Zuerst machte Taran den Vorschlag, Eilonwy möge reiten; aber das Mädchen wollte nichts davon wissen. „Ich bin ebensogut zu Fuß wie ihr“, erklärte es mit einer Entschiedenheit, die jeden Widerspruch ausschloß. Taran hatte inzwischen gelernt, sich vor Eilonwys scharfer Zunge in acht zu nehmen. So kamen sie überein, daß Melyngar die Waffen tragen sollte, die sie von Spiral Castle mitgenommen hatten – ausgenommen das Schwert Dyrnwyn, von dem Eilonwy sich um keinen Preis trennen wollte.
Fflewddur zeichnete mit der Dolchspitze eine Landkarte in den Sand und zeigte Taran, welchen Weg er einzuschlagen gedachte. „Die Kriegsleute des Gehörnten Königs werden im Tal des Ystrad bleiben. Ein Kriegsheer kommt dort am leichtesten vorwärts. Spiral Castle befand sich hier, westlich des Flusses.“ Er bezeichnete die Lage des Schlosses mit einem zornigen Stich in den Boden. „Der kürzeste Weg für uns führt nach Norden, durch diese Hügel.“
„Ich glaube, den sollten wir nehmen“, sagte Taran und versuchte krampfhaft, aus Fflewddurs krausem Gestrichel schlau zu werden.
„Würde ich nicht empfehlen, mein Freund. Er führt mir zu nah an den Grenzen Annuvins vorbei. Arawn hat seine Stützpunkte ganz in der Nähe von Spiral Castle; besser, wir meiden sie! Was wir tun sollten, scheint mir dies zu sein: Wir folgen den Höhenzügen am westlichen Ufer des Ystrad, ohne das Tal selbst zu berühren. Auf diese Weise weichen wir nicht nur Annuvin aus, sondern auch dem Gehörnten König. Wir vier kommen schneller voran als ein schwerbewaffnetes Kriegsheer, wir werden den Feind hinter uns zurücklassen. Wenn wir dann bis hierher gekommen sind“ – wieder deutete er mit der Spitze des Dolches auf einen bestimmten Punkt seiner Zeichnung –, „machen wir einen Vorstoß nach Caer Dathyl, und die Sache ist ausgestanden.“ Strahlend vor Genugtuung richtete Fflewddur sich auf. „So, da habt ihr es“, sagte er und wischte den Dolch blank. „Ein vorzüglicher Plan, nicht wahr? Ein gelernter Feldherr hätte ihn nicht besser austüfteln können!“
„Ja“, sagte Taran, ziemlich verwirrt von Fflewddurs Gerede. „Das klingt alles sehr einleuchtend.“
Sie stiegen zu einer weiten, sonnenbeschienenen Wiese hinab. Der Morgen war hell und warm geworden, Tautropfen blitzten im Gras. An der Spitze der kleinen Gruppe ging Fflewddur Fflam. Er schritt auf seinen langen, spindeldürren Beinen lebhaft aus. Den schäbigen Mantel trug er zusammengerollt über der Schulter, die Harfe schräg auf dem Rücken. Eilonwy folgte als nächste, das große schwarze Schwert an einem Riemen umgehängt. Ihr rotes Haar wehte im Wind. Gurgi trottete dicht hinter ihr. In seinem Schopf steckten so viele neue Blätter und Zweige, daß er aussah wie ein wandelndes Storchennest. Er schlenkerte mit den Armen und ließ den Kopf unter ständigem Ächzen und Murmeln von einer Seite auf die andere pendeln. Taran, der als letzter in der Reihe ging, führte Melyngar am Zügel. Wäre das Roß nicht mit Waffen beladen gewesen, so hätte man meinen können, vier Wandersieute vor sich zu haben, die sich auf einem Frühlingsausflug befanden. Eilonwy schnatterte fröhlich drauflos. Ab und zu stimmte Fflewddur ein Liedchen an. Einzig Taran fühlte sich beunruhigt. Der helle Morgen erschien ihm trügerisch. Hinter den von der Sonne vergoldeten Bäumen lauerten dunkle Schatten, selbst in der Wärme fröstelte er, auch der Anblick seiner Gefährten bekümmerte ihn. Hing nicht ihr Leben von seinen Entscheidungen ab? Zu Hause in Caer Dallben hatte er davon geträumt, ein Held zu werden. Nun begann er zu merken, daß Träumen leicht war.
