollen Blick zu. Taran wurde von dem Bestreben, möglichst wenig Lärm zu verursachen, so sehr in Anspruch genommen, daß er immer weiter hinter Gwydion zurückblieb. Mit einemmal glaubte er, am gegenüberliegenden Hang etwas Rundes und Weißes wahrnehmen zu können. Ohne Gwydion etwas davon zu sagen, rannte er darauf zu, kletterte durch das Gestrüpp den Hang empor – und fand nichts als ein Felsstück, das ihn genarrt hatte. Enttäuscht hastete Taran wieder zurück, um Gwydion einzuholen. Da hörte er unversehens ein lautes Geräusch über sich im Geäst. Als er anhielt und hochschaute, plumpste hinter ihm etwas Schweres zu Boden. Im nächsten Augenblick schlossen sich zwei dichtbehaarte, sehnige Hände um seinen Hals. Was immer ihn da von hinten gepackt hatte, es gab merkwürdig bellende und knurrende Laute von sich. Mit Müh und Not gelang es dem Jungen, um Hilfe zu rufen. Verzweifelt kämpfte er mit dem für ihn unsichtbaren Gegner. Er drehte und schüttelte sich, er strampelte mit den Beinen und warf sich von einer Seite auf die andere.

Endlich bekam er wieder Luft. Eine dunkle Gestalt segelte über seinen Kopf hinweg, krachte gegen den nächsten Baumstamm. Taran fiel zu Boden und rieb sich den Nacken. Gwydion stand neben ihm. Unweit von ihnen wälzte sich unter den Bäumen ein mehr als seltsames Lebewesen im Moos. Taran konnte nicht mit Bestimmtheit sagen, ob es sich um ein Tier oder um einen Menschen handelte. Offenbar war es ein Mittelding zwischen beiden. Sein Haar war verfilzt und mit Blättern gespickt wie ein Eulennest. Die langen, von dichtem Fell bedeckten Arme und Beine schienen ebenso geschmeidig zu sein, wie sie schmutzig waren. Gwydion betrachtete die Kreatur streng und ärgerlich. „Du bist es also“, sagte er. „Habe ich dir nicht befohlen, mich und alle, die unter meinem Schutz stehen, ungeschoren zu lassen?“

Der Tiermensch brach in ein jämmerliches Gewinsel aus, verdrehte die Augen und schlug mit den Handflächen auf den Boden. „Es ist bloß Gurgi“, sagte Gwydion. „Ständig liegt er irgendwo auf der Lauer, bald da, bald dort. Er ist halb so wild, wie er aussieht, und nicht ein Viertel so grimmig, wie er gern sein möchte. Irgendwie bringt er es immer fertig, die Augen dort zu haben, wo etwas los ist. Er kann uns vielleicht von Nutzen sein.“

Taran war inzwischen wieder zu Atem gekommen. Er sah, daß er über und über von Haaren bedeckt war, die Gurgi verloren hatte. Der Bursche verströmte den unangenehmen Geruch eines feuchten Wolfshundes.

„O mächtiger Fürst!“ wehklagte er. „Gurgi ist ungehorsam gewesen, nun wird es auf sein armes, zartes Haupt Püffe und Knüffe hageln – furchtbare Püffe und Knüffe! Doch welche Ehre, daß Gurgi sie von den Fäusten des glorreichsten aller Kriegshelden empfangen wird.“

„Ich habe keineswegs die Absicht, dein armes, zartes Haupt mit Püffen und Knüffen zu bedenken“, sagte Gwydion. „Doch es könnte sein, daß ich meinen Vorsatz ändere, wenn du nicht augenblicklich mit dem Gewinsel aufhörst.“

„O mächtiger Herr!“ schrie Gurgi. „Seht, wie schnell man Euch gehorcht!“ Auf Händen und Knien kam er herbeigekrochen. „Die beiden gestrengen Herren werden dem braven Gurgi doch etwas zu beißen geben, nicht wahr? O fröhliches Reißen-undBeißen!“

„Später“, sagte Gwydion. „Erst beantworte uns ein paar Fragen!“

„Oh, später!“ schrie Gurgi. „Wie lang wollen die edlen Herren den armen, hungrigen Gurgi denn warten lassen? Reißen-und-Beißen, Herr! Reißenund-Beißen!“

„Wie lang wir dich warten lassen, hängt davon ab, wie schnell du uns sagst, was wir wissen müssen“, erwiderte Gwydion ungerührt. „Hast du heut morgen ein weißes Schwein gesehen?“

Ein listiger Schimmer glomm in Gurgis Augen auf. „Viele große Herren sind auf der Suche nach einem weißen Schweinchen und reiten mit schauerlichem Geschrei durch die Wälder. Sie hätten gewiß ein Herz für den armen, darbenden Gurgi – o ja, sie gewiß!“

„Sie würden dir den Kopf von den Schultern schlagen, bevor du zwei Worte mit ihnen gesprochen hast“, sagte Gwydion. „Einer von ihnen trug eine Maske, nicht wahr? Eine Maske mit einem Hirschgeweih.“

„Ja, ein Geweih“, bestätigte Gurgi, „ein großes Geweih!“ Und ängstlich fügte er hinzu: „Ihr werdet es doch nicht zulassen, daß man dem armen, unglückseligen Gurgi den Kopf abschlägt?“ Er setzte zu einem langgezogenen, schrecklichen Heulen an.

