Während des Tages glaubte Taran eine Zeitlang allen Ernstes, sie hätten die Kesselkrieger abgeschüttelt; doch am späten Nachmittag tauchten die beiden Verfolger hinter einem entfernten Waldsaum wieder auf. Im Schein der Abendsonne reichten ihre langen Schatten über den Berghang herab bis in die Ebene, wo Taran und seine Gefährten sich mühsam vorwärtsquälten. „Früher oder später müssen wir uns ihnen stellen“, sagte der Junge und wischte sich den Schweiß von der Stirn. „Am besten, wir tun es gleich. Mit ein wenig Glück könnten wir sie so lange aufhalten, bis Eilonwy und Gurgi in Sicherheit sind. Damit wäre schon viel gewonnen.“ Gurgi, der quer über Melyngars Rücken hing, stieß sofort einen lauten Schrei aus. „Nein, nein! Gurgi bleibt bei dem mächtigen Herrn, der ihm das zarte Haupt gerettet hat! Der dankbare Gurgi will kämpfen – mit Hauen und Stechen und Knochenbrechen!“
„Deine Gefühle in Ehren“, meinte Fflewddur. „Aber mit deinem verwundeten Bein wirst du uns wenig nützen können.“
„Auch ich laufe nicht davon!“ sagte Eilonwy. „Soll ich mir wegen der Kesselkrieger etwa die Seele aus dem Leib rennen? Fällt mir gar nicht ein!“ Sie glitt aus dem Sattel und schnappte sich einen Bogen und eine Handvoll Pfeile.
„Eilonwy! Halt!“ rief Taran. „Bist du wahnsinnig? Diese Burschen kann man nicht töten, sie sind unbezwingbar!“ Obgleich das lange Schwert sie behinderte, war Eilonwy schneller als der Junge. Sie rannte auf die Kuppe eines kleinen Hügels und spannte den Bogen. Die Kesselkrieger stürmten über die Ebene heran, ihre blanken Schwerter blitzten in der Sonne.
Taran packte das Mädchen am Gürtel und versuchte es wegzuzerren. Er bekam einen kräftigen Tritt gegen das Schienbein.
„Mußt du dich überall einmischen?“ fauchte Eilonwy. Bevor er sie daran hindern konnte, richtete sie einen der Pfeile gegen die Sonne und murmelte einen Zauberspruch. Dann schoß sie den Pfeil auf die Kesselkrieger ab. Er fuhr zischend durch die Luft und beschrieb einen flachen Bogen. Als er sich niedersenkte, lösten sich aus seinem Schaft lange silbrige Streifen. Im nächsten Augenblick hing eine mächtige, glitzernde Spinnwebe in der Luft, die langsam auf die Reiter zutrieb. Fflewddur, der gleichfalls herbeigeeilt war, schlug die Hände über dem Kopf zusammen. „Großer Belin, was ist das?“ schrie er. „Es sieht aus wie ein Netz von Silber!“ Die Kesselkrieger schenkten der Spinnwebe, die sich langsam auf sie herabsenkte, keine Beachtung. Sie spornten die Pferde an, das silberne Netz zerriß, die Fäden schmolzen dahin wie Rauhreif an der Sonne. Eilonwy war den Tränen nahe. „Zu dumm!“ rief sie. „Bei Achren sind es klebrige, unzerreißbare Stricke gewesen. Wie hat sie das nur gemacht? Ich muß etwas Wichtiges übersehen haben, alles ist schiefgegangen!“ Sie stampfte zornig mit dem Fuß auf und wandte sich ab. „Bring sie hier weg!“ rief Taran dem Barden zu. Das Schwert ziehend, trat er den Kesselkriegern entgegen. Gleich mußten sie über ihn herfallen! Doch da geschah etwas Seltsames: Plötzlich schwankten die Reiter, dann zügelten sie die Pferde, machten auf der Hinterhand kehrt und ritten zurück, woher sie gekommen waren.
„Großartig!“ rief der Barde begeistert. „Großartig, Eilonwy! Siehst du, es hat also doch geklappt!“
Eilonwy schüttelte traurig den Kopf. „Irgendwas hat sie abgehalten“, gestand sie, „aber es war nicht mein Zauberspruch.“ Mißmutig ließ sie den Bogen sinken und las die Pfeile auf, die ihr zu Boden gefallen waren.
