Die Großmutter hatte Gurken abgenommen und in ihre Schürze getan. Jetzt war sie gerade im Begriff, in den Hof zurückzukehren.
Absichtlich geräuschvoll machte Sima sich am Zaun zu schaffen.
Lauschend hob die Großmutter den Kopf. Sima hatte einen Stock genommen und die Äste im Apfelbaum hin und her bewegt. Die Großmutter sollte meinen, es klettere jemand über den Zaun, um Äpfel zu stehlen. Sein Plan gelang. Kurz entschlossen ließ die Alte die Gurken zu Boden gleiten und schlich auf den Zaun zu; im Herankommen riß sie schnell noch ein paar Büschel Brennesseln aus. Dann hockte sie am Zaun nieder und wartete.
Sima Simakow spähte wieder durch die Latten. Da er die Großmutter nicht gleich sehen konnte, sprang er auf und begann sich vorsichtig am Zaun hochzuziehen. Doch im gleichen Augenblick schoß die Großmutter mit Triumphgeschrei aus ihrem Versteck hervor und schlug Sima mit den Brennesseln auf die Hände.
So kam es, daß der gute Sima, die schmerzenden Hände in der Luft schwenkend, gerade in dem Augenblick beim Hoftor anlangte, als die vier Kameraden, die ihre Arbeit beendet hatten, das Grundstück verließen.
Nur Njurkas kleiner Bruder war in dem Hof zurückgeblieben. Er las einen Holzsplitter vom Erdboden auf und schleppte dann noch ein Stück Birkenrinde herbei; beides legte er auf den Rand des Holzstapels.
Bei dieser Beschäftigung fand ihn die Großmutter, als sie jetzt mit ihren Gurken aus dem Garten zurückkam. Mit vor Erstaunen weit aufgerissenen Augen blieb sie vor dem fertig aufgeschichteten Holzstapel stehen und fragte, teils zu ihrem Enkel gewandt, teils ins Leere hinein: „Wer hat denn das gemacht, wer arbeitet denn hier?“
Der Kleine kam auf sie zugelaufen und erklärte mit wichtiger Miene: „Ich, Großmutter!“
Während die Großmutter noch über das Rätsel nachdachte, öffnete sich die Pforte, und die Milchfrau kam herein. Sogleich begannen die beiden Alten ihre aufregenden Erlebnisse mit dem Wasser und dem Holz zu besprechen. Alle ihre Bemühungen, etwas aus dem Knirps herauszubekommen, erwiesen sich als müßig. Er plapperte etwas von Kindern, die über den Zaun gesprungen waren und die ihm süße Beeren und eine Feder geschenkt und ihm überdies versprochen hatten, einen Hasen mit zwei Ohren und vier Pfoten für ihn zu fangen. Dann erzählte er noch ziemlich unzusammenhängend, wie diese Jungen die Holzscheite herumgeworfen hätten und schließlich davongelaufen seien.
Während die beiden Frauen noch hin und her rieten, was das Kauderwelsch des Kleinen wohl zu bedeuten habe, kam Njurka durch die Pforte herein.
