Mit Hilfe ihrer Kerze entzündete sie eine Laterne und ging durch den Raum. Plötzlich kam ihr ein Einfall. Nach kurzer Überlegung ging sie zum Steuerrad, fand die richtige Leitung, hakte sie ein und begann das Rad energisch zu drehen.

Timur schlief ganz fest, als der struppige vierbeinige Freund ihm die Pfote auf die Schulter legte. Als der Junge darauf nicht reagierte, schnappte der Hund nach der Decke und zog sie herunter.

Nun sprang Timur auf.

„Was ist?“ fragte er verstört. „Ist etwas passiert?“ Im Mondlicht sah er, wie der Hund schweifwedelnd dasaß und ihn anblickte.

Und nun hörte Timur auch das Klingeln des kleinen Glöckchens.

Wer mochte ihn jetzt in der Nacht rufen? Er ging auf die Veranda hinaus und hob den Telefonhörer ab.

„Ja, hier ist Timur, wer ist denn da… Wer? Ich verstehe nicht… Du… Shenja?“

Dann lauschte Timur angestrengt. Lautlos bewegte er die Lippen. Auf seinem Gesicht zeigten sich rote Flecke, er atmete schnell und abgehackt, und dann rief er: „Was denn? Nur drei Stunden? Shenja, du weinst ja… Ich verstehe dich nicht. Hör auf zu weinen, ich komme gleich.“

Er warf den Hörer auf die Gabel und riß den Fahrplan von der Wand.

Ja, es stimmte, der letzte Zug war weg. Und der nächste ging erst um drei Uhr vierzig. Timur stand da und biß sich auf die Lippen. Was war zu machen?

Er überlegte, nein, der rote Stern sollte nicht umsonst an der Pforte zu Shenjas Haus leuchten. Er selbst hatte ihn aufgemalt mit eigener Hand. Er sah ihn deutlich vor sich.

Es galt, der Tochter eines Offiziers der Roten Armee zu helfen.

Rasch kleidete sich Timur an und stürzte auf die Straße hinaus. Wenige Minuten später stand er vor der Tür des Hauses, in dem der alte Kavalier wohnte. Im Arbeitszimmer des Doktors war noch Licht. Bescheiden klopfte Timur an. Die Tür wurde von innen geöffnet. Der alte Kavalier erkannte ihn und fragte erstaunt:

„Zu wem willst du?“

„Zu Ihnen“, antwortete Timur rasch.

„Zu mir?“ Doktor Kolokoltschikow überlegte einen Augenblick, dann machte er mit einer einladenden Handbewegung die Tür weit auf und sagte: „Bitte, tritt ein.“

Ihr Gespräch war nur kurz.

„Das ist alles, was wir uns vorgenommen haben“, beendete Timur seinen Bericht. „Wir haben uns diese Aufgaben gestellt, und deshalb brauche ich jetzt Ihren Kolja.“

Der alte Mann erhob sich ohne ein Wort der Erwiderung. Er faßte Timur unters Kinn, hob seinen Kopf hoch und blickte ihm forschend in die Augen.

Dann ging er hinaus.

Kolja schlief fest. Der Großvater packte ihn an der Schulter und rüttelte ihn.

„Steh auf, man braucht dich.“

Erschrocken setzte sich der Junge im Bett auf. Er blickte seinen Großvater verständnislos an.

„Was ist geschehen? Habe ich etwas verbrochen?“

Der alte Kavalier lächelte.

„Steh auf“, sagte er. „Timur wartet auf dich.“

Nachdem Timur den Hörer niedergelegt hatte, war Shenja ins Stroh gesunken. Dort saß sie, die Hände um ihre Knie verschränkt. Sie wartete. Es verging eine geraume Weile, aber Shenja zweifelte nicht eine Sekunde daran, daß ihr Freund ihr helfen werde. Draußen raschelte es im Gebüsch. Sie lauschte und blickte gespannt nach dem Fenster. Doch an Timurs Stelle tauchte Koljas Wuschelkopf im Fensterrahmen auf.

