Der Alte kramte noch immer in seiner Tasche und brachte schließlich eine unförmige, verrostete Pistole zum Vorschein.

Kaum hatte die Milchfrau das Ungetüm gesehen, als sie auch schon ihre Röcke zusammenraffte, ihre Milchkannen packte und, so schnell ihre alten Beine sie trugen, davonlief.

„Ich komme nachher, Väterchen“, rief sie. „Bemühe dich nicht, mein Lieber!“ Und während sie ihren Lauf beschleunigte und sich ängstlich umblickte, fügte sie hinzu: „Ich habe es nicht so eilig mit dem Geld.“

Sie lief hinaus, warf die Gartenpforte hinter sich zu, blieb aufatmend stehen und schrie wütend von der Straße her: „Ins Irrenhaus muß man dich bringen, du alter Satan. Hinter Schloß und Riegel setzen und nicht wieder herauslassen!“

Der Krüppel zuckte die Achseln, steckte die drei Rubel, die er aus der Tasche gezogen hatte, wieder zurück und ließ die Pistole hinter seinem Rücken verschwinden, denn eben betrat der alte Kavalier, Doktor Kolokoltschikow, den Garten.

Auf seinen Stock gestützt, schritt er aufrecht und würdevoll auf den Alten zu. Sein Gesichtsausdruck war gesammelt und ernst.

Bei dem seltsamen Anblick, den sein Gegenüber bot, hüstelte er, schob seine Brille zurecht und fragte:

„Können Sie mir sagen, mein Lieber, wo ich den Hausherrn finde?“

„Wenn Sie dieses Haus meinen“, antwortete der Alte gedehnt, „so nehmen Sie zur Kenntnis, daß ich darin wohne.“

„Nun“, fuhr der grauhaarige Kavalier fort, indem er den Rand seines Strohhutes grüßend berührte, „dann können Sie mir vielleicht sagen, ob ein gewisser Timur Garajew ein Verwandter von Ihnen ist?“

„Jawohl“, erwiderte der Alte, „dieser gewisse Timur ist mein Neffe.“

„Es tut mir leid“, erklärte der grauhaarige Kavalier und hüstelte von neuem, weil sein Blick auf den in der Erde steckenden Säbel gefallen war, „aber ich muß Ihnen mitteilen, daß Ihr Neffe ein Lausbube ist, der gestern den Versuch gemacht hat, bei mir einzubrechen.“

Nun war der Alte an der Reihe, erstaunt zu sein.

„Mein Neffe Timur hat versucht, bei Ihnen einzubrechen?“

„Jawohl“, erklärte der alte Kavalier, „während ich schlief, hat er versucht, mir die Wolldecke, mit der ich zugedeckt war, vom Bett wegzustehlen.“

„Was denn, Timur soll das versucht haben? Eine Wolldecke wollte er stehlen?“

Der Hausherr schien nun doch etwas unsicher. Die Hand, in der er die Pistole hinter seinem Rücken verbarg, bewegte sich unwillkürlich.

Doktor Kolokoltschikow wurde ebenfalls unruhig.

„Ich würde Sie ja nicht belästigen, aber die Tatsachen, lieber Herr, sprechen für sich…“

Als der Alte einen Schritt auf ihn zumachen wollte, winkte der würdige Kavalier ab und rief:

„Ach bitte, bleiben Sie dort stehen… Ihr Benehmen ist so merkwürdig.“

Doch der Alte ließ sich nicht beirren. Energisch trat er vor und sagte: „Glauben Sie es mir, es kann sich nur um ein Mißverständnis handeln.“

Doktor Kolokoltschikow hatte die Pistole in der Hand seines Widersachers erspäht.

