Als Taran zu sich kam, lag er auf einer Schütte schmutzigen Strohs, von der ein Geruch ausging, als ob sämtliche Vorfahren Gurgis darauf geschlafen hätten. Durch ein Gitterfenster, das sich einige Fuß über seinem Kopf befand, fielen die Strahlen der untergehenden Sonne herein. Auf dem mit Steinplatten bedeckten Fußboden zeichnete sich der Schatten des Gitters ab. Statt den Raum zu erhellen, ließen die bleichen Sonnenstrahlen ihn nur noch trostloser und bedrückender erscheinen. Nachdem Tarans Augen sich an das Zwielicht gewöhnt hatten, erkannte er am anderen Ende seines Gefängnisses eine eisenbeschlagene Tür. Die Zelle selbst hatte wenig mehr als drei Schritt im Geviert. Taran schmerzte der Schädel. Da man ihm die Hände auf den Rücken gefesselt hatte, konnte er den schweren, hämmernden Klumpen, den er auf den Schultern trug, nicht anfassen und betasten. Was mit Gwydion geschehen war, wagte er sich nicht auszudenken. Nachdem der Kesselkrieger ihn niedergeschlagen hatte, war Taran bloß einmal für kurze Zeit zur Besinnung gekommen; dann war er wieder in wirbelnde Finsternisse zurückgefallen. Während der kurzen Zeitspanne aber, so erinnerte er sich verschwommen, hatte er die Augen geöffnet und festgestellt, daß einer der Wächter ihn wie einen Sack auf der Schulter trug. Es gab in dem Wirrwarr seiner Erinnerungen auch einen dunklen Gang mit Türen an beiden Seiten. Vermutlich hatte man Gwydion in ein anderes Verlies geworfen. Taran hoffte es jedenfalls. Der Gedanke an Achrens fahles Gesicht und den schrecklichen Zornesausbruch verfolgte ihn. Nicht ausgeschlossen, daß sie befohlen hatte, Gwydion totzuschlagen – oder war ihr daran gelegen, ihn lebend in der Gewalt zu haben?
Der Gedanke an seinen Gefährten erfüllte den Jungen mit Schmerz und Wut. Mühsam richtete er sich auf. Dann warf er sich mit dem bißchen Kraft, das ihm noch verblieben war, gegen die Eichentür. Nichts zu machen! Verzweifelt sank er zu Boden und ließ den Kopf hängen. Kurze Zeit später erhob er sich abermals und klopfte mit den Fußspitzen gegen die Mauer. Vielleicht hörte ihn Gwydion, falls er zufällig in der benachbarten Zelle lag. Aber die Mauern seines Verlieses, das merkte er an dem stumpfen, gedämpften Klang, waren viel zu dick.
Da flog plötzlich ein blitzender Gegenstand durch das Gitterfenster zu Taran herein und fiel auf den Steinboden. Der Junge machte große Augen. Zu seinen Füßen lag eine faustgroße, leuchtende Kugel aus purem Gold. Überrascht schaute Taran zum Fenster empor. Durch das Gitter blickte ihn ein Paar tiefblauer Augen an. „Ach bitte“, sagte eine anmutige Mädchenstimme. „Mein Name ist Eilonwy, und wenn du nichts dagegen hast, könntest du mir die Kugel wieder heraufwerfen, ja? Du brauchst nicht zu glauben, daß ich ein kleines Mädchen sei, weil ich mir die Zeit mit Ballspielen vertreibe: Ich bin keins mehr. Aber für mich gibt es hier mitunter nichts Besseres zu tun, und irgendwie muß man sich ja beschäftigen.“
Taran unterbrach sie und sagte: „Soweit es an mir liegt, würde ich dir gern helfen, Kleine – aber…“
„Ich bin keine Kleine!“ entgegnete Eilonwy. „Wie oft muß ich dir das noch sagen? Du bist offenbar etwas schwer von Begriff. Tut mir leid für dich, es muß schrecklich sein, wenn man dumm ist… Wie heißt du übrigens?“ setzte sie im gleichen Atemzug fort. „Ich habe immer so ein merkwürdiges Gefühl, wenn ich jemandes Namen nicht kenne. Es ist ungefähr so, als ob man zwei linke Hände habe. Du verstehst, was ich damit meine, ja?“
„Ich bin Taran von Caer Dallben“, antwortete der Junge. Doch im nächsten Augenblick stutzte er. Vielleicht war das alles nichts weiter als eine neue Falle.