„Du bist es?“ fragte Shenja verwundert. „Was willst denn du hier?“

„Ich weiß nicht“, flüsterte Kolja mit ängstlicher Stimme. „Ich habe fest geschlafen, da ist Timur gekommen. Großvater hat mich geweckt, ich bin aufgestanden. Timur hat mich hergeschickt und hat mir aufgetragen, mit dir zusammen an die Gartentür zu kommen.“

„Hat er nicht gesagt, weshalb?“

„Nein, er hat nichts gesagt. Ach, Shenja, in meinem Kopf dreht sich alles. Ich kapiere nichts davon.“

Es war für Timur nicht ganz leicht gewesen, einen Entschluß zu fassen, denn es war niemand da, bei dem er sich für sein Tun eine Erlaubnis hätte holen können. Der Onkel war nach Moskau gefahren und über Nacht dort geblieben. Timur zündete eine Laterne an, holte sich das Beil aus der Küche, rief den Hund Rita heran und ging mit ihm in den Garten. Vor dem Schuppen machte er halt. Zögernd wanderten seine Blicke von dem Beil zum Türschloß. Er wußte genau, das was er jetzt tat, war Unrecht, und dennoch sprengte er mit einem kräftigen Schlag das Schloß auf. Dann verschwand er im Innern des Schuppens und kam nach einer Weile mit dem Motorrad seines Onkels wieder heraus.

Er lehnte die Maschine gegen die Schuppenwand und kniete neben dem Hunde nieder.

„Rita“, sagte er und kraulte den struppigen Kopf, „du verstehst mich, ich kann doch nicht anders handeln. Und nun paß schön auf, daß keiner etwas stiehlt.“

Shenja und Kolja standen wartend an der Gartentür. Da blitzte von ferne ein Scheinwerferlicht auf, das sich im Näherkommen schnell vergrößerte. Es kam direkt auf sie zu, und nun hörten sie auch das Motorengeräusch. Blinzelnd starrten sie dem Licht entgegen, das immer näher kam und plötzlich erlosch. Das Summen des Motors verstummte. Timur stand mit dem Motorrad vor ihnen.

Ohne Umschweife erklärte er: „Kolja, du bleibst hier und wirst das schlafende kleine Mädchen bewachen. Vor unserem ganzen Trupp trägst du die Verantwortung, daß ihm nichts geschieht. Und du, Shenja, steig auf. Beeile dich. Wir fahren nach Moskau.“

Shenja stieß einen Jubelruf aus, sie warf sich Timur an den Hals, umschlang ihn mit beiden Armen und küßte ihn stürmisch ab.

„Steig auf, Shenja, wir haben keine Zeit, beeile dich“, mahnte Timur und versuchte möglichst streng zu erscheinen. „Halte dich gut fest. Sitzt du ordentlich? Los, vorwärts, fahren wir.“

Der Motor begann zu rattern, und bald war das rote Rücklicht den Blicken des fassungslos nachstarrenden Kolja entschwunden. Er blieb noch eine Weile nachdenklich stehen, doch dann wandte er sich kurz entschlossen um und ging den Pfad entlang auf das hell erleuchtete Haus zu.

„Ach ja“, murmelte er stolz vor sich hin. „Ich trage die Verantwortung vor dem ganzen Trupp.“

In seiner Moskauer Wohnung saß Oberst Alexandrow am Tisch, auf dem ein erkalteter Teekessel stand. Sinnend starrte er auf die Reste der Mahlzeit, die ihm Olga zubereitet hatte. „In einer halben Stunde muß ich fort“, sagte er unmutig. „Es ist schlimm, daß ich Shenja nun doch nicht gesehen habe. Du weinst ja, Olga?“

„Ich kann mir nicht vorstellen, weshalb sie nicht gekommen ist. Sie hat so sehr auf dich gewartet. Jetzt wird sie den Verstand gänzlich verlieren. Sie ist ja so schon ganz verdreht.“

Der Vater war aufgestanden und schritt ruhelos auf und ab. Dann blieb er vor Olga stehen und sagte: „Ich kann und will nicht glauben, daß Shenja in schlechte Gesellschaft geraten ist. Sie ist nicht der Mensch, der einem schlechten Einfluß erliegt. Das entspricht nicht ihrem Charakter.“

„Du glaubst mir also nicht?“ Olga war gekränkt.