Er heftete den Blick darauf, trat einige Schritte zurück und bemerkte: „Unser Gespräch nimmt eine unerwünschte Wendung. Ich möchte sogar behaupten, daß dieser Verlauf uns beiden in unserem Alter Unehre macht.“

Langsam, Schritt für Schritt zurückgehend, hatte Doktor Kolokoltschikow jetzt die Pforte erreicht, die zum Glück noch offenstand. Mit einem Satz war er draußen. Er entfernte sich rasch und brabbelte im Gehen vor sich hin: „Ein merkwürdiges Benehmen!“ Der Alte war ihm bis zur Pforte nachgekommen, nun sah er, wie der erregte Doktor Kolokoltschikow mit Olga zusammentraf, die zum Baden ging.

Da begann der vermeintliche Krüppel wie närrisch mit den Armen herumzufuchteln, er versuchte Olgas Aufmerksamkeit zu wecken; er schrie ihr zu, sie möge stehenbleiben, und gestikulierte lebhaft dabei. Doch Olga nahm keine Notiz von ihm. Sie wandte sich nicht einmal um, und als der Doktor Kolokoltschikow nach ihrer Hand griff und sie mit sich fortzog, folgte sie ihm bereitwillig.

Als die beiden um die Ecke verschwunden waren, geschah etwas Unerwartetes. Der Alte mit dem Stelzfuß begann mit einem Male ausgelassen herumzuspringen. Er summte ein Liedchen, bückte sich, schnallte den Riemen los, mit dem das Holzbein befestigt war, warf es ins Gras und lief auf zwei gesunden Beinen dem Hause zu, wobei er Bart und Perücke herunterriß.

Etwa zehn Minuten später verließ Ingenieur Georgi Garajew das Haus; er sprang fröhlich die Stufen hinab und lief zum Schuppen, um sein Motorrad herauszuholen, dann rief er noch dem struppigen Hunde zu, er solle das Haus gut beschützen, schwang sich in den Sattel, trat kräftig auf den Anlasser und fuhr rasch in Richtung Fluß davon. Er hoffte dort Olga anzutreffen.

Wie sie es angekündigt hatten, begaben sich Geika und Kolja Kolokoltschikow pünktlich zu der vereinbarten Stelle, um die Antwort auf Timurs Ultimatum entgegenzunehmen.

„Halte dich gerade“, mahnte Geika, „gehe ruhig und sicher, du läufst wie ein Küken, das hinter Würmern herhopst. Ich weiß nicht, was mit dir ist. Du hast eine anständige Hose an, und dein Hemd ist auch sauber, und trotzdem siehst du nach nichts aus. Du brauchst nicht gleich beleidigt zu sein. Das ist eine sachliche Feststellung. Weshalb verrenkst du dir eigentlich beim Gehen die Zunge? Mach doch den Mund zu und laß deine Zunge da, wo sie hingehört.“ Er unterbrach sich und blieb stehen, um Sima Simakow zu erwarten, der auf sie zukam.

„Was willst du denn hier?“ fragte er.

„Timur hat mich euch nachgeschickt. Ich soll den Verbindungsmann machen. Das muß auch so sein. Ihr versteht nur nichts davon.“ Sima tat sehr wichtig. „Ich habe meinen Auftrag, und ihr habt den euren. Laß mich mal in dein Horn blasen, Kolja“, bat er plötzlich, seine neue Würde außer acht lassend. „Spiel dich nur nicht so auf, Geika“, rief er dann mißbilligend. „Wie siehst du überhaupt aus? Hast keine Stiefel an. Was soll das? Gehen Abgesandte barfuß? Na, macht nur, daß ihr weiterkommt. Auf Wiedersehen!“ Und fort war er.

„So ein Blödian“, schimpfte Geika hinter ihm her und schüttelte ärgerlich den Kopf, „schwätzt und schwätzt und findet kein Ende. Paß auf, Kolja. Da ist schon der Zaun. Du mußt in dein Horn blasen.“

Sobald sie einen von der Bande erspäht hatten, rief Geika ihm zu: „Wo bleibt Kwakin? Her mit ihm!“

„Wir erwarten euch“, rief Kwakin, der hinter dem Zaun stand, mit gemacht freundlicher Stimme. „Da rechts durchs Tor geht es; wir haben es schon aufgemacht.“

„Geh nicht“, warnte Kolja und zupfte Geika am Ärmel, „sie werden uns überfallen und gehörig durchbleuen.“

Aber Geika stellte sich taub.