Er warf einen letzten Blick zurück auf die Trümmer von Spiral Castle, auf Gwydions Grabhügel. Über dem Bergrücken hoben sich gegen den hellen Himmel deutlich die Umrisse zweier Reiter ab.
„Rasch in den Wald!“ rief Taran seinen Gefährten zu. Melyngar sprengte ins Dickicht, die anderen duckten sich hinter die Sträucher. Die beiden Reiter folgten dem Kamm des Höhenzuges. Sie waren zu weit entfernt, als daß Taran ihre Gesichter hätte erkennen können. Aber aus ihrer steifen Haltung ging deutlich genug hervor, wer sie waren. „Die Kesselkrieger!“ flüsterte er entsetzt.
„O weh!“ stöhnte Fflewddur. „Ob sie uns schon gesehen haben?“
Taran spähte vorsichtig durch die Zweige, deutete auf den Hang hinaus. „Dort habt ihr die Antwort“, sagte er. Die Kesselkrieger hatten die Pferde gewendet und kamen den Hügel herab. „Schnell!“ drängte Taran, „wir müssen weg hier!“
Er kehrte mit seinen Gefährten nicht auf die Wiese zurück; dicht aufgeschlossen eilten sie im Hundetrab quer durch den Wald. Sie wagten nicht anzuhalten, nicht einmal, um zu trinken. Nach einiger Zeit begannen sie müde zu werden vom raschen Lauf. Nur Gurgi zeigte sich weder erschöpft noch verdrossen. Er scherte sich nicht einmal um die Wolke von Mücken und Stechfliegen, die sein struppiges Haupt umschwirrte. Eilonwy hatte anfangs behauptet, ihr mache das Rennen Spaß; nun klammerte sie sich kleinlaut an einem von Melyngars Steigbügeln fest.
Stunde um Stunde verstrich. Niemand wußte zu sagen, wo sich die Kesselkrieger befanden. Daß sie die Spur der Gefährten schwerlich verfehlen würden, stand fest – allein schon des Lärms wegen, den Taran und seine Freunde verursachten. Denn nun bemühten die vier sich nicht länger, leise zu sein. Es war wichtiger, daß sie möglichst schnell vorwärts kamen. Selbst als der Abend hereinbrach, eilten sie ohne Aufenthalt weiter.
Sie rannten blind in die Dunkelheit hinein, der Mond war in schwarzen Wolken ertrunken. Unsichtbare Äste griffen nach ihnen und peitschten ihre Gesichter. Eilonwy stolperte ein paarmal, Taran zog sie wieder hoch. Bald ließ das Mädchen den Kopf hängen. Da schnallte Taran die Waffen von Melyngars Sattel ab und verteilte sie: einen Teil mußte sich Fflewddur aufladen, den anderen Gurgi, der dritte blieb für ihn selbst. Dann hob er Eilonwy, die sich vergebens dagegen sträubte, in den Sattel. Kaum oben, sank sie nach vorn, auf den Hals des Pferdes hinab, und schlief ein.
Die ganze Nacht kämpften sie sich durchs Dickicht. Je näher sie dem Tal des Ystrad kamen, desto dichter wurde der Wald. Bei Tagesgrauen begann selbst Gurgi, vor Müdigkeit zu taumeln. Er vermochte kaum noch einen Fuß vor den anderen zu setzen. Eilonwy war in einen so tiefen Schlaf versunken, daß Taran fürchtete, sie sei krank. Das Haar hing ihr in nassen Strähnen über die Stirn, ihr Gesicht war bleich. Mit Hilfe des Barden hob Taran sie aus dem Sattel und bettete sie ins Moos. Als er jedoch nach dem alten Schwert griff, um es ihr abzunehmen, öffnete sie die Augen, blickte ihn verstört an und entzog ihm die Klinge – mit größerem Nachdruck, als er erwartet hätte.
„Daß man dir alles ein paarmal sagen muß!“ murmelte sie, das Schwert fest an sich gepreßt. „Sind alle Hilfsschweinehirten so schwer von Begriff wie du? Wie oft hab’ ich dir schon gesagt: Laß die Finger von diesem Schwert!“ Gähnend umschlang sie die Waffe mit beiden Armen und schlief wieder ein.