„Angenehm“, sagte Eilonwy guter Dinge. „Bist du ein großer Heerführer oder ein Kriegsheld, ein Barde, ein Edelmann – oder womöglich ein seltenes Ungeheuer?“
„Ich bin nichts dergleichen“, gestand Taran; und doch fühlte er sich ein wenig geschmeichelt bei dem Gedanken daran, wofür Eilonwy ihn gehalten hatte.
„Was bist du denn dann?“
„Ich?“ sagte Taran. „Ich bin Hilfsschweinehirt.“
Eilonwy war entzückt. „Wie aufregend!“ rief sie. „Von dieser Sorte bist du der erste und einzige, den wir je hatten – es sei denn, der arme Kerl in dem anderen Verlies ist auch einer.“
„Was weißt du von ihm?“ fragte Taran schnell. „Lebt er noch?“
„Keine Ahnung“, erwiderte Eilonwy. „Als ich durchs Gitter zu ihm hineinschaute, hat er sich nicht bewegt – doch was sagt das schon? Wenn er tot wäre, hätte Achren ihn längst an die Raben verfüttert. Nun aber, wenn du nichts dagegen hast – bitte, die Kugel!“
„Ich kann sie nicht aufheben“, sagte Taran. „Du mußt wissen, daß ich gefesselt bin.“
„Oh!“ meinte Eilonwy überrascht. „Dann wird mir vermutlich nichts anderes übrigbleiben, als sie mir selbst zu holen..
„Wie willst du das anstellen?“ fragte der Junge. „Siehst du nicht, daß ich hier eingesperrt bin?“
„Natürlich sehe ich das“, sagte Eilonwy. „Wenn man jemand in ein Verlies steckt, muß man es wohl auch zusperren. Ich gestehe dir offen, Taran von Caer Dallben, daß du mich mit mancher deiner Äußerungen überraschst. Nimm es mir bitte nicht übel, aber erfordert der Beruf eines Hilfsschweinehirten eigentlich viel Verstand?“
Plötzlich brach hinter den Gitterstäben ein Heidenlärm los. Die blauen Augen verschwanden vom Fenster. Taran konnte sich nicht erklären, was draußen vorging. Er hörte ein schrilles, zorniges Kreischen, dem ein länger anhaltendes Heulen folgte, und schließlich das Klatschen von Peitschenhieben.
Die blauen Augen kehrten nicht wieder. Taran ließ sich aufs Stroh zurücksinken. Wieder umfing ihn die Einsamkeit seiner winzigen Zelle, und plötzlich ertappte er sich dabei, daß er den Wunsch hatte, Eilonwy möchte wiederkommen. Sie war die geschwätzigste kleine Person, die ihm je begegnet war, und sicher genauso verrucht und böse wie alle anderen Bewohner von Spiral Castle – auch wenn es ihm schwerfiel, daran zu glauben. Das Gitter zu Tarans Haupt verdunkelte sich. Nacht brach über die Zelle herein, kühle, schwarze Nacht. Knarrend öffnete sich die schwere Eichentür. Taran hörte, wie etwas zu ihm hereingeschoben wurde, und kroch darauf zu. Es war eine flache Schale, er schnupperte mißtrauisch daran herum. Eine vergiftete Speise etwa? Vorsichtig berührte er den Inhalt mit der Zunge. Die Schale enthielt nur ein wenig Wasser, lauwarm und schal. Taran war so durstig, daß er das Gesicht hineintunkte und es gierig aufschlürfte. Dann ringelte er sich zusammen und versuchte einzuschlafen. Die Riemen, mit denen man ihm die Arme gefesselt hatte, schnitten ins Fleisch, die Hände waren dick angeschwollen und taub. Ein Alptraum befiel ihn. Laut schreiend fuhr er daraus empor. Er faßte sich halbwegs wieder und hörte im nächsten Augenblick ein scharrendes Geräusch unter sich im Stroh. Erschrocken taumelte Taran hoch, das Scharren hielt an. „Geh weg!“ ließ sich eine zarte Stimme vernehmen.
Taran blickte verdattert umher. „Geh vom Stein weg!“
Er trat einen Schritt beiseite. Die Stimme kam unter dem Stroh hervor. „Ich kann ihn nicht hochheben, Dummkopf, solange du draufstehst!“
Taran wich an die Wand zurück. Im Schein der leuchtenden Kugel sah er zu seinem Erstaunen, wie sich eine der steinernen Bodenplatten zu heben begann und von einer unsichtbaren Kraft zur Seite geschoben wurde. Aus der Öffnung im Fußboden tauchte ein schlanker Schatten empor. „Wer bist du?“ fragte Taran entgeistert.