„Blase, Kolja“, befahl er. „Sie müssen uns freies Geleit geben. Das ist so der Brauch.“

Und stolz erhobenen Hauptes schritt Geika seinem Kameraden voran durch die verrostete Gitterpforte. Sie wurden von der vollzähligen Bande – an der Spitze Kwakin und die Latte – erwartet.

„Wir wollen eine Antwort auf unseren Brief“, erklärte Geika in herausforderndem Ton.

Doch Kwakin schlug scheinheilig vor: „Setzt euch und laßt uns miteinander reden.''

Aber Geika war auf der Hut.

„Erst die Antwort auf unseren Brief. Reden können wir nachher.“

Die Mitglieder der Kwakin-Bande beobachteten Geika voller Neugier.

Was wollte der stämmige Junge im Matrosenhemd? War das Spaß? War es ein Spiel? Und der kleine blaß gewordene, verängstigte Trompeter neben ihm? Oder meinte es dieser barfüßige Bengel mit den zusammengekniffenen Lippen und den streng blickenden grauen Augen vielleicht ernst? War er von seinem Recht überzeugt, und pochte er auf seine Kraft?

„Hier hast du unsere Antwort.“

Kwakin reichte Timurs Abgesandten einen zusammengefalteten Bogen.

Geika nahm ihn und faltete ihn auseinander. Eine Zeichnung war darauf – ein grob gezeichneter Kopf, eine Hand, die eine lange Nase machte, darunter stand ein sehr häßliches Schimpfwort.

Gelassen und ohne ein Wort der Erwiderung zerriß Geika das Blatt in kleine Fetzen.

Er war noch nicht zu Ende damit, als sich sämtliche Jungen auf ihn und Kolja stürzten. Beide wurden zu Boden geworfen und umklammert. Sich zu wehren hatte keinen Sinn.

Wütend schrie Kwakin: „Die Fresse zerschlagen sollte man euch für euer unverschämtes Ultimatum. Wir haben aber Mitleid mit euch. Bis heute nacht werdet ihr hier eingesperrt.“ Er wies auf die Kapelle.

„Inzwischen werden wir den Garten von Nummer vierundzwanzig restlos ausplündern. Verstanden?“

„Das werdet ihr nicht tun“, antwortete Geika ohne eine Spur von Erregung.

Doch die Latte geriet in Wut.

„Wir werden es tun“, schrie er und versetzte Geika, der sich nicht wehren konnte, eine schallende Ohrfeige.

Geika blieb noch immer gelassen. Er blinzelte nur ein wenig mit den Augen und biß die Zähne aufeinander, um den Schmerz zu verbeißen. Dann blickte er Kolja an, der in seiner unverhohlenen Angst ein Bild des Jammers bot. „Sorge dich nicht“, tröstete er, „ich bin sicher, daß bei uns drüben sehr bald Alarmstufe eins gegeben wird.“

„Es ist genug geschwätzt worden“, erklärte jetzt Kwakin. „Fort mit den beiden.“

Die Gefangenen wurden in die Kapelle gestoßen. Die eisernen Fensterläden waren fest geschlossen. Die Tür wurde unsanft zugeknallt und ein Riegel vorgeschoben, der aus Vorsicht noch mit Holzkeilen gesichert wurde. Ein Entrinnen gab es nicht.

Zum Überfluß trat die Latte noch dicht an die Fensterläden heran und schrie spöttisch hinein: „Na, nach wem geht es jetzt? Nach euch oder nach uns?“

Von drinnen wurde zurückgerufen: „Abwarten, es ist noch nicht aller Tage Abend.“

Verächtlich spuckte die Latte aus. Nur Aljoscha hatte einige Bedenken. „Geikas Bruder ist Matrose“, brummte er, „er dient mit meinem Onkel zusammen auf dem gleichen Schiff.“

„Na und?“ fragte die Latte drohend. „Was geht denn dich das an? Bist du vielleicht der Kapitän?“

Doch so leicht gab sich der kahlköpfige Aljoscha nicht zufrieden.

