An der Wand, dicht unter dem schadhaften moosbewachsenen Dach, war ein Rad befestigt. Es sah beinahe aus wie das Steuerrad auf einem Schiff oder das Lenkrad eines Autos. Neben dem Rad war ein Telefonapparat angebracht, den sich jemand offenbar selbst konstruiert hatte.
Durch einen Spalt des Daches spähte Shenja hinaus. Das Laub der Bäume rauschte leise wie Meereswogen. Tauben flogen umher. In ihrer lebhaften Phantasie hatte sich Shenja schnell ein Bild vorgestellt: Die Tauben waren natürlich Möwen; mit all den Schnüren, Landkarten, Laternen und Fähnchen war der Dachboden ein großes Schiff. Und sie war selbstverständlich der Kapitän.
Das war lustig. Sie drehte an dem Steuerrad. Die gespannten Schnüre zitterten und summten. Heftiger Sturm peitschte die Wogen. Während sie das Steuerrad bediente, spürte Shenja förmlich, wie ihr erträumtes Schiff auf den Wellen schaukelte.
„Nach Steuerbord“, kommandierte der eifrige Kapitän laut und drehte mit aller Kraft das schwere Steuerrad.
Die Sonnenstrahlen, die schräg durch die Ritzen im Dach hereindrangen, fielen auf Shenjas Gesicht und ihren roten Sarafan. Für den Kapitän waren das natürlich Scheinwerfer der feindlichen Flotte, die nach ihrem Schiff tasteten. Der tapfere Kapitän war entschlossen, den Kampf mit dem Gegner aufzunehmen.
Mit ihren kräftigen kleinen Händen regierte Shenja das knarrende Steuerrad, manövrierte ihr Schiff nach links und gab der unsichtbaren Besatzung mit schmetternder Stimme ihre Befehle.
Die Sonnenstrahlen verblaßten. Doch für Kapitän Shenja hing das keineswegs mit dem Verschwinden der Sonne hinter den Wolken zusammen. O nein. Das feindliche Geschwader versank, von ihren Schiffsgeschützen getroffen, in den Fluten. Die Seeschlacht war siegreich beendet, und Kapitän Shenja wischte sich mit der staubigen Hand den Schweiß von der Stirn. Da klingelte plötzlich das Telefon an der Wand. Das hatte Shenja nicht erwartet. Sie hatte diesen Apparat für ein Spielzeug gehalten. Es wurde ihr ganz unheimlich. Mit einem Ruck kehrte sie in die Wirklichkeit zurück und nahm kurz entschlossen den Hörer ab.
Eine helle scharfe Stimme fragte: „Hallo, hallo, so antworten Sie doch. Was für ein Esel reißt die Drähte entzwei und gibt falsche und unverständliche Signale?“
„Hier ist kein Esel“, antwortete Shenja verstört, „hier bin ich, Shenja.“
„Närrisches Mädchen“, schrie die helle Stimme erschrocken und empört. „Laß das Rad in Ruhe und mach, daß du verschwindest. Gleich werden sie angelaufen kommen… und werden dich verprügeln.“
Sehr erschrocken ließ Shenja den Hörer fallen. Doch es war schon zu spät. Im hellen Fensterrahmen tauchte Geikas und gleich hinter ihm Sima Simakows Kopf auf. Dann kam Kolja Kolokoltschikow, und hinter ihm kletterten noch mehr Jungen herein.
„Wer seid ihr denn?“ fragte Shenja verstört. Sie trat ein paar Schritte zurück. „Macht, daß ihr fortkommt.
Das hier ist unser Garten. Ich habe euch nicht gerufen.“
Stumm, Schulter an Schulter gedrängt, kamen die Jungen näher. Shenja wich zurück. Empört schrie sie auf.
In diesem Augenblick erschien im Fensterrahmen noch ein Junge. Die andern hatten sich umgedreht und fuhren erschrocken auseinander. Auf dem blauen Sporthemd des großen dunkelhaarigen Jungen war ein roter Stern aufgenäht. Der Junge war hereingeklettert, hatte die anderen energisch beiseite geschoben und stand jetzt vor Shenja, die immer noch schrie.
„Sei still“, herrschte er sie an. „Du brauchst keine Angst zu haben.“ Und dann freundlicher: „Wir kennen uns doch. Niemand hier darf dich anrühren. Ich bin Timur.“
„Du bist Timur?“ Shenja war sehr mißtrauisch. Die weit aufgerissenen Augen voller Tränen, stand sie vor ihm. „Warst du es, der mich gestern nacht zugedeckt hat? Hast du das Telegramm für Papa an die Front aufgegeben? Hast du mir den Schlüssel und die Quittung geschickt? Weshalb hast du das alles getan? Woher kennst du mich?“
Timur war dicht an sie herangetreten und hatte sie behutsam bei der Hand genommen. Er sah sich nach den Kameraden um.
