„Na, ich bin doch auch deine Schwester.“

„Das schon, aber ich bin die ältere … und Papa hat es so angeordnet.“

Das Auto war vorgefahren, das Gepäck verladen. Als der Motor endlich zu fauchen begann, atmete Shenja erleichtert auf.

Nachdem Olga glücklich fort war, blickte sie sich etwas ratlos um. Wüstes Durcheinander umgab sie. Zuerst trat sie aber doch noch vor den Spiegel. Von der gegenüberliegenden Wand lächelte im Spiegel das Bild des Vaters sie an.

Shenja sah immer noch etwas mißmutig drein. Was mußte Olga sie so herumkommandieren? Gewiß, sie war die Ältere, und vorläufig mußte Shenja ihr wohl oder übel noch gehorchen. Doch in ihrem Spiegelbild stellte sie befriedigt fest, daß ihre kecke Nase, ihre aufgeworfenen Lippen und die dichten Augenbrauen denen des Vaters glichen. Mit ihrem Charakter würde es gewiß nicht anders sein.

Energisch knotete Shenja jetzt das Kopftuch fester; dann zog sie die Schuhe aus und schleuderte sie beiseite. Suchend blickte sie sich um. Was mußte zuerst geschehen? Sie riß die Tischdecke vom Tisch. Dann ging sie in die Küche, stellte den Eimer unter den Wasserhahn und zündete den Petroleumkocher an. Bald begann das Wasser zu zischen. Shenja nahm den Besen und fegte den Unrat auf dem Fußboden zusammen und zur Türschwelle. Sie holte den Wassereimer und die Wischlappen, und bald bespülten Wasserfluten den Fußboden. In einer Wanne hatte sie Seifenwasser bereitet. Der Schaum knisterte, und Shenja kletterte unternehmungslustig auf das Fensterbrett. Ein wenig verwundert blickten die Vorübergehenden herauf und sahen das barfüßige kleine Mädchen im roten Sarafan, wie es fröhlich singend auf dem Fenstersims des dritten Stockwerks stand und offenbar furchtlos und schwindelfrei die Scheiben der weitgeöffneten Fenster putzte.

Indessen sauste das Lastauto, das Olga nach der Datsche bringen sollte, die breite sonnenbeschienene Landstraße entlang. Olga hatte es sich in einem Korbsessel bequem gemacht. Sie hatte die Füße auf einen Koffer gestellt und sich ein weiches Bündel in den Rücken geschoben. Auf ihrem Schoß lag ein rotbraunes Kätzchen; es schnurrte und zerpflückte spielerisch mit seinen Pfoten einen Kornblumenstrauß. Etwa beim dreißigsten Kilometerstein wurde der Lastwagen von einer motorisierten Kolonne der Roten Armee überholt. Die Rotarmisten saßen in Reihen auf den Holzbänken, die Gewehre mit den himmelwärts gerichteten Läufen zwischen den Knien. Sie sangen.

Wie schön das klang! Im Dorf wurden Türen und Fenster weit aufgerissen. Kinder sprangen aus den Hauseingängen und hinter Zäunen hervor. Sie winkten und warfen den Rotarmisten Äpfel zu. Daß sie noch nicht ganz reif waren, störte ihren Eifer nicht. Sie begleiteten die Wagen, die sich in einer Staubwolke rasch entfernten, mit begeistertem Hurrageschrei. Kaum waren die Truppen vorüber, da entbrannte schon eine Schlacht; die Kinder machten blitzartige Kavallerieangriffe und schlugen sich unbekümmert durch Brennesseln und Wermutstauden.

Es dauerte nicht lange, da bog das Lastauto mit Olga und ihrem Kätzchen in den kleinen Kurort ein und hielt vor einem efeubewachsenen Landhäuschen an.

Der Fahrer und sein Gehilfe klappten die Seitenwände herunter, halfen Olga beim Absteigen und begannen das Gepäck abzuladen. Olga hatte indessen die Tür zur Glasveranda geöffnet.

Von hier aus konnte man den großen, stark verwilderten Garten übersehen. An seinem Ende ragte ein einfacher zweistöckiger Schuppen empor. Auf dem Dach dieses Schuppens erblickte Olga eine kleine rote Fahne.

Sie ging zum Auto zurück, um den Fahrer zu entlohnen. Während sie noch mit ihm sprach, kam eine ältere Frau in den Garten. Es war die Milchhändlerin aus dem Nachbarhaus.

Sie begrüßte Olga und erbot sich sogleich, das Haus sauber zu machen, die Fenster zu putzen, die Fußböden zu reinigen und die Wände abzuseifen. Als Olga ihr erfreut zustimmte, lief sie rasch davon, um Eimer, Schüsseln und Lappen herbeizuholen. Olga hatte das Kätzchen auf den Arm genommen und war mit ihm in den Garten gegangen.

