Ein Greis mit wirrem grauem Haar stand in drohender Haltung vor ihm. Zu dem ärmlichen Leinenhemd des Alten paßten seine ungewöhnlich weiten, stark geflickten Hosen. An seinem linken Knie war mit einem Riemen ein plumpes Holzbein befestigt. Der alte Mann hielt einen Zettel in der einen Hand, in der anderen hielt er die altmodische Pistole.
Mit spöttischem Gesichtsausdruck las er gerade von dem Zettel ab: „Mädchen, wenn du fortgehst, schlage die Tür fest hinter dir zu.“
„Willst du mir vielleicht gütigerweise verraten“, fuhr er, zu dem Jungen gewandt, fort, „wer heute nacht bei uns auf dem Sofa geschlafen hat?“ Merkwürdigerweise klang die Stimme des Alten mit dem Stelzfuß ganz jung.
„Ein kleines Mädchen, das ich kenne“, antwortete der Junge widerwillig. „Es ist hereingekommen, während ich weg war, und dann hat es der Hund nicht wieder hinausgelassen.“
„Ach, du lügst ja“, schrie der vermeintliche Alte wütend, „wenn dir das Mädchen bekannt wäre, hättest du es auf dem Zettel mit seinem Namen angeredet.“
„Als ich den Zettel schrieb, wußte ich den Namen noch nicht. Aber jetzt kenne ich das Mädchen.“
„Du wußtest seinen Namen nicht und hast das fremde Mädchen bis zum Morgen hier allein gelassen, hier in der Wohnung? Weißt du, mein Junge, du bist nicht normal, man sollte dich in ein Irrenhaus sperren. Ist dir denn klar, was geschehen ist? Dieses Ungetüm von einem Mädchen hat den Spiegel zerschlagen und den Aschenbecher kaputtgemacht. Ein Segen, daß die Pistole nur mit einer Platzpatrone geladen war. Was wäre geschehen, wenn es scharfe Munition gewesen wäre?“
„Aber Onkel“, der Junge bemühte sich, gleichmütig zu bleiben, „Sie haben doch gar keine scharfe Munition, und Ihre Feinde haben nur Flinten und Säbel – aus Holz!“
Der Onkel unterdrückte ein Lächeln. Doch er schüttelte streng seinen grauen Kopf und erwiderte:
„Paß auf, Timur! Ich merke alles! Ich weiß, daß du dich mit geheimnisvollen Dingen beschäftigst. Sieh dich nur vor, daß ich dich nicht kurzerhand heim zu deiner Mutter expediere.“
Nach dieser Drohung drehte er sich um und kletterte mühselig die Stiege hinauf, wobei sein Holzbein bei jedem Schritt hart aufschlug. Als er nicht mehr zu sehen war, packte der Junge den Hund, der hereingelaufen war, bei den Vorderpfoten und gab ihm einen Kuß mitten auf die Schnauze.
„Ach, Rita, der Onkel hat uns erwischt. Macht aber nichts, er ist heute ganz guter Laune. Paß auf, gleich fängt er an zu singen.“
Und tatsächlich war jetzt aus dem darüberliegenden Raum erst ein starkes Räuspern zu hören und dann ein paar Töne: Tra-la-la! Und schließlich begann eine jugendliche Bariton-Stimme zu singen:
„Ich kann nicht schlafen, schon die dritte Nacht, Denn stets erscheint mir in der tiefen Stille, in finsterer Nacht das gleiche Bild…“
Timur lauschte, dabei spielte er gedankenlos mit dem Hund, der sich mit einemmal recht seltsam benahm.
„Was willst du denn, närrisches Vieh?“ fragte der Junge. „Was zerrst du mich an den Hosenbeinen?“ Dann, durch das Benehmen des Hundes aufmerksam geworden, schlug Timur die Tür zu der nach oben führenden Treppe zu, durch die sein Onkel sich entfernt hatte, und lief über den Korridor, dem Hunde nach, auf die Veranda hinaus.
Dort stand in einer Ecke ein Telefonapparat. Daneben hing ein Glöckchen aus Bronze; es hüpfte jetzt auf und nieder und schlug dabei klirrend gegen die Wand.
Der Junge griff nach dem Glöckchen und wickelte die Schnur, an der es hing, um einen Nagel. Das Zittern der Schnur wurde schwächer. Vielleicht war die Verbindung irgendwo durchgerissen. Verwundert und etwas ärgerlich nahm Timur den Hörer ab. – Eine halbe Stunde bevor dies alles sich ereignete, hatte Olga in ihrem Zimmer am Tisch gesessen. Vor ihr lag aufgeschlagen ein Lehrbuch der Physik.
Da war Shenja harmlos hereingeschlendert und hatte um das Fläschchen mit Jod gebeten.
Olga hatte ärgerlich aufgeblickt. Sie stutzte und fragte: „Was hast du denn da für einen Kratzer an der Schulter?“
„Ach“, hatte Shenja mit gleichgültiger Stimme geantwortet, ich bin nur so gegangen … und da war ein stachliger Zweig im Weg, weißt du … und so ist es gekommen.“
„Warum kommen mir eigentlich keine stachligen Zweige in den Weg?“ hatte Olga spöttisch gefragt und dabei Shenjas Tonfall nachgemacht.