„Wo bist du gewesen, Njurka?“ fragte die Großmutter streng. „Bist du jemand begegnet? Es sind Jungen hier im Hof gewesen.“
Aber Njurka hatte nichts gesehen. Sie war sehr niedergeschlagen, denn sie hatte den ganzen Morgen vergeblich nach der entlaufenen Ziege gesucht, sie war durch den Wald gelaufen, hügelauf, hügelab geklettert und war nun müde. Die Großmutter erging sich in sorgenvollen Betrachtungen, die Ziege müsse gestohlen sein. „Und was für eine Ziege das war“, sagte sie zu der Milchfrau, „lammfromm war sie.“
„Lammfromm“, rief Njurka empört. „Wenn sie mit ihren Hornern nach mir stieß, konnte ich mich kaum vor ihr retten. Lämmer haben keine Horner!“
„Schweig still, Njurka“, herrschte die Großmutter sie an. „Du bist eine Schlafmütze. Hast sie weglaufen lassen. Gewiß, Charakter hatte sie, meine Ziege. Verkaufen wollte ich sie“, klagte die Großmutter der Milchfrau, „und nun ist das lammfromme Tier auf und davon.“
Sie hatte noch nicht zu Ende gesprochen, als die Hoftür von draußen aufgestoßen wurde, und herein stürmte mit gesenkten Hornern die Vermißte; sie raste in den Hof hinein und direkt auf die Milchfrau zu, die sich und ihre schwere Milchkanne die Treppe hinauf in Sicherheit brachte. Die Ziege, die ihren Anlauf nicht mehr hemmen konnte, stieß mit den Hornern gegen die Mauer. Und jetzt erst entdeckten die Frauen ein Pappschild, das auf die Horner der Ziege gespießt worden war und auf dem mit großen Buchstaben geschrieben stand:
Da hast du wieder deine brave Ziege! Doch laß uns nicht noch einmal sehn, daß du die Njurka schlägst, sonst wird dir’s schlecht ergehn.
Gleichzeitig hörten die Frauen, wie aus einer Ecke, hinter dem Zaun, sehr befriedigte Jungenstimmen schmetterten:
„Wir sind keine Horde, wir sind keine Bande, wir machen der Heimat bestimmt keine Schande! Wir wollen nur helfen, in allen Sachen als Jungkommunisten uns nützlich machen!“
Rasch und lautlos wie ein Vogelschwarm machten die Jungen sich aus dem Staube. Es gab noch vieles zu erledigen, vor allem aber mußte das Ultimatum an Kwakin abgefaßt und ihm überreicht werden. Keiner aus dem Trupp wußte so recht, wie so ein Ultimatum lauten mußte. Daher beschloß Timur, seinen Onkel danach zu fragen.
Er erkundigte sich ganz allgemein, wie so ein Schriftstück wohl abgefaßt würde. Der Onkel gab ihm bereitwillig Auskunft. Er meinte, jeder Staat schreibe so ein Ultimatum auf seine Art, aber alle hätten das gemeinsam, daß am Schluß aus Höflichkeitsgründen geschrieben werden müsse: „Herr Minister, ich verbleibe mit dem Ausdruck der größten Hochachtung…“
„Und wie gelangt nun so ein Ultimatum an die Person, an die es gerichtet ist?“ wollte Timur wissen.
„Der Gesandte des betreffenden Staates überreicht es dem Außenminister, an dessen Regierung es sich richtet.“ Das Verfahren war sehr umständlich und gefiel weder Timur noch seinem Trupp.
Die Jungen waren auch keineswegs geneigt, Kwakin ihre Hochachtung auszudrücken, noch verfügte dessen Bande über Gesandte und Minister.
Da war guter Rat teuer.
Nach langen Beratungen kamen sie zu dem Schluß, es werde am besten sein, ein Ultimatum nach dem Vorbild des Schreibens der Saporosher an den türkischen Sultan abzufassen, das sie alle gelesen hatten und in dem von dem Kampf der tapferen Kosaken gegen die Türken, die Tataren und Ljachen die Rede gewesen war. Sogar Bilder waren dabeigewesen.
Das graue Tor, auf das ein schwarzumrandeter roter Stern gemalt worden war, führte in den schattigen Garten eines Landhauses. Es lag der von Olga und Shenja bewohnten Datsche gegenüber. Vor dem Hause spielte ein blondgelocktes kleines Mädchen im Sande. Die Mutter der Kleinen, die in einem Schaukelstuhl in der Nähe des Fensters saß, sah ihr mit traurigem, müdem Lächeln zu. Auf der Fensterbank neben ihr stand ein großer Strauß Feldblumen.
In ihrem Schoß ausgebreitet lagen Telegramme und Briefe von Angehörigen, Freunden und Bekannten. Alle diese Grüße waren voller Zärtlichkeit und voll von warmen Mitgefühl.
Diese Beweise der Freundschaft und der Anteilnahme, die aus der Ferne zu ihr kamen, gaben der jungen Witwe die Gewißheit, nicht allein zu sein.