„Ich glaube zu wissen, was es gewesen ist“, meinte Taran. „Gwydion hat mir gesagt, daß sie nicht allzulang von Annuvin wegbleiben können. Seit sie von Spiral Castle weggeritten sind, müssen ihre Kräfte ständig nachgelassen haben – und nun waren sie an die äußerste Grenze gelangt.“
„Hoffentlich sind sie so schwach, daß sie es nicht bis nach Hause schaffen!“ rief Eilonwy. „Mögen sie doch in Stücke zerfallen oder wie Fledermäuse zusammenschrumpeln!“
„Ich fürchte, das werden sie nicht tun“, sagte Taran und blickte den Reitern nach, die langsam hinter den Hügeln verschwanden. „Sie scheinen genau zu wissen, wie weit sie sich von Annuvin entfernen dürfen. Nun, Hauptsache, daß wir sie los sind!“ Er warf einen anerkennenden Blick auf Eilonwy und fuhr fort: „Dein Pfeilzauber kann sich sehen lassen! Gwydion hatte ein Netz von Gras, das in Flammen aufging, als er es in die Luft warf; aber dein Silbergespinst war besser.“
Eilonwy schaute ihn verwundert an, ihre Wangen glühten rot wie die untergehende Sonne. „Nanu!“ rief sie. „Das ist das erste freundliche Wort, das ich von dir höre, Taran!“ Dann machte sie plötzlich schmale Augen und schnaubte: „Das Silbernetz hat dir gefallen, ja? Daß ich in Gefahr war, scheinst du kaum bemerkt zu haben.“ Hochmütig schritt sie zurück zu Gurgi und Melyngar.
„Ist ja nicht wahr!“ rief Taran. „Ich … Ich hatte…“ Eilonwy stellte sich taub und lief weiter. Kopfschüttelnd folgte der Junge ihr nach. „Ich werde nicht schlau aus ihr“, gestand er dem Barden.
„Mach dir nichts draus“, tröstete ihn Fflewddur, „ich auch nicht.“
Während der Nacht hielten sie wieder abwechselnd Wache, obwohl sie nun, seit die Kesselkrieger verschwunden waren, weniger Grund zur Besorgnis hatten. Taran sollte Eilonwy als letzter in der Reihe ablösen. Da er vorzeitig aufgewacht war, schlug er ihr vor: „Leg dich schlafen, ich übernehme den Rest.“
„Nicht nötig“, erwiderte Eilonwy. „Was ich selbst tun kann, tu ich selbst.“ Offenbar war sie noch immer nicht gut auf ihn zu sprechen.
Taran nahm Bogen und Pfeile auf, lehnte sich an den Stamm einer Eiche und blickte auf die mondbeschienene Ebene hinaus. Wenige Schritte von ihm entfernt schnarchte Fflewddur aus voller Brust. Gurgi, dessen Bein noch immer dick angeschwollen war, wälzte sich unruhig hin und her und wimmerte leise im Schlaf. „Weißt du, Eilonwy“, begann der Junge zögernd, „dieses Silbernetz…“
„Davon möchte ich nichts mehr hören!“ entgegnete Eilonwy.
Taran ließ sich nicht irremachen. „Glaub mir, ich hatte wirklich Sorge um dich“, beteuerte er. „Dein Pfeilzauber hat mich einfach vergessen lassen, das zu erwähnen. Wie du den Kesselkriegern entgegengetreten bist, das war tapfer von dir, alle Achtung!“
„Du hast ganz schön lang gebraucht, um mir das zu sagen“, erwiderte Eilonwy voller Genugtuung. „Nun, ich stelle mir vor, daß so was bei einem Hilfsschweinehirten langsamer geht als bei anderen Leuten. Offenbar hängt das mit deinem Beruf zusammen.“
„Damit kannst du recht haben“, meinte Taran. „Ich habe mir zuviel zugetraut, und nun sehe ich ein, daß ich nichts ohne fremde Hilfe vermag. Dem Schicksal sei Dank, das mir euch zu Gefährten gab – sonst käme ich nie im Leben nach Caer Dathyl!“
„Ach, da liegt der Hund begraben!“ rief Eilonwy so heftig aus, daß Fflewddur erschrocken aufschnarchte. „Du brauchst uns, damit wir dir weiterhelfen! Irgendwer muß dir die Pfeile und Schwerter schleppen und alles, was sonst zu tragen ist; wer es tut, ist dir gleichgültig. Weißt du was? Wir sind fertig, ich habe dir nichts mehr zu sagen!“ Wütend zog sie den Mantel über den Kopf und stellte sich schlafend.
