Die Spitze an der linken Seite hatte wirklich Ähnlichkeit mit einem verunglückten Blutegel.

Timur verbesserte die Zeichnung flink und geschickt. Er hatte offenbar Übung darin.

„Wozu dient denn das?“ fragte Shenja neugierig. „Erkläre mir doch, was das alles zu bedeuten hat.“

Timur war mit seiner Arbeit fertig; er riß ein paar Blätter von den Büschen ab und wischte damit die Farbenspritzer von seinen Fingern. Dann blickte er Shenja forschend an und begann: „Dieses Zeichen bedeutet, daß hier aus dem Hause jemand zur Roten Armee eingerückt ist. Solche Häuser stehen unter unserem Schutz. Die Jungen aus meinem Trupp müssen helfen, wo sie können. Die Bewohner dieser Häuser werden von uns betreut. Dein Vater ist doch auch bei der Armee?“ fragte er unvermittelt.

Seine geheimnisvolle Art versetzte Shenja in Erregung: „Ja, natürlich“, antwortete sie. „Er ist Offizier“, fügte sie voller Stolz hinzu.

„Dann steht euer Haus auch unter unserem Schutz. Du und deine Schwester, ihr werdet von uns bewacht“, erklärte Timur ernst.

Shenja war tief beeindruckt. Sie waren weitergegangen und blieben vor einem der nächsten Häuser stehen. Auch hier war auf dem Lattenzaun ein Stern aufgemalt. Aber er sah anders aus. Ein Rand aus schwarzer Farbe umgab ihn.

„Was bedeutet dieser Stern?“ wollte Shenja wissen.

„Auch aus diesem Hause wurde jemand eingezogen; er lebt aber nicht mehr. Das Landhaus gehörte Leutnant Pawlow, der vor kurzem an der Grenze gefallen ist. Seine Frau und sein Töchterchen wohnen hier. Es ist das kleine Mädchen, von dem Geika nicht herausbringen konnte, weshalb es weinte. Vielleicht kannst du dich um das Kind kümmern, Shenja?“

Timur berichtete dies alles ganz selbstverständlich. Obgleich es ein warmer Abend war, erschauerte Shenja; sie empfand nicht einmal, daß die Luft etwas schwül war. Sie hielt den Kopf gesenkt und schwieg. Nach einer längeren Pause fragte sie: „Ist dieser Geika eigentlich ein guter Junge?“

„Das ist er schon“, antwortete Timur. „Er ist der Sohn eines Seemannes. Sein Vater ist Matrose. Wenn er den kleinen Kolokoltschikow auch oft hänselt, weil der solch ein Prahlhans ist, so hilft er ihm doch aus der Patsche, wo er nur kann.“

In diesem Augenblick hörten sie, wie ganz in der Nähe mit strenger zorniger Stimme nach Shenja gerufen wurde. Sie fuhren herum, Olga stand dicht hinter ihnen.

Gerade als Shenja Timur bei der Hand nehmen und ihn zu Olga führen wollte, wiederholte sie mit schneidender Stimme:

„Jewgenja, du kommst augenblicklich hierher.“

Shenja zuckte ratlos die Achseln, nickte Timur hastig zu und rannte davon. Heftig atmend blieb sie vor Olga stehen.

„Jewgenja“, wiederholte Olga streng, „ich verbiete dir ein für allemal, dich mit diesem Bengel abzugeben.

Hast du mich verstanden?“

Shenja blickte ihre Schwester verstört an.

„Aber Olga“, murmelte sie, „was hast du denn nur?“

„Du hörst es ja. Ich verbiete dir, dich mit diesem Bengel sehen zu lassen“, sagte Olga in entschiedenem Ton. „Du bist dreizehn und ich bin achtzehn Jahre alt. Vergiß das nicht. Ich bin die ältere, und du hast mir zu gehorchen, das hat Papa, als er fortging, ausdrücklich befohlen. Hörst du?“

„Aber Olga“, versuchte Shenja sich noch einmal zu verteidigen. „So begreife doch… laß dir erklären…“

Shenja sah ganz verzweifelt aus. Sie zitterte, und ihre Augen standen voller Tränen. Wenn Olga sie doch nur anhören wollte. Sie würde ihr alles sagen, alles erklären… Doch dann überlegte sie. Sie konnte das ja gar nicht sagen, denn sie hatte kein Recht, das Geheimnis anderer preiszugeben. Mit einer ergebenen Handbewegung verstummte sie und beschloß, kein Wort mehr zu ihrer Entschuldigung vorzubringen.