Der kleine Blondkopf hatte seine Puppe bei den Beinen gepackt, so daß die Flachshaare und die Holzarme über den Erdboden schleiften. Er starrte wie gebannt auf den Zaun, an dem etwas Seltsames vorging. Ein Hase aus buntbemaltem Holz kletterte den Zaun herab und zupfte dabei mit den Pfoten an den Saiten einer aufgemalten Balalaika.
Das kleine Mädchen war über dieses unerklärliche Schauspiel, das seinesgleichen auf der Welt nicht hatte, so begeistert, daß es die Puppe fallen ließ und dicht an den Zaun herantrat. Es griff nach dem Wunderhasen, der ihm sozusagen in die Hände glitt. Gleich darauf tauchte hinter dem Zaun Shenjas Gesicht auf, das schelmisch und befriedigt über den geglückten Spaß lächelte.
Der Blondkopf blickte vertrauensvoll zu Shenja auf.
„Spiele mit mir“, bat das Kind. Shenja war sogleich bereit.
„Soll ich über den Zaun springen?“
„Hier wachsen aber Brennesseln“, warnte die Kleine, „ich habe mir gestern daran wehgetan.“
„Ach, das macht nichts, ich fürchte mich nicht“, rief Shenja fröhlich und kletterte gewandt über den Zaun.
„Zeig mir mal die bösen Brennesseln, die dir wehgetan haben. Diese hier? Da guck, jetzt hab ich sie ausgerissen und zertrampelt. Siehst du? Und nun wollen wir spielen. Du nimmst den Hasen und ich die Puppe.“
Von der Veranda aus hatte Olga beobachtet, wie sich Shenja an dem fremden Zaun zu schaffen machte. Sie hatte sich nicht eingemischt, denn die arme Shenja hatte am Vormittag schon zu viele Tränen vergossen. Als sie jedoch sah, wie Shenja über den Zaun geklettert und in den Nachbargarten gesprungen war, hatte Olga beunruhigt das Haus verlassen.
Sie war hinübergegangen und hatte die Gartenpforte geöffnet.
Shenja stand bereits neben dem kleinen Mädchen am Hause. Die Kleine zeigte ihrer Mutter gerade den buntbemalten Hasen, der auf einer Balalaika spielen konnte. Ein Lächeln erhellte das Gesicht der jungen Frau.
Da bemerkte sie, wie Shenja plötzlich unruhig wurde. Sie blickte den Gartenweg entlang und erriet sogleich an Olgas Gesichtsausdruck ihre Unzufriedenheit.
„Zürnen Sie Ihrer Schwester nicht“, bat sie, „es ist so lieb von ihr, mit meiner Kleinen zu spielen. Wir haben… einen großen Schmerz… ich weine immerzu… und sie…“ – sie wies auf ihr Töchterchen – „sie weiß noch nicht einmal, daß ihr Papa tot ist… daß er an der Grenze gefallen ist.“
Olga war sehr verlegen. Sie wußte nicht, was sie antworten sollte, um so weniger, als Shenja ihr bitterböse, vorwurfsvolle Blicke zuwarf.
„Ich bin ganz allein“, fuhr die junge Frau fort.
„Meine Mutter ist in der Taiga, in den Bergen, sehr weit fort von hier. Schwestern habe ich keine, und meine Brüder sind jetzt alle bei der Roten Armee.“
Inzwischen war Shenja dicht an die junge Frau herangetreten, die, einer plötzlichen Eingebung folgend, ihren Arm berührte und fragte: „Sag, hast du mir heute nacht diesen Strauß aufs Fensterbrett gestellt?“
„Nein“, antwortete Shenja rasch, „ich war es nicht, aber sicher einer von uns.“
Olga sah Shenja verständnislos an. „Von uns – wen meinst du damit?“
Shenja war sehr erschrocken.
Sie stotterte: „Ich weiß nicht. Ich war es jedenfalls nicht. Aber seht mal, da kommt jemand.“
Zu ihrem Glück kamen tatsächlich zwei Fliegeroffiziere den Gartenweg entlang.