„Sage ihr das nur. Sie bildet sich schon genug drauf ein, deinen Charakter geerbt zu haben. Du darfst mir aber glauben, Vater, daß sie es mir recht schwer macht. Sie hat nichts wie dumme Streiche im Kopf: Sie klettert auf das Dach, läßt eine Schnur durch den Schornstein herab, und wie ich das Bügeleisen nehmen will, springt es hoch, daß ich vor Schreck zusammenfahre. Als du weggingst, hatte sie vier gute Kleider. Zwei davon sind jetzt schon Lumpen, aus dem dritten ist sie herausgewachsen, dafür kann sie nichts; drei neue habe ich ihr selbst geschneidert. Aber wenn sie nach Hause kommt, ist alles voller Flecke und Risse. Dann reißt sie die Augen weit auf und verzieht den Mund, daß ich lachen muß. Die andern meinen alle, sie kann kein Wässerchen trüben. Das Gegenteil ist der Fall. Glaube ja nicht, daß sie deinen Charakter hat.“

Geduldig hatte sich der Vater die lange Rede mit angehört. Nun umarmte er Olga und sagte begütigend: „Ich werde ihr schreiben. Ich glaube, du darfst keinen zu starken Druck auf sie ausüben. Sage ihr, daß ich sie liebhabe, daß ich viel an sie denke und daß wir bald zurückkehren werden. Sie soll nicht so viel weinen und immer daran denken, daß sie die Tochter eines Offiziers ist.“

„Das wird sie bestimmt“, sagte Olga und blickte den Vater aus ihren klaren Augen fest an. „Auch ich werde nicht vergessen, daß ich die Tochter eines Offiziers bin.“

Der Vater sah auf die Uhr, trat vor den Spiegel und zog seine Militärbluse zurecht.

Plötzlich ging die Außentür. Beide wandten sich um.

Der Vorhang wurde auseinandergerissen, Shenja tauchte in der Öffnung auf. Anstatt aufzuschreien, ging sie stumm und schnell auf ihren Vater zu und verbarg ihren Kopf an seiner Brust.

Ihr Gesicht war voller Schmutzspritzer, auch das zerdrückte Kleid war fleckig, so daß Olga erschrocken fragte: „Shenja, woher kommst du? Wie bist du hierhergekommen?“

Doch Shenja hielt ihren Vater fest umschlungen und murmelte nur: „Laß mich… frage nicht.“

Der Vater zog Shenja zum Sofa, dort ließ er sich nieder und nahm sie wie ein kleines Mädchen auf seinen Schoß. Er blickte in das strahlende, schmutzstarrende Gesicht seiner Tochter und flüsterte: „Du bist doch ein Prachtkerl, Shenja.“ Olga konnte sich nicht beruhigen.

„Woher bist du denn so schmutzig? Dein Gesicht ist ganz schwarz. Wie bist du hierhergekommen?“

Shenja wies stumm auf den Vorhang, und als Olga hinsah, erblickte sie Timur.

Er zog gerade seine Lederhandschuhe aus. Sein Gesicht war mit Öl verschmiert, es hatte den müden Ausdruck eines Arbeitsmannes, der mit dem Einsatz aller seiner Kräfte seine Pflicht erfüllt hat.