Es war glühend heiß. Das Harz an den Bäumen glitzerte in der Sonne. Spatzen hatten die überreifen Kirschen angepickt. Es duftete stark nach Kamille und Wermut. An den Sträuchern glänzten noch die roten Trauben der Johannisbeeren. Olga schlenderte die Wege entlang; als sie zu dem Schuppen kam, sah sie etwas verwundert, daß sich merkwürdige Fäden und Drähte von dem schadhaften Dach nach oben zogen und sich im Laub der nahen Bäume verloren.

Olga beachtete diesen Umstand nicht weiter. Während sie unter den Nußbäumen weiterging, streifte sie Spinnweben vom Gesicht; als sie dabei zufällig einmal hochblickte, blieb sie erstaunt stehen. Die rote Fahne war von dem Dach verschwunden; nur noch die leere Stange ragte empor.

Und nun glaubte Olga hastiges, aufgeregtes Flüstern zu vernehmen; plötzlich stürzte die schwere Leiter, die am Fenster des Schuppens angelehnt gestanden hatte, polternd zu Boden und riß dabei krachend dürre Äste mit sich.

Die merkwürdigen Fäden über dem Dach begannen zu zittern. Das Kätzchen, das sich ängstlich an Olgas Händen festgekrallt hatte, machte sich los und sprang mit einem Satz in die Brennesseln. Olga war erschrocken stehengeblieben. Sie sah sich suchend um und horchte. Doch sie konnte weder im Gebüsch noch hinter dem Nachbarzaun oder in dem schwarzen Viereck des Schuppenfensters jemand entdecken. Zu hören war jetzt auch nichts mehr.

Etwas verstört kehrte Olga zur Veranda zurück.

Auf ihre Frage erklärte ihr die Milchfrau eifrig: „Das sind Kinder. Sie treiben sich in fremden Gärten herum.

Gestern haben sie beim Nachbarn zwei Apfelbäume geplündert, einen kleinen Birnbaum haben sie umgeknickt. Ach ja, was es jetzt für Gesindel gibt… Solche Lausebengels! Mein Sohn ist bei der Roten Armee, meine Liebe“, fuhr die redselige Frau fort. „Als er ging, war er gar nicht niedergeschlagen. Im Gegenteil, er hat gepfiffen und gesungen, der liebe Junge. Leb wohl, Mama, hat er gesagt. Na, wie es aber so ist, abends wurde ich doch traurig und habe geweint. In der Nacht wache ich auf, und es kommt mir vor, als schleiche draußen jemand herum, als werde mit etwas geworfen. Ich denke bei mir: Ach, ich bin ganz allein, und keiner wird mir beistehen… So alt wie ich bin, kann mich eine Kleinigkeit umbringen! Ein Ziegelstein auf den Kopf, und aus ist’s! Doch das liebe Gottchen hat sich meiner erbarmt“, fuhr die Alte lebhaft fort. „Nichts ist gestohlen worden. Sie haben nur ein bißchen herumgeschnüffelt und sich wieder aus dem Staube gemacht. Aber denken Sie nur, bei mir draußen auf dem Hofe steht ein Eichentrog, den können zwei Leute nicht von der Stelle rücken. Nun, der war heute morgen zwanzig Schritte vor bis ans Tor geschoben. Das war alles. Was das nun für Leute waren, weiß ich nicht. Es ist und bleibt rätselhaft.“

Die Alte schwieg, und Olga wußte nichts zu erwidern.

Als es dämmerte und die Frau mit dem Aufräumen fertig war, ging Olga vors Haus. Sie setzte sich und nahm das Akkordeon, das der Vater ihr zum Geburtstag geschenkt hatte, behutsam aus der Lederhülle. Die weißen Perlmuttknöpfe glänzten. Sie nahm das Instrument auf die Knie, warf den Riemen über die Schulter und probierte die Melodie zu einem Liede, das sie unlängst gehört hatte. Es ging etwa so: „Ach, wenn ich euch nur einmal, nur einmal noch sehen könnte! Ach, nur ein einziges Mal…

Fern seid ihr von hier, wann kehrt ihr zurück? Ach, ich weiß es nicht.

Doch ihr kehrt zurück – irgendwann!“

Während Olga das Lied vor sich hin summte, warf sie zuweilen einen kurzen forschenden Blick zu dem dunklen Gebüsch hinüber, das sich vor dem Hause entlangzog und den Zaun verdeckte.

Nachdem sie geendet hatte, stand sie rasch auf, trat auf das Gebüsch zu und fragte ins Dunkel hinein:

„Wer ist denn da? Versteckt sich da jemand? Was suchen Sie hier?“

Ein junger Mann kam aus dem Gebüsch heraus. Er trug einen weißen Sommeranzug, machte eine Verbeugung und sagte in höflichem Ton: „Ich verstecke mich nicht. Ich wollte Sie nur nicht stören; denn ich bin selbst ein wenig Künstler. Ich habe da gestanden und hörte Ihnen zu.“

„Das hätten Sie doch auch von der Straße aus tun können“, erwiderte Olga trocken. „Weshalb sind Sie denn über den Zaun geklettert?“

„Ich, über den Zaun geklettert?“ Er schien beleidigt.

