Shenja hatte keine Zeit mehr gefunden, das Telegramm an den Vater von der Post im Moskauer Bahnhof abzusenden. Daher beschloß sie, als sie, in der Siedlung angelangt, aus dem Vorortzug stieg, erst einmal das Postamt zu suchen, ehe sie zu Olga in die Datsche ging.
Sie kam an dem alten Park vorbei und konnte hier der Versuchung nicht widerstehen, einen Strauß Glockenblumen zu pflücken. Als sie dann zwischen den Gärten zu einer Straßenkreuzung kam, merkte sie, daß sie an einer ganz anderen Stelle als beabsichtigt aus dem Park herausgekommen war.
Das erste, was sie jetzt erblickte, war ein kleines Mädchen, das flink und geschickt eine störrische Ziege bei den Hornern gepackt hatte und sie fortzuzerren versuchte.
Shenja lief auf sie zu und bat: „Ach, Kleine, sag mir doch, wie ich von hier zum Postamt komme.“
In diesem Augenblick riß sich die Ziege los, stieß mit den Hornern nach der Kleinen und rannte in großen Sprüngen durch den Park davon; das Kind lief schreiend hinterher. Shenja sah sich etwas ratlos um.
Es dämmerte bereits. Weit und breit war kein Mensch zu sehen. Kurz entschlossen öffnete sie die Gartenpforte zu einem Pfad, der zu einem zweistöckigen Landhause führte, und ging auf das Haus zu.
Sie klopfte, und als alles still blieb, fragte sie mit lauter, sehr höflicher Stimme: „Ach, entschuldigen Sie, wie komme ich von hier zum Postamt?“ Die Tür zu öffnen, wagte sie nicht.
Es erfolgte keine Antwort. Eine Weile blieb Shenja stehen und überlegte. Dann griff sie doch kurz entschlossen nach der Klinke und öffnete die Haustür. Sie kam durch einen dunklen Gang. Die Tür zu einem der Zimmer war nur angelehnt. Shenja blickte hinein. Es war leer. Zögernd ging sie bis zur Mitte des Zimmers. Die Hausbewohner schienen ausgegangen zu sein.
Unentschlossen und schuldbewußt, weil sie ein fremdes Haus so mir nichts, dir nichts betreten hatte, wandte Shenja sich um und wollte wieder hinausgehen. Doch da kam unter dem Tisch ein großer struppiger Hund hervorgekrochen. Er beäugte das verdutzte Mädchen aufmerksam und legte sich dann mit leisem Knurren quer vor die Zimmertür.
„Du bist wohl dumm“, rief Shenja erschrocken, wobei sie die Hände abwehrend ausstreckte. „Ich bin kein Dieb. Ich habe nichts gestohlen. Da, da ist unser Wohnungsschlüssel. Da, da ist das Telegramm an Papa. Mein Papa ist Offizier, hast du mich verstanden, du dummer Köter?“
Doch der Hund rührte sich nicht von der Stelle. Er knurrte auch nicht mehr. Shenja näherte sich behutsam, auf Fußspitzen dem offenstehenden Fenster, dabei redete sie dem Hunde ununterbrochen weiter zu: „Na, siehst du, bleibst schön liegen … bleibe ganz ruhig liegen bist ein gutes Hundchen siehst so klug und gutmütig aus.“
Aber kaum hatte Shenja die Fensterbank erreicht und wollte sich gerade hinaufschwingen, als der „gutmütige“ Hund auch schon mit drohendem Knurren aufgesprungen war. Shenja erschrak sehr und war mit einem Satz auf dem Sofa, wo sie mit angezogenen Knien hockenblieb.
„Wie komisch du bist, dummer Hund!“ Jetzt weinte sie beinahe. „Halte doch Räuber oder Spione fest, aber nicht so harmlose Leute wie mich. Hörst du!“
Voller Empörung streckte sie dem Hunde die Zunge heraus. „So ein dummes Vieh!“
Von den wachsamen Blicken des Hundes verfolgt, der sie nicht aus den Augen ließ, legte Shenja das Telegrammformular und die Schlüssel behutsam auf den äußersten Rand des Tisches und überlegte dann, was zu tun sei. Es blieb ihr nichts anderes übrig als abzuwarten, bis die Hausbewohner heimkehrten.
Doch es verging eine Stunde und noch eine zweite, und niemand kam … Es war jetzt ganz finster. Durch das offene Fenster hörte Shenja in der Ferne Lokomotiven pfeifen; Hunde bellten, und irgendwo spielte jemand auf einer Gitarre. Nur hier im Hause blieb es ganz still, wie ausgestorben.