Die Empörung über Olgas ungerechte Behandlung zitterte noch in ihr nach, während sie sich auskleidete und zu Bett ging. Sie konnte lange nicht einschlafen. Die aufregenden Erlebnisse des Tages hielten sie wach. Als sie endlich doch eingeschlummert war, hörte sie in ihrem gesunden festen Kinderschlaf gar nicht mehr, wie an das Fenster geklopft und ein Telegramm vom Vater hereingereicht wurde.

Der Morgen dämmerte. Als die alte Milchfrau das Horn des Hirten hörte, öffnete sie die Gittertür, um ihre Kuh ins Freie zu treiben, damit sie sich der Herde anschließen sollte. Kaum war sie um die Straßenecke verschwunden, als fünf Jungen, die sich hinter einer Akazie versteckt hatten, vorsprangen und zum Brunnen liefen, sie gaben sich dabei die größte Mühe, nicht mit den Wassereimern zu klappern.

„Na los, zieh“, wurde geflüstert.

„Hier, nimm den Eimer, ein bißchen dalli.“

Die Jungen hasteten mit den schweren Wassereimern über den Hof und kippten den Inhalt in den Eichentrog; das Wasser spritzte gegen ihre nackten Beine. Sie achteten nicht darauf und liefen, ohne sich aufzuhalten, zum Brunnen zurück.

Jetzt kam Timur in den Hof. Er trat zu Sima Simakow, der unermüdlich das Brunnenrad drehte.

Hastig fragte ihn Timur: „Hast du Kolokoltschikow nicht gesehen?“

Als Sima verneinte, erklärte Timur ärgerlich: „Er hat es also doch verschlafen. Die Alte wird gleich zurückkommen.“ Mit eiligen Schritten entfernte er sich.

Als er in den Garten kam, in dem Doktor Kolokoltschikows Häuschen stand, blieb er unter einem Baum stehen und stieß einen Pfiff aus. Ohne eine Antwort abzuwarten, kletterte er auf den Baum und spähte in das Zimmer, in dem Kolja schlafen mußte. Von hier oben konnte er nur die Hälfte des am Fenster stehenden Bettes sehen. Doch das genügte ihm, denn er hatte die in eine Decke gewickelten Beine erspäht.

Er warf zuerst ein Stück Baumrinde durchs Fenster und rief dabei leise: „Kolja, Kolja, du mußt aufstehen.“

DerSchlafende rührte sich nicht. Etwas ratlos blickte sich Timur um. Er durfte keinen Lärm machen. Wie aber sollte er Kolja wach kriegen? Da kam ihm ein Einfall. Er holte sein Taschenmesser hervor, schnitt einen längeren Ast vom Baume und schnitzte ihn so zurecht, daß die eine Spitze einen Haken bildete. Nun rutschte er auf dem Ast näher zum Fenster heran und angelte mit dem Stock in der Richtung auf das Bett ins Zimmer hinein, bis er mit dem Haken an der Spitze des Astes die Bettdecke zu fassen bekam und sie behutsam zu sich heranzog.

Die Decke war leicht und glitt über das Fensterbrett. Drinnen schrie jemand erstaunt auf.

Ein empörter alter Herr im Nachtgewand sprang aus dem Bett und war mit einem Satz am Fenster. Er erwischte gerade noch einen Zipfel der davongleitenden Bettdecke.

Als Timur den ehrwürdigen alten Mann erblickte, rutschte er hastig von dem Baum herab. Der empörte alte Herr warf die gerettete Decke auf das Bett und riß eine Jagdflinte von der Wand. Dann griff er nach seiner Brille, stülpte sie auf die Nase und kehrte, die Flinte im Anschlag, zum Fenster zurück. Den Lauf gen Himmel gerichtet, schoß er blindlings in die Luft.