„Wen hast du denn erwartet?“ entgegnete Eilonwy sanft. „Mach bitte keinen solchen Lärm! Ich sagte dir doch, daß ich kommen würde. – Oh, und da ist ja auch meine Kugel!“ Eilonwy bückte sich über den leuchtenden Ball, und das Licht in der Zelle erlosch.
„Wo bist du?“ rief Taran. „Ich kann nichts mehr sehen!“
„Wenn’s weiter nichts ist“, meinte Eilonwy und legte die Kugel wieder auf den Fußboden. Augenblicklich wurde die Zelle von goldenem Licht erfüllt. Taran schaute verwundert drein. „Was ist das?“ rief er.
„Das Licht meiner Kugel“, kicherte Eilonwy. „Was denn sonst?“
Zum erstenmal hatte Taran Gelegenheit, Eilonwy zu betrachten, von der er bisher nur die blauen Augen kannte. Sie hatte langes, rötlich-goldenes Haar, das ihr bis auf die Hüften reichte. Ihr Gesicht mit den hohen Backenknochen war lehmverschmiert. Lehmverschmiert war auch ihr kurzes weißes Gewand, das von Silberspangen zusammengehalten wurde. Um den Hals trug sie eine feine Kette mit einem silbernen Amulett, das die Sichel des zunehmenden Mondes darstellte. Sie mochte ein oder zwei Jahre jünger sein als Taran, war aber ebenso groß wie er. Nachdem sie die leuchtende Kugel auf den Boden gelegt hatte, trat sie rasch auf den Jungen zu und löste ihm die Fesseln.
„Eigentlich wollte ich ja schon früher kommen“, meinte sie. „Aber Achren hat mich leider erwischt, als ich mit dir sprach. Sie gab es mir mit der Peitsche, ich biß sie. Zur Strafe hat sie mich dann in eine der unterirdischen Felsenkammern gesperrt, von denen es Hunderte unter Spiral Castle gibt, dazu alle möglichen Gänge, Schächte und Stollen. Nicht Achren hat sie angelegt. Dereinst, so erzählt man sich, habe das Schloß einem großen König gehört, dessen Name in Vergessenheit geraten ist. Achren glaubt, alle Gänge zu kennen; aber sie kennt nicht die Hälfte davon! Kannst du dir vorstellen, daß sie auf allen vieren durch halbverschüttete Stollen kriecht? Sie ist älter, als man vermuten würde, verstehst du.“ Eilonwy kicherte. „Ich aber kenne jeden Gang unter Spiral Castle! Diesmal habe ich bloß etwas länger gebraucht, in der Dunkelheit, weil mir die Kugel gefehlt hat.“
„Ist Achren deine Mutter?“ fragte Taran mißtrauisch. „Aber nein!“ rief das Mädchen. „Ich, Eilonwy, bin die Tochter von Angharad, der Tochter von Regat, die wiederum eine Tochter von – oh, es ist langweilig, die ganze Reihe herunterzubeten. Meine Ahnen gehören dem Volk des Meeres an, Seekönig Llyr ist der Stammvater unseres Hauses. Achren sei, so heißt es, bloß meine Tante; doch manchmal bezweifle ich sogar das.“
„Und was tust du in Spiral Castle?“
„Nach dem Tod meiner Eltern haben mich meine Verwandten hierher geschickt, zu Achren, damit sie mich in der Zauberkunst unterweise. In meiner Familie ist das so üblich, verstehst du: die Jungen werden Heerführer und die Mädchen Zauberinnen.“
„Achren ist mit König Arawn verbündet!“ rief Taran. „Sie ist eine verdammte Hexe!“
„Und ob sie das ist!“ versicherte Eilonwy. „Glaub mir, ich wünschte mir, meine Verwandten hätten mich anderswohin geschickt! Aber ich fürchte, sie haben mich längst vergessen.“
Mit einem Mal bemerkte sie die blutige Schramme an Tarans Arm. „Woher hast du die?“ fragte sie. „Wie man sich nur so aufschlitzen lassen kann! Nun, ich vermute, als Hilfsschweinehirt hat man wenig Gelegenheit, sich im Kampf zu üben.“ Eilonwy riß einen Streifen vom Saum ihres Kleides ab und verband Tarans Wunde damit.
„Ich hab’ mich nicht einfach aufschlitzen lassen“, knurrte der Junge. „Es ist das Verdienst Arawns oder deiner Tante, ich weiß das nicht so genau. Schlimm und heimtückisch sind sie alle beide.“
„Ich hasse Achren!“ schimpfte Eilonwy los. „Sie ist eine widerliche, boshafte alte Schachtel! Von allen Leuten in Spiral Castle bist du der einzige Mensch, mit dem man sich nett unterhalten kann – und ausgerechnet dich hat sie eingelocht!“
„Meinen Freund will sie sogar umbringen lassen“, sagte Taran.