„Na, hören Sie mal, ich bin doch kein Kater. Da drüben am Ende des Zaunes fehlen ein paar Latten. Ich bin von der Straße aus ganz einfach durch diese Öffnung hereingekommen.“

„Das ist allerdings einleuchtend“, meinte Olga lächelnd. „Dann seien Sie doch bitte so freundlich und gehen Sie durch diese Pforte wieder auf die Straße zurück.“

Der junge Mann gehorchte. Ohne ein Wort des Widerspruchs ging er durch die Gartenpforte und verschloß sie hinter sich. Olgas Mißtrauen legte sich.

„Warten Sie“, rief sie, lief die Stufen hinab und hielt ihn zurück. „Was für ein Künstler sind Sie? Sind Sie Schauspieler?“

„Nein“, antwortete der junge Mann. „Ich bin Ingenieur, aber in meiner freien Zeit spiele ich auch Theater und singe im Chor unserer Werkoper.“

Nun tat Olga etwas Unerwartetes. Sie trat näher an den Zaun heran und bat schlicht und ohne Umschweife: „Hören Sie, wir kennen uns zwar nicht, doch ich habe Vertrauen zu Ihnen. Bitte begleiten Sie mich doch zum Bahnhof. Ich erwarte meine jüngere Schwester. Es ist bereits dunkel und spät, und sie ist immer noch nicht da. Ich habe zwar keine Angst, allein zu gehen, aber ich kenne mich hier im Ort noch nicht aus. Halt, warum öffnen Sie denn die Pforte? Sie können mich doch auf der Straße erwarten.“

Olga brachte das Akkordeon ins Haus zurück, nahm ein Tuch um die Schultern und trat auf die finstere, nach Blumen duftende, taunasse Straße hinaus. Sie war böse auf Shenja, deshalb sprach sie unterwegs auch wenig mit ihrem Begleiter, sondern hing ihren Gedanken nach. Der Fremde hatte ihr gesagt, sein Name sei Georgi Garajew und er arbeite als Ingenieur in einer Autofabrik.

Sie warteten zwei Züge ab, doch Shenja ließ sich nicht blicken; auch mit dem dritten und letzten Zuge kam sie nicht. „Nur Ärger hat man mit dem unfolgsamen Ding“, meinte Olga verdrießlich. „Wäre ich wenigstens dreißig oder vierzig Jahre alt, dann müßte sie mir gehorchen, aber sie ist dreizehn, und ich bin achtzehn, darum hört sie nicht auf mich.“

„Es müssen ja nicht gleich vierzig Jahre sein“, widersprach Georgi energisch. „Achtzehn gefällt mir viel besser. Und machen Sie sich keine unnützen Sorgen. Ihre Schwester wird sicher morgen mit dem ersten Zug kommen.“

Auf dem Bahnsteig war es inzwischen völlig menschenleer geworden. Georgi hatte sein Zigarettenetui herausgenommen, als plötzlich zwei kräftige, beinahe erwachsene Jungen, jeder eine Zigarette in der Hand, an ihn herantraten und ihn um Feuer baten.

Georgi stutzte einen Moment, dann entzündete er ein Streichholz und leuchtete dem älteren ins Gesicht.

„Junger Mann“, sagte er mißbilligend, „ehe Sie gerade mich um Feuer bitten, täten Sie gut daran, erst einmal höflich zu grüßen, denn ich hatte, wie Sie sich vielleicht erinnern werden, vorhin bereits die Ehre, Ihre Bekanntschaft zu machen, als Sie – sehr arbeitsfreudig, wie ich zugebe – aus dem neuen Zaun zwei Bretter herausgerissen haben. Sie heißen Michael Kwakin, wenn ich nicht irre? Stimmt’s?“

Empört schnaufend trat der Bengel ins Dunkel zurück. Georgis Streichholz verlosch. Er nahm Olga bei der Hand und geleitete sie höflich zu ihrem Hause zurück.

Die beiden Jungen, die auf dem Bahnsteig zurückgeblieben waren, zeigten sich wieder; der eine steckte seine verschmutzte Zigarette hinters Ohr und fragte seinen Freund im Tone tiefster Verachtung:

„Woher kennt dich denn dieser großschnäuzige Kerl? Ist das ein Hiesiger?“

„Nicht direkt ein Hiesiger“, erwiderte Kwakin mißmutig. „Er ist der Onkel von Timka Garajew. Timka müssen wir schnappen und mal richtig durchhauen.

Der arbeitet mit seiner Bande gegen uns. Ich glaube wenigstens, daß es so ist.“

Jetzt erst bemerkten die beiden Freunde am anderen Ende des Bahnsteigs einen würdigen, grauhaarigen Herrn, der im Schein einer Laterne, auf seinen Stock gestützt, die Treppe hinunterstieg. Sie erkannten den Doktor Kolokoltschikow, der in der Siedlung wohnte. Schnell rannten sie hinter ihm her und fragten sehr laut, ob er keine Zündhölzer bei sich habe. Doch ihre Stimmen und ihr Aussehen gefielen dem grauhaarigen Herrn ganz und gar nicht. Er musterte sie von oben bis unten, drohte ihnen mit seinem Stock und stelzte würdevoll davon.


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