Taran wußte nicht, was er von ihren Worten halten sollte. „Zu Hause ist nie was geschehen, und nun geschieht alles auf einmal“, dachte er. „Irgendwie hab’ ich den Eindruck, daß ich es niemandem recht machen kann…“ Seufzend machte er den Bogen schußbereit und begann mit der Wache. Allmählich kam schon der Tag herauf.
Am Morgen mußte der Junge feststellen, daß Gurgis Bein über Nacht viel schlimmer geworden war. Er verließ den Lagerplatz, um den Waldrand nach Heilpflanzen abzusuchen. Wie gut, daß Coll ihn auch in der Kräuterkunde unterwiesen hatte! Er machte einen feuchten Umschlag zurecht und wand ihn um Gurgis Bein.
Fflewddur hatte inzwischen begonnen, mit dem Dolch eine neue Landkarte in den Boden zu ritzen. Die Kesselkrieger, so erklärte er den Gefährten, hätten sie weit in das Ystrad-Tal abgedrängt. Wenn sie nun auf den ursprünglichen Pfad zurückkehren wollten, kostete sie das zwei volle Tage. „Da wir schon einmal so weit im Norden sind“, führte er weiter aus, „sollten wir lieber gleich den Ystrad überqueren und den Weg durch die Berge nehmen. Dort sind wir vor dem Gehörnten König sicher; und wenn wir gut ausschreiten, werden wir Caer Dathyl trotzdem früher erreichen als er.“
Taran stimmte dem neuen Plan zu. Melyngar sollte das Mädchen und den fiebernden Gurgi tragen, während Fflewddur und er die Waffen schleppten. Eilonwy vergaß ihren Vorsatz, nie mehr mit Taran zu sprechen, und sie bestand darauf, den Weg zu Fuß fortzusetzen. In einem Tagesmarsch erreichten sie die Uferhöhen des Ystrad. Taran pirschte sich an den Rand des Steilhangs vor und erspähte im Tal eine mächtige Staubwolke, die sich von Süden heranbewegte. Als er den Gefährten davon berichtete, klopfte Fflewddur ihm auf die Schulter und sagte: „Wir sind ihnen zuvorgekommen! Ich hatte schon befürchtet, wir würden die Nacht abwarten müssen, um den Ystrad zu überqueren. Nun haben wir einen halben Tag gewonnen. Schnell jetzt, dann können wir noch vor Sonnenuntergang in den Adlerbergen sein!“ Die Harfe über den Kopf haltend, watete Fflewddur ins Wasser, die anderen folgten ihm. Zum Glück war der Ystrad an dieser Stelle ziemlich seicht, sie durchschritten ihn ohne Schwierigkeiten. Als sie am anderen Ufer ankamen, waren sie dennoch bis auf die Haut durchnäßt, und die untergehende Sonne vermochte sie weder zu trocknen noch zu erwärmen.
Jenseits des Flusses klommen sie einige steile Felsenhänge empor. Vielleicht bildete Taran es sich bloß ein – doch je weiter sie in die Adlerberge vordrangen, desto leichter ließ es sich atmen. Dankbar sog er den trockenen, würzigen Duft der Fichten ein. Ursprünglich hatte er gehofft, sie würden während der ganzen Nacht weiterwandern können, aber Gurgis Zustand verschlechterte sich von Stunde zu Stunde so sehr, daß sie schließlich anhalten mußten. Der Tiermensch sah elend aus, er schüttelte sich im Fieber. Nicht einmal von der Aussicht auf Reißen-und-Beißen ließ er sich ermuntern. Selbst Melyngar zeigte Mitleid mit ihm und leckte ihn zärtlich hinter dem Ohr ab. Taran wagte es, ein kleines Feuer anzumachen. Mit Fflewddurs Hilfe legte er Gurgi daneben ins Moos. Während Eilonwy den Kopf des armen Burschen hielt und ihm einen Schluck aus der Lederflasche einflößte, schlichen Taran und Fflewddur beiseite, um zu beratschlagen.