Die junge Frau sah ihnen fragend entgegen. „Sie kommen zu mir und wollen mir sicher wieder zureden, in einen Kurort auf der Krim oder im Kaukasus zu gehen.“
Die beiden Offiziere waren herangekommen und hoben die Hände grüßend an die Mützen.
Der ältere, ein Hauptmann, der offenbar die letzten Worte gehört hatte, sagte: „Nein, es handelt sich weder um die Krim noch um den Kaukasus. Sie sollen auch in keinen Kurort und in kein Sanatorium. Aber haben Sie nicht den Wunsch geäußert, Ihre Mutter wiederzusehen? Nun, sie fährt heute von Irkutsk mit der Eisenbahn ab. Bis Irkutsk wurde sie mit einem Flugzeug gebracht.“
„Von wem denn?“ rief die junge Frau freudig erregt.
„Von Ihnen etwa?“
„Nein, nicht von uns“, antwortete der Hauptmann, „aber von unseren und Ihren Kameraden.“
Die Kleine kam herbeigelaufen. Sie blieb vor den Offizieren stehen und blickte sie neugierig, aber ohne Scheu an. Offensichtlich waren ihr diese Uniformen vertraut.
Nachdem ihre kindliche Neugier befriedigt war, wandte sie sich der jungen Frau zu.
„Mama“, bat sie, „mach mir doch eine Schaukel, mit der ich ganz hoch fliegen kann, so hoch wie Papa – so weit weg wie Papa.“
Unwillkürlich traten der jungen Frau wieder die Tränen in die Augen.
„Ach, nein“, rief sie fast heftig, „nicht so weit, nicht so weit weg wie dein Papa.“ Und sie riß die Kleine in ihre Arme.
An der Malaja-Owrashnaja-Straße liegt eine Kapelle, in der die Wandmalereien verblassen und abbröckeln. Sie zeigen strenge bärtige Greise, kleine Engel und Szenen des Jüngsten Gerichts mit flinken Teufeln und dampfenden Teerkesseln.
Hinter dieser Kapelle und einem hohen Zaun hockten auf einer Wiese, die nach Kamillen duftete, Kwakin und seine Spießgesellen; sie vertrieben sich die Zeit mit Kartenspielen.
An Stelle des fehlenden Geldes wurde um Ohrfeigen, Prügel und „Weck den Toten auf“ gespielt. Das ging so zu: Dem Verlierer wurden die Augen verbunden. Er mußte sich auf den Rücken ins Gras legen. In die Hand bekam er anstatt einer Kerze ein Stück Holz – einen langen Stecken, mit dem er blindlings auf diejenigen einschlagen mußte, die aus lauter Menschenfreundlichkeit den „Toten“ wieder zum Leben erwecken wollten und zu diesem Zweck mit Brennesseln auf seine nackten Knie, Waden und Füße einschlugen.
Dieses Spiel war gerade im vollen Gange, als ein scharfes Trompetensignal ertönte.
Es waren die Abgesandten von Timurs Trupp, die hinter dem Zaun auftauchten.
Kolja Kolokoltschikow schwang als Stabstrompeter sein blankes Horn, und der barfüßige Geika hielt einen Briefumschlag, der aus Packpapier kunstvoll geklebt worden war, in der Hand.
Einer von Kwakins Spießgesellen mit dem Spitznamen „die Latte“ hatte sich vorgebeugt, um zu sehen, was es gäbe.
„Was tut sich hier?“ schrie er, sich umwendend.
„Mischka, leg die Karten weg, hier kommt eine Abordnung zu dir.“
„Hier bin ich“, rief Kwakin. Er kletterte auf den Zaun und schrie, als er Koljas ansichtig wurde: „Oho, was will denn die Rotznase?“
„Hier, nimm diesen Brief“, erwiderte Geika an Koljas Stelle und überreichte Kwakin nicht allzu feierlich das Dokument. „Du hast vierundzwanzig Stunden Zeit zum Überlegen. Morgen um die gleiche Zeit hole ich mir eine Antwort.“
Gekränkt, daß man ihn eine Rotznase genannt hatte, hob der Trompeter Kolja sein Horn an den Mund und blies eine Fanfare, in die er seinen ganzen Zorn und seine Verachtung legte. Ohne ein weiteres Wort entfernten sich die beiden Abgesandten. Sie fühlten die neugierigen Blicke von Kwakins Spießgesellen, die auf den Zaun geklettert waren, auf sich ruhen und bemühten sich, würdevoll davonzugehen.