Als der Oberst aufblickte, verbeugte er sich höflich. Shenja war aufgesprungen. „Papa“, rief sie, „du darfst keinem etwas glauben. Sie wissen ja alle nichts. Das ist Timur. Timur ist der beste Kamerad.“

Der Oberst stand auf. Ohne zu zögern, reichte er Timur die Hand. Shenja warf Olga einen triumphierenden Blick zu. Olga, die immer noch nicht begriffen hatte, was vorging, trat ebenfalls zögernd zu Timur heran und sagte, noch immer nicht ganz überzeugt: „Nun denn, guten Tag…“

Da schlug die Uhr dreimal.

Shenja fuhr erschrocken zusammen.

„Papa, mußt du schon gehen? Unsere Uhr geht vor.“

Der Oberst lächelte: „Nein, Shenja, sie geht richtig.“

Doch Shenja gab sich nicht zufrieden. Sie lief zum Telefon und wählte eine Nummer. Der Zeitdienst meldete sich. Eine monotone, metallische Stimme sagte: „Drei Uhr und vier Sekunden.“

Shenja blickte seufzend zu der Uhr empor und sagte: „Unsere Uhr geht doch vor, Papa, aber nur eine Minute. Dürfen wir mit zum Bahnhof?“

„Nein, Shenja“, erwiderte der Oberst lächelnd, „das geht nicht. Ich habe dort zu tun.“

Er umarmte die beiden Mädchen, reichte dem Jungen die Hand und war in der nächsten Sekunde verschwunden.

Als Georgi am nächsten Morgen aus Moskau zurückkehrte und weder Timur noch das Motorrad vorfand, stand sein Entschluß fest; Timur mußte zu seiner Mutter nach Hause geschickt werden.

Er setzte sich an den Tisch, um einen Brief zu beginnen. Erst überlegte er, wie er Timurs Mutter die Nachricht schonend beibringen konnte, und blickte dabei sinnend aus dem Fenster. Da sah er, wie ein Rotarmist auf das Haus zukam.

Er ging in den Flur und öffnete die Haustür. Der Rotarmist salutierte und trat ein.

Seiner Tasche entnahm er einen Briefumschlag und fragte: „Sind Sie Genosse Garajew?“

„Ja, das bin ich.“

„Georgi Alexejewitsch?“

„Richtig.“

„Hier ist ein Brief für Sie. Bitte unterschreiben Sie die Empfangsbestätigung.“

Als das geschehen war und der Rotarmist sich wieder entfernt hatte, betrachtete Georgi den Brief eingehender. Es war eine Nachricht, die er längst erwartet hatte. Georgi las die Botschaft und nickte befriedigt, dann trat er zu dem Tisch, nahm den angefangenen Brief an Timurs Mutter und zerknüllte ihn. Nein, jetzt durfte er Timur nicht fortschicken; im Gegenteil, er mußte die Mutter telegrafisch herbeirufen.

Während Georgi noch dastand und überlegte, trat Timur ins Zimmer. Gerade wollte der aufgebrachte Georgi mit seinen Vorwürfen beginnen, als er sah, daß Olga und Shenja hinter seinem Neffen standen.

Als Olga Georgis zorngerötetes Gesicht sah, erriet sie seine Gedanken und rief begütigend: „Zürnen Sie nicht, Georgi. Es hat sich herausgestellt, daß ich im Unrecht war. Timur ist unschuldig. Nur mich trifft eine Schuld.“

Nun mischte sich Shenja in das Gespräch ein. „Sie dürfen nicht mit ihm schimpfen. Olga, du darfst nichts auf dem Tisch anfassen“, unterbrach sie sich, „besonders nicht diese Pistole, die macht einen fürchterlichen Krach.“

Georgi schaute Shenja verständnislos an. Dann fiel sein Blick auf die Pistole und den zerbrochenen Aschenbecher.

Langsam begann er die Zusammenhänge zu begreifen. „Das warst also d u damals in der Nacht, Shenja“, rief er.



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