„Stimmt ja gar nicht. Bei dir ist es anders. Dir kommt die Mathematikprüfung in den Weg. Die ist genauso stachlig“, hatte Shenja schlagfertig geantwortet, „wirst ja sehen, was du davon für Schrammen bekommst. Ach, Oljuschka, werde doch lieber nicht Ingenieur oder Doktor. Ein Ingenieur, weißt du, muß immer so aussehen.“ Und sie hatte eine greuliche Grimasse geschnitten, um sich ein gelehrtes, energisches Aussehen zu geben. „Du aber siehst so aus … so und so …“ Und Shenja hatte einen schwärmerischen Gesichtsausdruck angenommen und die Augen sentimental verdreht.
„Du dummes Schaf!“ Wider Willen hatte Olga lachen müssen. Sie hatte Shenja umarmt und geküßt und sie sanft von sich geschoben und zu ihr gesagt:
„Laufe lieber zum Brunnen und hole mir Wasser.“
Aber Shenja hatte die Aufforderung geflissentlich überhört. Im Vorbeigehen hatte sie vom Teller einen Apfel stibitzt, war dann zum Fenster getreten und hatte schließlich das Akkordeon geholt und es aus seiner Hülle genommen.
„Weißt du, Oljuschka“, plauderte sie dabei, „was ich erlebt habe? Kommt da heute so ein Onkelchen zu mir heran. Ganz nett anzusehen, blond, trägt einen weißen Anzug und fragt mich ohne viel Umschweife:
‚Wie heißt du denn, Mädchen?’ Ich sage darauf: Shenja! Und er…“
„Shenja, störe mich nicht bei der Arbeit und laß das Instrument liegen“, hatte Olga kurz gesagt, ohne von ihrem Buch aufzusehen.
Doch Shenja hatte unbeirrt weiter gesprochen: „Ja, und dann hat er gesagt: ,Deine Schwester heißt ja wohl Olga?“
„Shenja, störe mich nicht.“ Olga wurde ärgerlich.
„Und bitte, laß das Akkordeon liegen.“ Dabei war sie aber merklich interessiert an dem, was Shenja zu erzählen hatte.
„‚Sehr schön kann sie spielen, deine Schwester’, hat er noch gesagt, ‚will sie nicht Unterricht auf dem Konservatorium nehmen?’“ Shenja hatte indessen das Instrument aus seiner Hülle herausgenommen und den Riemen über die Schulter geworfen. Dann hatte sie weitergesprochen: „Nein, sage ich zu ihm, sie lernt etwas über Eisenbeton. Darauf sagte er – A-a-a!“ Zu diesem langgezogenen A hatte Shenja eine Taste heruntergedrückt. „Und ich sage darauf B-e-e.“ Hierbei hatte sie die nächste Taste berührt.
Olga war wütend aufgesprungen. „Du unfolgsames Ding, gleich legst du das Instrument auf seinen Platz zurück. Wer hat dir denn erlaubt, mit fremden Männern Gespräche zu führen?“
„Ich lege es ja schon weg“, hatte Shenja gekränkt erwidert. „Ich habe das Gespräch mit dem netten jungen Mann gar nicht angefangen, das hat er getan. Ich wollte dir nur etwas Interessantes erzählen. Jetzt tue ich es nicht. Ätsch. Warte, wenn Papa kommt, dann kannst du was erleben.“
„Ich? Du wirst was erleben. Du störst mich beim Arbeiten.“
„Nein, du wirst was erleben“, hatte Shenja eigensinnig wiederholt, während sie nach einem leeren Eimer griff. „Ich werde Papa erzählen, wie du mich hundertmal am Tage herumjagst, mal nach Petroleum, mal nach Seife, mal nach Wasser! Ich bin nicht dein Botenjunge – ich bin auch kein Packesel und gar nichts.“
Dann hatte Shenja aber doch das Wasser geholt; sie schleppte den Eimer herein und stellte ihn geräuschvoll auf die Bank, da aber Olga keine Notiz von ihr nahm und gar nicht von den Büchern aufgeblickt hatte, drehte sich Shenja beleidigt um und lief in den Garten.
Sie langweilte sich. Was konnte sie nur anfangen? Vor dem Schuppen angelangt, war Shenja stehengeblieben und hatte eine Schleuder aus der Tasche gezogen; an der Gummischnur war ein kleiner Fallschirmjäger aus Pappe befestigt. Shenja hatte die Schleuder abgeschnellt, und der Fallschirmjäger war, mit den Beinen nach oben, zum Himmel emporgeflogen. Er wirbelte in der Luft herum, ein blauer Papierschirm öffnete sich – doch da trieb ein Windstoß den kleinen Piloten zur Seite und in das schwarze Viereck des Schuppenfensters hinein.
Ein Unfall! Dem Papp-Piloten mußte geholfen werden. Shenja ging um den Schuppen herum und betrachtete neugierig die Schnüre, die vom Dach aus nach allen Richtungen verliefen.
Sie schleppte die morsche Leiter herbei, kletterte hinauf und in die Fensteröffnung hinein. Mit einem Satz sprang sie auf die Dielen des Dachbodens.
Wie merkwürdig. Der Bodenraum schien bewohnt zu sein. Von der Wand hingen Stricke herab. Da hing eine Laterne, und da drüben waren zwei Signalfähnchen kreuzweise an den Latten angebracht. Dann gab es da noch eine Karte von der Siedlung, mit allen möglichen Zeichen bemalt, die Shenja unverständlich waren und ihre Neugierde weckten. In der Ecke lag ein mit Säcken bedeckter Strohhaufen.