Als sie nicht mehr zu sehen waren, drehte Kwakin den braunen Packpapierumschlag in der Hand hin und her und prüfte ihn von allen Seiten. Offenen Mundes starrten die im Kreise herumstehenden Jungen auf ihren Anführer.
„Was soll das alles bedeuten?“ fragte er, und ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr er fort: „Was stören die unsern Frieden? So mir nichts, dir nichts kommen sie an, machen Krach mit ihrer Trompete, machen sich wichtig. Ich begreife nichts von alledem.“
Er riß den Umschlag auf und begann zu lesen, ohne seinen Platz auf dem Zaun zu räumen: „,An den Ataman der Plünderer fremder Obstgärten, Michael Kwakin…’ Das geht mich an.‚ … ferner an seinen übel beleumdeten Spießgesellen, Pjotr Pjatakow, genannt die Latte…’ Das bist du … Mein Spießgeselle! Fein ist das nicht! … Und weiter heißt es hier: ‚… sowie an alle Bandenmitglieder richtet sich unser Ul-ti-ma-tum.’
Was ist das? Weiß das einer? Sicher irgend so ein Schimpfwort.“
„Das ist ein internationales Wort“, erklärte Aljoschka, ein verschlagen aussehender Junge mit glatt geschorenem Kopfe, der neben der Latte stand.
„Tüchtig verhauen muß man die. So eine Frechheit!“
„Ruhe“, gebot Kwakin, „ich lese weiter: ‚Erster Punkt. In Anbetracht der Tatsache, daß Ihr nachts Überfälle auf die Gärten friedlicher Bürger macht und auch d i e Häuser nicht schont, an denen unser Zeichen, der rote Stern, angebracht wurde, ja, daß Ihr sogar den Stern mit dem Trauerrand mißachtet, befehlen wir Euch feigen Schurken folgendes …’
Sieh mal an, wie die schimpfen können“, unterbrach sich Kwakin. Man konnte ihm seine Verlegenheit anmerken. Offenbar war ihm nicht wohl in seiner Haut, obgleich er sich bemühte, harmlos zu lächeln. „Achtung, es geht weiter! ‚Morgen früh haben sich Michael Kwakin und die übel beleumdete Person, genannt die Latte, an der Stelle einzufinden, die unsere Abgesandten ihnen bezeichnen werden. Mitzubringen ist ein vollständiges Verzeichnis der Mitglieder Eurer schändlichen Bande. Im Falle einer Weigerung behalten wir uns das Recht zu völliger Handlungsfreiheit vor.’“ So lautete das Ultimatum. Als Kwakin geendet hatte, entstand eine Pause; schließlich brach er selber das unbehagliche Schweigen.
„Was wollen die denn mit Handlungsfreiheit sagen? Soll das vielleicht eine Drohung sein?“
„Ach, das ist Quatsch. Gehörig durchprügeln muß man sie“, erklärte der kahlköpfige Aljoschka noch einmal.
„Das hätten wir uns nicht so lange überlegen sollen“, meinte Kwakin zustimmend. „Schade, daß wir Geika haben gehen lassen. Der hat wohl schon lange nicht mehr richtig geheult.“
„Der wird nicht heulen“, widersprach Aljoschka.