„Wir müssen hier rasten“, sagte Taran zu Fflewddur, „wenn auch nur kurze Zeit.“
„Recht hast du“, seufzte der Barde und streckte sich auf den Rücken, Zehen und Nase steil in die Luft gereckt. „Im Augenblick ist es mir völlig einerlei, wer mich fängt. Ich würde selbst Arawn willkommen heißen, wenn er mir etwas zum Frühstück mitbrächte.“
„Vielleicht haben die Kesselkrieger unsere Fährte während der Nacht verloren“, sagte Taran. „Ich gäbe was drum, wenn ich wüßte, ob sie noch immer hinter uns her sind.“
Gurgi erhob sich, nach ihnen Ausschau zu halten. „Der tüchtige Gurgi wird sich den mächtigen Herren nützlich erweisen!“ rief er. „Mit Spähen und In dieFerne-Sehen!“ Im nächsten Augenblick schwang er sich in das Geäst einer hohen Fichte. Mit Leichtigkeit kletterte er in den Wipfel empor und spähte von dort aus wie eine große dunkle Krähe in die Richtung zurück, aus der sie gekommen waren.
Taran öffnete mittlerweile die Satteltaschen. Die Vorräte waren fast aufgebraucht. Er einigte sich mit Fflewddur darauf, daß Eilonwy alles bekommen sollte, was ihnen verblieben war.
Gurgi hatte selbst auf dem luftigen Ausguck gemerkt, daß es etwas zu essen gab, und kam eilends heruntergerutscht. „Reißen-und-Beißen?“ fragte er, eifrig umherschnüffelnd.
„Im Augenblick gibt es Dinge, die wichtiger sind!“ rief Taran. „Was hast du gesehen?“
„Zwei Reiter kommen von fern durch den Wald – zwei bleiche, schreckliche Reiter mit Augen wie Kieselsteine. Aber noch sind sie weit weg von hier, noch ist es Zeit für ein wenig Reißen-und-Beißen. Oh, ein klein wenig nur, für den tüchtigen, tapferen Gurgi mit den scharfen Augen!“
„Es gibt nichts mehr“, sagte Taran. „Solange die Kesselkrieger hinter uns her sind, solltest du weniger ums Essen besorgt sein als um dein Fell!“
„Der kluge, findige Gurgi wird was zum Beißen auftreiben – o ja, sehr schnell sogar! Er ist schlau und wird etwas finden, womit er die Bäuche der großen, noblen Herren füllen kann. Auch wenn sie dem armen, bescheidenen Gurgi nicht dafür danken werden, wie immer.“
Nach einem kurzen Wortwechsel mit Fflewddur, der nicht minder verhungert dreinschaute als Gurgi, sah Taran ein, daß sie sich ein wenig Zeit nehmen mußten, um nach Beeren und eßbaren Wurzeln zu suchen. „Ganz recht“, sagte der Barde. „Wir wollen essen, was wir bekommen können, solang wir die Kesselkrieger noch nicht auf dem Hals haben. Soll ich dir bei der Suche helfen? Was die Ernährung mit Waldfrüchten anlangt, da bin ich nämlich ein großer Kenner.“ Die Harfe spannte sich, und es sah aus, als werde im nächsten Augenblick eine Saite reißen. „Nein doch!“ rief Fflewddur rasch. „Ich bleibe lieber mit Eilonwy hier. Die Wahrheit ist, daß ich einen Pfifferling nicht von einem Fliegenpilz unterscheiden kann. Schade, daß ich es nie gelernt habe! Als wandernder Sänger hätte man hin und wieder beträchtlichen Nutzen davon …“