„Seine Hände sind gebunden, und du schlägst ihn. Findest du das richtig?“

Die Latte, die wohl Gewissensbisse haben mochte, wurde wütend.

„Soll ich dir eine runterhauen?“ Und schon bekam Aljoscha eine tüchtige Ohrfeige. Im Nu lagen beide an der Erde, schlugen aufeinander los und kullerten über den Rasen. Sie mußten gewaltsam getrennt werden.

Durch diesen aufregenden Zwischenfall hatte keiner der Anwesenden bemerkt, daß jenseits des Zaunes, hoch oben, in einer dichtbelaubten Linde Sima Simakows Kopf aufgetaucht war.

Er hatte genug gesehen. Rasch und geräuschlos glitt er von dem Baum herab. Auf direktem Wege, über Hecken und Zäune hinweg und durch fremde Gärten stürmte er zu Timur und seinem Trupp, die ihn am Flußufer erwarteten.

Olga hatte sich am Ufer im heißen Sand ausgestreckt und las. Die Stirn schützte ein zusammengefaltetes feuchtes Tuch.

Shenja war noch im Wasser. Sie war weit hinausgeschwommen und genoß das Vergnügen, sich im Wasser zu tummeln.

Plötzlich tauchte neben ihr eine zweite Schwimmerin auf, ein junges Mädchen mit dunklen Augen in einem frischen, offenen Gesicht. Es schwamm dicht an Shenja heran: „Ich komme von Timur“, flüsterte es. „Ich heiße Tanja und gehöre zu seinem Trupp. Timur macht sich Vorwürfe, weil deine Schwester dich seinetwegen ausgezankt hat. Ist deine Schwester noch immer böse?“

Shenja mußte sich erst von ihrer Überraschung erholen. Auf was für Einfälle dieser ungewöhnliche Timur doch kam. „Ach“, entgegnete sie ebenfalls im Flüsterton, „er braucht sich keine Vorwürfe zu machen. Olga ist auch gar nicht mehr böse. Sie wird nur so leicht heftig. Das wird alles besser, wenn Papa kommt…“

Die Mädchen schwammen eine Weile einträchtig nebeneinander her, dann beschlossen sie, aus dem Wasser zu steigen, und kletterten die Uferböschung links von der Stelle, an der Olga im Sande lag, hoch. Hier trafen sie auf Njurka.

„Mädchen, kennst du mich noch?“ fragte sie, zu Shenja gewandt. Wie immer, redete sie sehr schnell und stieß die Worte zwischen den zusammengepreßten Lippen vor. „Ich habe dich gleich wiedererkannt. Da drüben ist Timur mit der ganzen Bande.“ Sie wies auf das gegenüberliegende Ufer, an dem es von größeren Jungen wimmelte. Rasch streifte Njurka ihren Kittel ab, dabei flüsterte sie: „Ich weiß jetzt, wer unsere Ziege wieder eingefangen hat, ich weiß auch, wer unser Holz aufgestapelt und meinem Brüderchen Walderdbeeren geschenkt hat.“ Zu Tanja gewandt, fuhr sie fort: „Und dich kenne ich auch. Ich habe dich einmal im Garten sitzen und weinen sehen. Du mußt nicht weinen, das hat doch keinen Zweck…“

Plötzlich unterbrach sie sich und schrie die an einem Baum festgebundene Ziege an: „Willst du wohl liegen bleiben, du Satan. Wenn du dich rührst, schmeiß ich dich ins Wasser. Kommt ihr mit schwimmen?“ fragte sie die Mädchen.

Shenja und Tanja wechselten einen Blick. Sie war zu drollig, diese kleine braungebrannte Njurka; wie eine Zigeunerin sah sie aus. Dann faßten die drei Mädchen einander an den Händen, sie traten dicht an das Ufer. Zu ihren Füßen glitt das klare blaue Wasser rasch dahin.


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