„Langsam verliere ich die Geduld mit dir“, warnte Gwydion. „Wo ist das Schwein?“

„Gurgi hat die furchtbaren Reiter von den Bäumen herab belauscht“, fuhr der Tiermensch fort. „O ja, Gurgi ist leise und vorsichtig. Niemand schert sich um ihn, aber er hat gute Ohren, der schlaue Gurgi! Die fremden Krieger haben erzählt, sie hätten nach Caer Dallben gewollt, aber ein mächtiges Feuer hat sie von dort vertrieben. Nun ärgern sie sich und suchen das weiße Schweinchen im Wald mit Lärmen und Schwärmen.“

„Gurgi!“ wiederholte Gwydion mit fester Stimme. „Wo ist das Schwein?“

„Das weiße Schweinchen? Oh, wie gräßlich der Hunger zwackt! Der bejammernswerte Gurgi kann sich an nichts erinnern. Sein armes, zartes Haupt ist voll Luft, die aus seinem leeren Magen kommt.“

Taran vermochte seine Ungeduld nicht länger zu zügeln. „Wo ist Hen Wen, du dummes, haariges Scheusal?“ platzte er los. „Sag es mir auf der Stelle, sonst kriegst du Hiebe, und zwar auf den Kopf!“

Mit einem Ächzen rollte Gurgi sich auf den Rücken und bedeckte das Gesicht mit beiden Händen.

Gwydion wandte sich streng an Taran und sagte: „Überlaß ihn mir, er ist schon verstört genug!“ Dann blickte er auf Gurgi hinab und fragte: „Nun also – wo ist das Schwein?“

„Oh, nicht zornig sein!“ stöhnte Gurgi. „Ein Schweinchen ist übers Wasser gegangen mit Panschen und Planschen.“ Er richtete sich auf und deutete zum Fluß hinüber.

„Wenn du mich angelogen hast, wird sich das bald herausstellen“, sagte Gwydion, „und dann wird mein Zorn dich treffen.“

„Jetzt aber Reißen-und-Beißen!“ bettelte Gurgi. „Reißen-und-Beißen!“ Und mit einem tückischen Blick auf Taran fügte er hinzu: „Kann Gurgi den Kleineren von euch beiden bekommen?“

„Damit dürfte der Hilfsschweinehirt von Caer Dallben schwerlich einverstanden sein“, meinte Gwydion. Er öffnete die Satteltasche und zog ein paar Streifen Dörr fleisch heraus, die er Gurgi zuwarf. „Fort jetzt mit dir! Und daß du uns keinen Ärger machst!“

Gurgi schnappte sich das Fleisch, schob es zwischen die Zähne, kletterte am Stamm einer Ulme empor und verschwand, sich von Baum zu Baum schwingend, im Geäst.

„Welch ein ekliges Biest“, sagte Taran. „Welch ein garstiges, hinterhältiges, ekliges Biest!“

„Im Grund seines Herzens ist er kein schlechter Kerl“, meinte Gwydion. „Er gebärdet sich zwar mit Vorliebe grimmig und blutrünstig, doch es gelingt ihm nicht recht. Und wie er sich selbst bemitleidet, wo er geht und steht! Ich finde, man kann ihm nicht böse sein.“

„Hat er die Wahrheit über Hen Wen gesagt?“ fragte Taran.

„Ich glaube, ja“, sagte Gwydion. „Alles ist so gekommen, wie ich es befürchtet habe. Der Gehörnte König ist nach Caer Dallben geritten.“

„Und hat es niedergebrannt!“ rief Taran. Bisher hatte er wenig Zeit gehabt, an daheim zu denken. Die Vorstellung, Caer Dallben sei in Schutt und Asche gesunken, war unerträglich. Dalibens Bart fiel ihm ein und der Kahlkopf des heldenmütigen Coll. „Ob Dallben und Coll in Gefahr sind?“ fragte er.

„Sicher nicht“, sagte Gwydion. „Dallben ist ein alter Fuchs. Kein Käfer vermag über seine Schwelle zu krabbeln, ohne daß er es weiß. Gewiß war das Feuer eines von seinen Kunststücken, die er für unliebsame Besucher bereithält. – Wenn jemand sich in Gefahr befindet, dann ist es Hen Wen. Auch der Gehörnte König weiß ja nun, daß sie weggelaufen ist, und verfolgt sie.“

„Dann müssen wir ihm zuvorkommen!“ rief Taran.

„Dies“, sagte Gwydion, „war der erste vernünftige Vorschlag, den du bisher gemacht hast.“

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