Timur hatte schon beim Anblick der umständlichen Vorbereitungen die Flucht ergriffen. Erst beim Brunnen blieb er atemlos stehen. Zunächst versuchte er seine Gedanken zu ordnen. Was war geschehen? Hier lag offenbar ein Irrtum vor.

Er hatte den schlafenden Doktor Kolokoltschikow mit Kolja verwechselt, und der alte Doktor wiederum hatte ihn für einen Einbrecher gehalten.

Während er noch über seinen verhängnisvollen Irrtum nachsann, sah Timur die Milchfrau herankommen; sie ging mit zwei Eimern an einem Tragjoch zum Brunnen, um Wasser zu holen.

Schnell verbarg sich Timur hinter dem Stamm einer Akazie und beobachtete, was nun geschehen würde.

Die Alte ging zum Brunnen, pumpte die Eimer voll Wasser und begab sich keuchend zu dem Eichentrog. Sie setzte ihre Last nieder, hob den einen Eimer auf und kippte seinen Inhalt in den Trog, sprang aber erschrocken zurück, weil das Wasser platschend aus dem übervollen Trog herausschwappte.

Sie stieß einen Ruf des Erstaunens aus und ging zögernd um den Trog herum, dabei blickte sie sich suchend nach allen Seiten um. Schließlich tauchte sie die eine Hand ins Wasser, hielt sie an die Nase und roch umständlich daran, dann lief sie, so schnell ihre alten Füße sie tragen wollten, bis zur Pforte, um nachzusehen, ob das Schloß etwa beschädigt sei. Kopfschüttelnd blieb sie stehen. Sie wußte nicht, was sie denken sollte. Nach kurzem Überlegen faßte sie einen Entschluß und schlurfte zum Nachbarhaus. Energisch klopfte sie an eins der Fenster.

Timur lachte in sich hinein. Vorsichtig kam er aus seinem Versteck heraus. Jetzt hieß es, sich beeilen, denn schon ging die Sonne auf. Kolja hatte sich nicht blicken lassen, und die Drähte über dem Dachboden waren noch nicht in Ordnung gebracht.

Noch immer nach allen Seiten Umschau haltend, schlich sich Timur bis zu dem Schuppen. Doch dann beschloß er, zuerst nach dem Landhaus zu gehen, um zu sehen, was Shenja machte. Er spähte in das geöffnete Fenster, das zum Garten hinaus lag.

Shenja saß, nur mit einer Turnbluse und Turnhosen bekleidet, neben ihrem Bett und schrieb. Dabei strich sie sich von Zeit zu Zeit ungeduldig das Haar aus der Stirn. Als sie aufsah und Timur erblickte, erschrak sie nicht einmal. Sie legte nur warnend den Finger auf die Lippen, verbarg den angefangenen Brief in der Schublade, stand auf und schlich auf Zehenspitzen aus dem Zimmer.

Timur erwartete sie. Nachdem er Shenja rasch von seinem Mißgeschick mit Kolja berichtet hatte, war sie sofort bereit, Olgas Verbot zu mißachten und ihm bei der Reparatur der Drähte, die sie ja selber zerstört hatte, behilflich zu sein.

Nachdem sie diese Sache gemeinsam erledigt hatten und Timur bereits über den Zaun geklettert war, hielt Shenja ihn zurück.

„Ach Timur“, sagte sie, „ich weiß gar nicht, weshalb Olga so böse auf dich ist.“

Timur meinte niedergeschlagen: „Und denke nur, mit meinem Onkel ist es das gleiche.“

Er wollte sich entfernen, aber Shenja hielt ihn am Ärmel fest.

„Warte noch, Timur. Du siehst ganz struppig aus, hier, kämme dich erst einmal“, sagte sie fürsorglich.

Sie hatte aus ihrer Tasche ein Kämmchen vorgekramt und reichte es dem Jungen.

In diesem Augenblick ertönte aus dem Fenster hinter ihnen Olgas zornige Stimme:

„Shenja, was machst du da?“

Schuldbewußt wandte sich Shenja um; sie gab Timur noch durch ein Zeichen zu verstehen, er solle sich entfernen.