„Dem sein Bruder ist Matrose.“
„Na und?“
„Sein Vater war auch Matrose. Geika wird bestimmt nicht heulen.“
„Was für ein Unsinn. Mein Onkel ist auch Matrose.“
„Laßt doch das dämliche Gequatsche.“ Kwakin war wütend. „Was gehen uns eure Brüder, eure Väter und eure Onkel an? Du hast einen Sonnenstich, Aljoschka. Was hast du zu murren, Latte?“
„Ich sage, die Burschen müssen morgen früh festgenommen werden. Die dürfen wir nicht wieder freilassen. Timur muß mit seiner Rasselbande tüchtig Prügel beziehen“, erklärte die Latte.
Er fühlte sich durch das Ultimatum besonders angegriffen.
Nach einigem Hin und Her wurde sein Vorschlag angenommen. Kwakin und die Latte hatten sich zu einer geheimen Verhandlung in den Schatten der Kapelle zurückgezogen. An der Wand zu ihren Köpfen schleppten grimmige Teufel wild um sich schlagende arme Sünder zu den dampfenden Teerkesseln.
„Höre mal, Latte“, fragte Kwakin streng, „bist du in den Garten geklettert, der dem gefallenen Leutnant gehört?“
Nach einigem Zögern gestand Latte.
Kwakin brummte etwas Unverständliches. Dann meinte er: „Auf Timurs Zeichen pfeife ich, und Prügel bekommt er allemal, aber…“ Nachdenklich trommelte er mit den Fingern gegen die Mauer.
„Was zeigst du denn immer auf den Teufel?“ fragte, die Latte. „Du machst mich ganz nervös damit. Soll das vielleicht eine Anspielung sein?“
Kwakin lachte boshaft. „Wenn du so willst. Du siehst ihm übrigens ähnlich, diesem langen ekligen Teufel.“
Am nächsten Morgen traf die Milchfrau auf ihrem Rundgang drei ihrer Kundinnen nicht zu Hause an. Sie überlegte. Sollte sie die Milch noch auf den Markt bringen? Doch dazu war es wohl zu spät. So beschloß sie, weiterzugehen und die übriggebliebene Milch in einigen Häusern anzubieten. Sie nahm die schweren Kannen und machte sich auf den Weg.
Nach einigen vergeblichen Besuchen kam sie auch zu dem Häuschen, das Timur mit seinem Onkel bewohnte.
Im Garten wurde gesungen, sie hörte eine volle, angenehme Stimme. Hier war jemand zu Hause; sie würde ihre Milch also loswerden.
Die Alte trat durch die Pforte in den Garten und rief in singendem Tonfall: „Milch, frische Milch gefällig?“
Eine jugendliche Männerstimme ließ sich vernehmen: „Ja, zwei Liter, bitte.“
Die Alte stellte die Kannen ab, wandte sich um und blickte in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war. Sie bekam einen furchtbaren Schreck. Aus dem Gebüsch kam ein alter Mann heraus; das graue Haar umgab sein Gesicht in unordentlichen Strähnen. Er war in Lumpen gehüllt. In der einen Hand hielt er einen blanken krummen Säbel. Der Alte hatte einen Stelzfuß und humpelte auf sie zu.
Die Milchfrau suchte unauffällig zur Gartenpforte zu gelangen.
„Ich fragte nur, Väterchen, ob Milch gefällig ist“, stammelte sie. „Du siehst ja so streng aus, Väterchen.
Du schneidest wohl das Gras mit dem Säbel?“
„Zwei Liter will ich“, brummte der Alte und stieß die Säbelspitze in die Erde. „Der Topf steht dort auf dem Tisch.“
„Kaufe dir doch lieber eine Sense, Väterchen“, schlug die Milchfrau ängstlich vor, während sie an den Tisch trat und schnell die gewünschte Milch in das bereitstehende Gefäß goß.
„Den Säbel solltest du lieber wegwerfen, Väterchen“, fuhr sie fort, „damit kannst du ja einen harmlosen Menschen zu Tode erschrecken.“
Der Alte ging nicht auf ihr aufgeregtes Geschwätz ein.
„Was kostet die Milch?“ fragte er unwirsch und griff in die Tasche seiner weiten Hose.
„Wie überall“, stotterte die Alte, „1,40 der Liter, also 2,80. Ich verlange nicht mehr, als recht ist.“