Shenja hatte den Kopf auf die harte Sofalehne gelegt und weinte leise vor sich hin. Schließlich wurde sie müde; es dauerte nicht lange, und sie war fest eingeschlafen.
Draußen rauschte es in dem üppigen, vom Regen blank gewaschenen Laub. Irgendwo in der Nähe knarrte ein Brunnenrad. Jemand zersägte Holz. Doch hier im Zimmer war es immer noch ganz still. Nichts regte sich.
Als Shenja erwachte, war es heller Tag.
Sie richtete sich auf und rieb sich erstaunt die Augen. Langsam kamen ihr die Ereignisse des gestrigen Abends wieder in den Sinn. Unter ihrem Kopfe lag jetzt ein weiches Lederkissen, und eine Decke war über ihre Beine gebreitet worden.
Der Hund war nirgends zu entdecken.
Also mußte in der Nacht jemand dagewesen sein. Shenja sprang auf, schüttelte ihr Haar zurück, zupfte den zerknitterten Sarafan zurecht, nahm den Schlüssel und das immer noch nicht aufgegebene Telegramm vom Tisch und wollte hinausgehen.
Da erst entdeckte sie auf dem Tisch einen großen Bogen Papier, auf dem mit Blaustift geschrieben stand:
„Mädchen, wenn du fortgehst, so schlage die Tür fest hinter dir zu.“ Unterschrieben war der Zettel mit „Timur“.
Timur? Wer war Timur? Wer konnte das nur sein? Wenn man diesem Timur doch nur danken könnte!
Sie spähte ins Nebenzimmer. Da stand ein Schreibtisch mit einer Schreibgarnitur, einem Aschenbecher und einem Spiegel. Rechts auf dem Tisch lag, neben einem Paar Autohandschuhen, eine halb verrostete Pistole. An dem zerkratzten, schiefstehenden Tischbein lehnte ein krummer Türkensäbel.
Shenja legte Schlüssel und Telegramm beiseite. Sie konnte der Versuchung, den Säbel in die Hand zu nehmen und ihn genauer zu betrachten und zu betasten, nicht widerstehen; sie zog ihn aus der Scheide und schwang die Klinge kühn über ihrem Kopfe, dabei betrachtete sie wohlgefällig ihr Spiegelbild.
Es war ein bedrohlicher Anblick. So müßte sie sich fotografieren lassen und das Bild dann in der Schule herumzeigen. Den Schulkameradinnen könnte sie ja vorflunkern, ihr Vater hätte sie mit an die Front genommen. Da fiel ihr Blick auf die Pistole. Die gehörte in die linke Hand. So! Das war noch besser. Während sie befriedigt in den Spiegel blickte, runzelte sie die Brauen, preßte die Lippen fest aufeinander und sah unternehmend und kriegerisch aus. Lebhaft stellte sie sich einen Gegner vor. Ihre Phantasie spielte ihr wieder einmal einen Streich. Sie zielte in das Spiegelbild hinein, auf den vermeintlichen Gegner, und drückte kurz entschlossen auf den Abzug.
Ein ohrenbetäubendes Krachen erfüllte den Raum. Alles war sofort in Rauch gehüllt, die Spiegelscherben fielen klirrend in den Aschenbecher, der dabei zu Schaden kam, und die zu Tode erschrockene, von dem Lärm halb betäubte Shenja ließ Schlüssel und Telegramm im Stich und floh, so rasch sie nur konnte, aus dem Zimmer und hinaus aus diesem Hause, das seltsame, geheimnisvolle Gefahren in sich barg.
Auf irgendeine Weise gelangte sie bis zum Ufer des Flüßchens. Hier erst vermißte sie die Schlüssel zu der Moskauer Wohnung und das Telegrammformular. Was würde Olga sagen? Es blieb nichts anderes übrig, als ihr die Wahrheit zu gestehen … Sie mußte Olga beichten, daß sie ein fremdes Haus betreten hatte, mußte ihr von dem Hund erzählen, von ihrem Übernachten dort, von dem Türkensäbel und schließlich auch von dem Schuß in den Spiegel. Das war schlimm! Wäre doch Papa nur dagewesen! Der hätte vielleicht Verständnis gehabt! Aber Olga? Olga würde sie bestimmt nicht verstehen. Olga würde sicher sehr böse werden.
Vielleicht fing sie gar an zu weinen. Bei diesem Gedanken wurde Shenja recht kleinlaut. Das Weinen hätte sie jetzt auch allein besorgen können, so nahe saßen ihr die Tränen. Shenja war im Grunde ein weichherziges kleines Ding, und immer, wenn Olga ihretwegen zu weinen anfing, hätte sie sich am liebsten gleich in den entferntesten Winkel verkrochen.