Von Gurgi begleitet, zog Taran los. An einem schmalen Bach hielt er an, um Gwydions Wasserflasche zu füllen. Gurgi schnüffelte hungrig umher. Er rannte voraus und verschwand hinter einer Gruppe von Ebereschen. In der Nähe des Baches entdeckte Taran ein paar Pilze. Während er noch dabei war, sie einzusammeln, hörte er Gurgi plötzlich laut aufschreien. Da ließ er die Pilze Pilze sein und lief nachsehen, was geschehen war. Neben sich eine Honigwabe, lag Gurgi wimmernd und sich vor Schmerzen windend unter den Bäumen. Zuerst dachte Taran, er sei von Bienen gestochen worden, dann sah er den wahren Grund: Während Gurgi einen der Bäume erstiegen hatte, um an den Honig zu kommen, war ein morscher Ast unter seinem Gewicht zusammengekracht; und nun lag er am Boden und jammerte. „Der arme Gurgi hat sich das Bein gebrochen! Aus ist es mit dem Stehen und Gehen, dem Springen und Honigbringen, o-weh-oweh! O-o-o-weh-o-weh!“ Taran beugte sich über den winselnden Gurgi und sah nach dem Bein. Es war nicht gebrochen, wohl aber stark gezerrt und schwoll heftig an. „Nun muß Gurgis Kopf herunter“, jammerte der Tiermensch. „Packen, Zwacken und Kopfabhacken – tu’s schnell, edler Herr,“ tu’s schnell! Der arme, todgeweihte Gurgi wird die Augen schließen und stillhalten.“
Taran blickte Gurgi forschend an. Dem armen Burschen war es ernst mit seinen Worten, das merkte er. „Jetzt gleich!“ schrie Gurgi. „Jetzt gleich mußt du’s tun! Der arme, elende Gurgi kann nicht mehr laufen. Er stirbt lieber durch dein Schwert als von den Händen der Kesselkrieger. Uns alle werden sie umbringen, alle, mit schrecklichem Hauen und Stechen und Knochenbrechen! O, o, o, oooooh!“
„Nur ruhig!“ sagte Taran. „Wir lassen dich nicht im Wald zurück, und niemand wird dir den Kopf abschlagen, weder ich noch sonst jemand.“
Taran wußte, daß Gurgi im Grunde genommen recht hatte. Wenn sie ihn mitnahmen, würde er ihnen nur hinderlich sein. Gewiß war ein rascher Tod besser für ihn, als wenn er den Kriegern Arawns in die Hände fiel. Dennoch konnte der Junge sich nicht dazu überwinden, das Schwert zu ziehen. „Du kannst zusammen mit Eilonwy auf Melyngar reiten“, sagte er, hob Gurgi auf die Füße und schlang sich einen seiner behaarten Arme um die Schultern. „Los nun, schön vorsichtig Schritt für Schritt!“ Taran war ziemlich erschöpft, als sie bei Fflewddur und Eilonwy ankamen. Das Mädchen hatte sich in der Zwischenzeit merklich erholt und plauderte schneller als je zuvor. Während Gurgi still im Gras lag, teilte Taran die Honigwabe auf. Die einzelnen Stücke waren erbärmlich klein.
Fflewddur zog Taran beiseite. „Dein struppiger Freund ist auf dem besten Wege, die Dinge noch schwieriger zu machen, als sie ohnehin schon sind“, flüsterte er. „Wie lang, meinst du, wird Melyngar mit zwei Reitern durchhalten?“
„Das ist wahr“, sagte Taran. „Und doch sehe ich keine andere Möglichkeit. Würdest du Gurgi im Stich lassen? Könntest du ihm den Kopf abschlagen?“
„Selbstverständlich!“ rief Fflewddur. „Kriegsglück ist launisch, da gibt es für einen Fflam nichts zu überlegen. „Oh, verdammt noch mal! Hörst du, schon wieder ist eine Saite hin! Noch dazu eine dicke!“
Als Taran zurückging, um die Waffen neu zu verteilen, erlebte er eine Überraschung. Neben seinem Mantel lag auf dem Waldboden ein großes Eichenblatt, und auf dem Blatt lag ein Stückchen Bienenwabe, der Anteil Gurgis.
„Für den edlen, barmherzigen Herrn“, murmelte der Tiermensch. „Gurgi ist satt, er hat heute keinen Hunger.“ Taran blickte ihm ins Gesicht. Es war das erstemal, daß sie einander anlächelten.
„Ich danke dir“, sagte der Junge gerührt. „Aber du wirst deine Kräfte noch brauchen können. Behalte darum deinen Anteil, du hast ihn verdient!“ Damit legte er Gurgi den Arm um die Schulter, und mit einemmal empfand er den Geruch nach feuchtem Wolfshund bei weitem nicht mehr so abstoßend wie zuvor.