Dann antwortete er:
„Setze dich, Shenja, und höre zu. Gleich wirst du alles begreifen.“
Die Jungen hatten sich in einem Kreise um Timur auf dem mit Säcken bedeckten Strohhaufen niedergelassen. Timur hatte die Karte von der Siedlung mit den seltsamen Zeichen von der Wand genommen und sie vor sich ausgebreitet. Vor der Öffnung des Fensters hatte ein Beobachter in einer Schaukel Platz genommen. An einer Schnur um seinen Hals hing ein verbeultes Opernglas.
Shenja, die ihren Schrecken überwunden hatte, hockte sich neben Timur nieder. Mit neugierigen Blicken verfolgte sie alles, was auf der Versammlung dieses geheimnisvollen Trupps vor sich ging. Timur ergriff das Wort.
„Also hört. Morgen früh, wenn die Leute noch schlafen, werden Kolokoltschikow und ich zuerst einmal die von Shenja abgerissenen Drähte wieder zusammenknüpfen.“
„Ach, Kolja wird es bestimmt verschlafen“, behauptete Geika, der Junge im Matrosenhemd mit dem auffallend großen Kopf. „Der wacht nur zum Frühstück und zum Mittagessen auf.“
„Das ist eine gemeine Verleumdung“, verteidigte sich Kolja und stotterte dabei vor lauter Aufregung.
„Beim ersten Sonnenstrahl stehe ich auf.“
„Ich weiß nicht, was du unter dem ersten Sonnenstrahl verstehst“, beharrte Geika, „aber verschlafen wirst du es auf jeden Fall.“
Da stieß der Junge in der Schaukel plötzlich einen grellen Pfiff aus.
Die umherhockenden Kinder sprangen auf. In eine Staubwolke gehüllt, raste eine Artillerieabteilung durch den Ort. Die mächtigen Gäule, waren mit Eisenplatten geschützt. Das Lederzeug glänzte. Im raschen Trab zogen sie die schweren, mit grünem Anstrich getarnten und mit Segeltuch verhüllten Geschütze die Straße entlang.
Wie angegossen saßen die wetterharten, braungebrannten Reiter in ihren Sätteln. Und im Nu war eine Batterie nach der anderen im nahen Wäldchen verschwunden.
„Die wollen zum Bahnhof. Da werden sie verladen“, erklärte Kolja Kolokoltschikow wichtigtuerisch. „Ich kann das an ihrer Uniform sehen. Ich kann unterscheiden, ob sie zu einer Übung ausrücken oder zu einer Parade oder ob sie sonstwohin reiten.“
„Renommiere doch nicht so und halte den Mund“, schrie sein Widersacher Geika erbost. „Wir haben selber Augen im Kopf. Wißt ihr schon, Jungens, dieser Schwätzer will zur Roten Armee durchbrennen?“
„Das ist verboten“, mischte sich Timur in den Streit.
„Ein solcher Versuch wäre völlig sinnlos.“
„Verboten hin, verboten her“, schrie Kolja, ganz rot im Gesicht. „Weshalb sind denn die Jungens früher immer zur Front ausgerückt?“
„Ach, das war früher. Jetzt haben alle Kommandeure und Befehlsinhaber den strengen Auftrag, solche Jungens wie uns sofort wieder heimzuschicken.“ – „Was heißt hier heimschicken?“ Koljas Stimme überschlug sich vor Empörung. Er wurde noch röter und brüllte ganz laut: „Solche Jungens wie uns – ihre eigenen Jungens?“
„Ja, Kolja, es ist nun einmal so.“ Timur seufzte.
„Ihre eigenen Jungens! Aber jetzt zur Sache, Kameraden.“
Alle kehrten zu ihren Plätzen zurück.
„Hört zu, Jungens, im Garten des Hauses Kriwajagasse Nummer vierunddreißig haben unbekannte Jungens einen Apfelbaum geplündert“, berichtete Kolja Kolokoltschikow nun mit allen Zeichen der Entrüstung. „Sie haben die Äste abgeknickt und die Beete zertrampelt.“
„Um wessen Haus handelt es sich?“ wollte Timur wissen; er blickte in ein Wachstuchheft, das er zur Hand genommen hatte. „Um das Haus des Rotarmisten Krjukow“, wurde geantwortet. „Wo ist unser Spezialist für das Eindringen in fremde Gärten und das Äpfelstehlen?“
„Hier“, meldete sich eine schüchterne Stimme.
„Na also, wer könnte das getan haben?“
„Na, sicher Mischka Kwakin und seine Spießgesellen, der mit dem Spitznamen ‚die Latte’ immer vorneweg. Der Apfelbaum gehört zu der Sorte, die ‚Goldsaft’ genannt wird. Natürlich haben sie sich so einen ausgesucht.“
„Immer wieder dieser Lümmel, der Kwakin.“ Timur schien etwas zu überlegen. „Geika, hast du eine Auseinandersetzung mit ihm gehabt?“
„Ja.“
„Na und?“
„Ich habe ihm zweimal eine runtergehauen.“
„Und er?“
„Er hat mir auch zweimal eine runtergehauen.“
„Ach was, müßt ihr euch immer gleich prügeln? Das hat doch gar keinen Sinn. Mit dem Kwakin werden wir uns eingehender befassen. Also weiter. Was ist noch zu besprechen?“
„Aus dem Hause Nummer fünfundzwanzig ist der Sohn der alten Milchfrau zur Kavallerie eingezogen worden“, verkündete jemand aus einer Ecke.