„Ich hab’ alles getan, was ich kann und weiß“, sagte der Junge sorgenvoll. „Es steht schlimm um Gurgi. Das bißchen, das von ihm übrig ist, kann man fast wegblasen wie ein welkes Blatt.“
„Es ist nicht mehr weit bis Caer Dathyl“, sagte Fflewddur. „Trotzdem fürchte ich, daß unser Freund es nicht lebend erreichen wird.“
In der Dunkelheit jenseits des Feuers begannen Wölfe zu heulen.
Den ganzen nächsten Tag folgten ihnen die Wölfe nach. Von Zeit zu Zeit bellten sie auf, als ob sie sich miteinander verständigten. Sie blieben stets außer Bogenschußweite, Taran erspähte sie hie und da zwischen den Bäumen.
„Solang sie nicht näher herankommen, brauchen wir keine Angst zu haben“, sagte er.
„Angreifen werden sie nicht“, meinte Fflewddur. „Jedenfalls jetzt noch nicht. Wenn sie wissen, daß jemand verwundet ist, können sie eine unheimliche Geduld an den Tag legen.“ Er warf einen besorgten Blick auf Gurgi. „Für die ist das bloß eine Sache des Abwartens.“
„Sollten sie angreifen, werden wir uns zur Wehr setzen“, sagte der Junge ruhig. „Auf keinen Fall dürfen wir jetzt den Mut verlieren – so dicht vor dem Ziel!“
„Ein Fflam verliert nie den Mut!“ rief der Barde. „Her mit euch, ihr verdammten Biester, euch will ich heimleuchten!“
Trotzdem wurde es den Gefährten mit der Zeit unbehaglich, als die grauen Räuber nicht davon abließen, ihnen zu folgen. Selbst Melyngar begann unruhig zu werden. Er schüttelte die goldene Mähne, er blähte die Nüstern, er rollte die Augen.
Zu allem Überfluß stellte Fflewddur fest: „Ich fürchte, wir müssen uns weiter nach Norden halten, wenn wir uns nicht in den Bergen verrennen wollen! Ich hatte mit einem Paß gerechnet – es gibt keinen, wie mir scheint!“
„Die Wölfe sind besser dran“, sagte Eilonwy. „Denen fällt es nicht schwer, ihren Weg zu finden!“
„Mein liebes Mädchen“, entgegnete Fflewddur nicht ohne Entrüstung, „wenn ich in der Lage wäre, auf vier Beinen zu laufen und mein Fressen auf eine Meile Entfernung zu wittern, dann hätte ich bestimmt auch keine Schwierigkeiten mit dem Weg.“
Eilonwy kicherte. „Du auf vier Beinen – das muß man sich vorstellen!“
„Aber wir haben doch jemand, der auf vier Beinen läuft!“ rief Taran, einer plötzlichen Eingebung folgend. „Heißt es nicht, jedes Pferd finde den Weg nach Hause, in seinen Stall? Wenn uns jemand nach Caer Dathyl führen kann, ist es Melyngar.“
Fflewddur Fflam schnalzte mit den Fingern. „Du sagst es!“ pflichtete er dem Jungen bei. „Das ist einen Versuch wert!“
„Für einen Hilfsschweinehirten hast du zuweilen ganz brauchbare Einfälle“, meinte auch Eilonwy. Taran gab Melyngar frei. Mit Gurgi, der quer über seinem Rücken lag, trottete das weiße Roß festen Schrittes davon. Der Junge mit Fflewddur und Eilonwy folgte ihm. Um die Mitte des Nachmittags entdeckte Melyngar einen Paß, den selbst Fflewddur übersehen hätte, wie er offen zugab. Der Schimmel führte sie einen schmalen Pfad entlang, durch Felsenschluchten und über steile Geröllhalden. Den Gefährten blieb nichts anderes übrig, als ihm zu folgen. Als er in eine enge Klamm hineintrabte, verlor Taran ihn für kurze Zeit aus den Augen. Er eilte ihm nach und sah gerade noch, wie er scharf um eine vorspringende Felskante bog.
„Rasch mir nach!“ rief der Junge dem Barden und Eilonwy zu und folgte dem weißen Roß. Plötzlich erstarrte er. Links von ihm kauerte auf einer Felsenstufe ein riesiger grauer Wolf mit bernsteinfarbenen Augen und weit aus dem Rachen hängender Zunge. Ehe Taran das Schwert ziehen konnte, sprang das magere Tier ihn an.