„Dann ist auch dein Kopf in Gefahr!“ rief Eilonwy. „Bei Achren gibt es keine halben Sachen. Es täte mir leid um dich…“
Taran unterbrach sie und meinte: „Mir ist ein Gedanke gekommen, Eilonwy! Kann man durch deine unterirdischen Gänge und Stollen auch zu den anderen Zellen gelangen? Gibt es womöglich sogar einen Weg, der hinaus ins Freie führt?“
„Natürlich“, sagte das Mädchen. „Wenn es einen Weg herein gibt, muß es auch einen hinaus geben – oder?“
„Willst du uns helfen, aus Spiral Castle zu fliehen?“ fragte Taran. „Du könntest meinem Gefährten und mir den Weg zeigen.“
„Ich soll euch zur Flucht verhelfen?“ kicherte Eilonwy. „Achren würde platzen vor Zorn! Aber hat sie es nicht verdient? Sie hat mich geschlagen und einzusperren versucht … Ja, ja“, fuhr sie augenzwinkernd fort, „das ist eine feine Sache! Stell dir bloß ihr Gesicht vor, wenn sie herunterkommt und die Zellen leer sind! Das gibt einen Riesenspaß! Wenn ich mir auszumalen versuche …“
Taran unterbrach sie abermals. „Rasch!“ drängte er. „Führe mich nun zu meinem Gefährten!“
„Das werde ich nicht tun!“ entgegnete Eilonwy. „Es ist besser, wenn ich allein zu ihm gehe, ihn freilasse und ihm vorschlage, draußen auf dich zu warten.“
„Weshalb willst du die Dinge unnötig erschweren?“ wandte der Junge ein.
„Weil das Licht meiner Goldkugel kaum für zwei reicht“, erklärte Eilonwy, „aber gewiß nicht für drei.“
„Nun gut“, stimmte Taran ihr zu, „befreie zuerst meinen Freund, er wird hoffentlich laufen können. Wenn nicht, mußt du auf der Stelle zurückkommen und es mir sagen. Dann müssen wir uns was ausdenken, wie wir ihn wegbringen. – Übrigens ist da noch Melyngar, unser weißes Roß. Kannst du herausfinden, wo es steckt?“
„Vermutlich im Pferdestall“, sagte Eilonwy, „wo denn sonst?“
„Du mußt auch das Roß herbeischaffen“, bat Taran. „Und Waffen brauchen wir außerdem. Ob du uns welche besorgen kannst?“
Eilonwy nickte eifrig. „Ich stelle mir das sehr aufregend vor und sehr lustig!“ Schadenfroh vor sich hinkichernd, hob sie die leuchtende Kugel vom Boden auf und umschloß sie mit beiden Händen. Das Licht in der Zelle erlosch. Geräuschvoll wurde die steinerne Fußbodenplatte an ihren ursprünglichen Platz zurückgeschoben, dann verhallte Eilonwys silberhelles Lachen in der Tiefe des Berges. Taran begann in seinem Verlies auf und ab zu gehen, neue Hoffnung erfüllte ihn. Es war freilich die Frage, wie weit man sich auf das flatterhafte Mädchen verlassen konnte.
Eilonwy schien die besondere Gabe zu haben, alles, was sie sich vornahm, im nächsten Augenblick zu vergessen. Und wenn sie in Achrens Diensten stand – ihn an sie verriet?
„Vielleicht ist dies alles bloß eine neue Falle“, dachte Taran, „eine andere Art von Quälerei: Man verspricht mir die Freiheit, um sie mir wieder wegzunehmen …“ Nun, wie dem auch war, viel schlimmer konnte es nicht mehr kommen.
Um seine Kräfte zu schonen, legte sich Taran aufs Stroh nieder und versuchte, sich zu entspannen. Sein verwundeter Arm schmerzte kaum noch. Seit er die Schale mit Wasser leergeschlürft hatte, war auch der Durst vergangen.
Er hatte keine Ahnung davon, wie lang man wohl brauchte, um durch die unterirdischen Gänge zu wandern. Je weiter die Zeit dahinschwand, desto ungeduldiger wurde er.
Schließlich machte er den Versuch, die Fußbodenplatte, unter der Eilonwy verschwunden war, anzuheben. Vergebens! Die Platte bewegte sich nicht vom Fleck, er riß sich an den Kanten bloß die Finger blutig.