„Na, hör mal“, Timur schüttelte mißbilligend den Kopf. „Unser Zeichen ist doch vor drei Tagen an dem Tor angebracht worden. Wer hat das gemacht? Du, Kolokoltschikow?“
„Ja, ich war es.“
„Weshalb sieht die linke Ecke des Sterns aus wie ein verunglückter Blutegel? Wenn du schon so etwas machst, dann bitte ordentlich. Über deinen Stern werden die Leute lachen. Was gibt es noch?“
Der nächste, der aufsprang, war Sima Simakow; er berichtete zungenfertig und ohne Atem zu holen: „Aus dem Hause der Puschkarewastraße Nummer vierundfünfzig ist eine Ziege verschwunden. Wie ich so vorbeikomme, sehe ich gerade, wie die Alte ihre Enkelin schlägt. Ich schreie: Tantchen, das darfst du nicht, das ist gegen die Gesetze. Da sagt sie: „‚Die Ziege ist weg.’ Und dann noch: ‚Das verfluchte Mädel ist schuld daran.’ Wohin ist diese Ziege denn gelaufen? frage ich. ‚Zum Abhang da drüben, hinter das Wäldchen. Eben hat sie noch an der Baumrinde geknabbert, und auf einmal war sie weg, als hätte sie der Wolf gefressen.’“
„Warte mal, wohin gehört die Kleine?“
„In das Haus des Rotarmisten Pawel Gurjew. Das Mädchen ist seine Tochter. Es heißt Njurka. Jedenfalls hat die Großmutter es geschlagen, aber wie die heißt, weiß ich nicht. Die Ziege ist schwarz und hat einen grauen Rücken. Sie wird Manka gerufen.“
„Diese Ziege muß gefunden werden“, entschied Timur. „Vier von euch übernehmen das, du… du, du und du! Ist das alles, Kameraden?“
„Nein“, berichtete Geika etwas unsicher. „Ich habe gehört, wie in der Nummer fünfundzwanzig ein kleines Mädchen geweint hat.“
„Weshalb hat es denn geweint?“
„Ich habe es gefragt – es hat mir aber keine Antwort gegeben.“ – „Wie alt war denn das kleine Mädchen?“
„Na, vielleicht vier Jahre.“
„So ein Pech. Wenn es schon ein richtiger Mensch gewesen wäre… aber so… erst vier Jahre alt? Wessen Haus ist das denn?“
„Das Haus gehört Leutnant Pawlow, dem, der vor kurzem an der Grenze gefallen ist.“
„Hast es gefragt – und es hat nicht geantwortet?“ wiederholte Timur offenbar unzufrieden. Sein Gesicht verfinsterte sich. Er schien zu überlegen. „Na gut – um diese Sache werde ich mich selber kümmern. Da laßt ihr die Finger davon…“
In eine Pause hinein meldete der Beobachter:
„Eben ist Mischka Kwakin drüben an der Ecke aufgetaucht. Er geht die gegenüberliegende Straßenseite entlang und kaut an einem Apfel. Timur, wir sollten einen Trupp ausschicken und ihn verprügeln.“
„Kommt nicht in Frage. Alle auf den Plätzen bleiben. Ich bin gleich zurück.“
Ohne ein Wort der Erklärung, kletterte Timur aus dem Fenster und die Leiter hinunter. Er verschwand im Gebüsch. Wieder meldete der Beobachter: „Ich sehe an der Gartenpforte ein Fräulein stehen. Es ist ein hübsches Fräulein, hat einen Krug in der Hand und kauft Milch. Wahrscheinlich ist es die Besitzerin dieses Grundstücks.“
„Ist das deine Schwester, Shenja?“ fragte Kolja Kolokoltschikow und zupfte das Mädchen am Ärmel.
Als Shenja nicht antwortete, rief Kolja drohend mit wichtiger Miene: „Sieh dich vor. Laß es dir ja nicht einfallen, sie von hier aus zu rufen.“
„Du kannst ruhig sitzen bleiben“, gab Shenja schnippisch zur Antwort und befreite sich dabei von seinem Griff. „Du bist mir ja ein schöner Kamerad!“
„Laß dich nicht mit ihr ein“, spottete Geika, „sie könnte dich sonst noch verprügeln.“
„Mich?“ Kolja war tief beleidigt. „Womit denn? Mit ihren Krallen? Ich habe Muskeln, und was für welche, da, fühlt mal… an meinen Armen… und hier, an meinen Beinen.“
„Sie wird dich mitsamt deinen Armen und Beinen unterkriegen“, hänselte Geika weiter. Doch dann stockte er und flüsterte aufgeregt: „Gebt acht, Jungens, Timur hat Kwakin beinahe erreicht.“