Dann trat sie zögernd zu Olga, die sie mit ärgerlichem Gesicht auf der Veranda erwartete.

Geduldig hörte sich Shenja Olgas Vorwürfe an, ging dann aber energisch zum Gegenangriff über.

„Was willst du eigentlich, Olga, ich kümmere mich ja auch nicht um deine Bekannten.“ Als Olga fragend die Augenbrauen hochzog, meinte sie: „Du willst wissen, welche? Das weißt du doch ganz genau. Um junge Männer in weißen Anzügen zum Beispiel… Ach, wie wunderbar deine Schwester Akkordeon spielt“, äffte sie nach. „Ganz wundervoll. Er sollte lieber mal hören, wie wunderbar du schimpfen kannst. Aber nimm dich in acht, Olga. Ich habe alles an Papa geschrieben.“

„Jewgenja, höre, was ich dir sage: Dieser Junge ist ein Tunichtgut und außerdem ein Raufbold. Das habe ich selber gesehen.“ Olga bemühte sich, ruhig und gleichgültig zu erscheinen und einen strengen Ton anzuschlagen. „An Papa kannst du schreiben, was du willst, aber wenn ich dich noch ein einziges Mal mit diesem Bengel zusammen sehe, reisen wir am gleichen Tage von hier fort, nach Moskau zurück. Du weißt, daß ich immer Wort halte, also richte dich danach.“

Shenja war in Tränen ausgebrochen. „Du bist ein Tyrann“, schluchzte sie, „ja, das weiß ich.“

„So“, sagte Olga, schon etwas besänftigt, „und nun lies das hier!“ Und sie reichte ihr das in der Nacht angekommene Telegramm und ging ins Haus.

In dem Telegramm stand: „Auf der Durchreise einige Stunden in Moskau Aufenthalt. Drahte noch Tag und Stunde. Papa.“

Dicke Tränen kullerten auf das Papier in Shenjas Händen. Doch sie trocknete sich entschlossen die Augen und murmelte nur leise: „Ach ja, Papa, komme bald. Deine Shenja hat Kummer.“

In den Hof des Hauses, aus dem die entlaufene Ziege stammte, wurde Holz eingefahren.

Die Großmutter der kleinen Ziegenhirtin Njurka schimpfte auf die Fuhrleute, die das Holz achtlos im Hof hatten herumliegen lassen. Seufzend begann sie die Scheite einzusammeln und aufzuschichten. Diese Arbeit überstieg ihre Kräfte. Sie ermüdete bald, hustete und setzte sich auf die Stufen, die zum Hause führten. Als sie sich erholt hatte, nahm sie die Gießkanne und ging in den Garten. Außer ihr befand sich noch Njurkas dreijähriges Brüderchen auf dem Hof. Der Kleine steckte offenbar voll überschüssiger Lebenskraft, denn kaum war die Großmutter aus seinem Blickfeld verschwunden, als er auch schon nach einem Knüppel griff und damit auf die Bank und ein darauf liegendes umgekehrtes Waschbecken einschlug.

Der Lärm, den diese Kraftprobe verursachte, lockte Sima Simakow, der gerade auf die vermißte Ziege Jagd machte, herbei. Als er jetzt das Getöse hörte, ließ er einen Jungen aus seinem Suchtrupp zurück und lief selber mit den übrigen zu dem Hofe. Wie ein Wirbelsturm jagten die Jungen herbei.

Zuerst mußte der Kleine beschäftigt werden. Sima steckte ihm eine Handvoll süßer Walderdbeeren in den Mund und schenkte ihm eine glänzende schwarze Dohlenfeder. Dann stürzten sich seine vier Begleiter mit Feuereifer auf die verstreut herumliegenden Holzscheite und begannen sie aufzuschichten. Sima selber lief außen am Zaun entlang, um die Großmutter zu beobachten und nötigenfalls aufzuhalten.

Im Schutze der dicht am Zaun stehenden Kirsch-und Apfelbäume blieb Sima stehen und spähte durch die Latten.


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