Da ertönte in der Dunkelheit Timurs helle Stimme.
„Mäßigt euch, Freunde. Die Gefangenen werden nicht geschlagen. Wo ist Geika?“
„Geika ist hier!“
„Bringe du die Gefangenen her.“
„Und wenn einer nicht mitkommen will?“
„Den packt ihr bei den Armen und den Beinen und schleppt ihn her. Aber behutsam – wie einen Heiligenschrein!“ Und Timur lachte.
„Laß mich los, du Teufel“, schrie eine weinerliche Stimme.
„Wer jammert denn da?“ wollte Timur wissen. „Im Streichemachen seid ihr Meister. Aber wenn es euch an den Kragen geht, dann habt ihr Schiß!“
Die Gefangenen wurden einer nach dem anderen in die leere Schusterbude am Rande des Marktplatzes gebracht. Einzeln wurden sie nicht allzu sanft durch die schmale Tür ins Innere gestoßen.
Als alle drin waren, befahl Timur: „Michael Kwakin soll vortreten.“ Es geschah.
„Sind alle da?“
„Jawohl, alle.“
Die Tür wurde geschlossen und ein schwerer Riegel vorgeschoben. Nur Kwakin war draußen geblieben. Verstört stand er vor Timur, der seinen Gegner verächtlich mit den Blicken maß. Nach einer längeren Pause fuhr er ihn an: „Du machst dich ja lächerlich, Kwakin. Keiner fürchtet dich. Du bist aber auch keinem nützlich. Hast du je etwas Gutes getan? Niemand will etwas von dir wissen… Geh!“
Kwakin, der damit gerechnet hatte, verprügelt zu werden, stand unschlüssig und mit gesenktem Kopf da.
„Du kannst gehen“, wiederholte Timur. „Hier ist der Schlüssel zur Kapelle. Hol deinen Freund Pjotr heraus.“
Doch Kwakin rührte sich nicht.
„Laß erst die andern heraus, oder sperre mich zu ihnen“, stieß er hervor.
„Nein.“ Timur lehnte ab. „Das geht nicht. Euer Spiel ist aus. Ihr werdet keine fremden Obstgärten mehr plündern. Ich werde dafür sorgen, daß die andern nicht mehr mitmachen.“
Als Kwakin einsehen mußte, daß Timur sich nicht erweichen ließ, schlich er, den Kopf in die Schultern gezogen, davon. Das Gejohle und Gepfeife und die höhnischen Zurufe des siegreichen Timur-Trupps begleiteten ihn.
Nachdem er sich etwa zehn Schritte entfernt hatte, blieb er stehen, drohte mit den geballten Fäusten und schrie: „Ich werde dich windelweich prügeln, Timur.
Mann gegen Mann. Totschlagen werde ich dich.“ Und er verschwand in der Dunkelheit.
Gleichgültig und ohne Kwakins Drohungen zu beachten, wandte sich Timur jetzt seinem Trupp zu.
„Ladygin“, rief er, „du und die fünf aus deiner Abteilung haben dienstfrei. Oder hattest du etwas vor?“
„Im Hof des Hauses Bolschaja Wassilkowskaja Nummer zweiundzwanzig müssen die Baumstämme beiseitegerollt werden.“
„Schön, dann macht euch an die Arbeit.“
Von der Eisenbahnstation her klang das Pfeifen einer Lokomotive. Der Vorortzug war eingelaufen. Timur hatte es plötzlich eilig.
„Simakow, was habt ihr vor, du und deine fünf?“
„Na, du weißt doch – Nummer achtunddreißig Malaja Petrakowskaja.“ Er lachte. „Das Übliche: Eimer nehmen – Wasser holen – Trog füllen – dalli dalli! Auf Wiedersehen.“
„Schön, dann geht an die Arbeit.“
Der Lärm aus der Schusterbude hallte über den ganzen Marktplatz. Offenbar wurde von innen gegen die Tür geschlagen. Vorübergehende, die vom Bahnhof kamen, wunderten sich, blieben stehen und lauschten. Das Klopfen wiederholte sich, drinnen wurde gerufen und geschrien. Hinter einigen Fenstern an den Nachbarhäusern wurde es hell. Im Lichtschein lasen die Menschen, die sich angesammelt hatten, an der Budentür folgende Ankündigung:
AN DIE VORÜBERGEHENDEN
Wenn Ihr drinnen Lärm hört, braucht Ihr kein Mitleid zu haben. In dieser Bude sitzen Halunken, die in der Nacht die Obstgärten friedlicher Einwohner plündern. Übrigens hängt der Türschlüssel hinter diesem Plakat. Wer aber einen unserer Gefangenen herausläßt, sollte lieber zuerst feststellen, ob nicht sein Sohn oder sein Neffe dabei ist.
Es war pechschwarze Nacht. Der am Tor angebrachte rote Stern mit dem schwarzen Trauerrand war nicht zu erkennen.
In dem Garten, der zu dem Haus gehörte, in dem Leutnant Pawlows kleine Tochter wohnte, waren leise Geräusche zu hören.
Eben ließ sich eine Gestalt von einem Baumstamm herabgleiten. An einem starken Ast waren Stricke befestigt worden, über die jetzt ein bereitliegendes Brett gelegt wurde. Dann setzte sich eine Gestalt auf das Brett, um auszuprobieren, ob die neue Schaukel auch fest sei.
Der Ast knarrte leise, die Blätter rauschten. Ein aufgeschreckter Vogel stieß einen Pfiff aus und flatterte ängstlich hin und her. Es war schon spät.
Olga schlief längst, auch Shenja schlief. Die Helden dieses Tages lagen in ihren Betten und schliefen: der lustige, immer zu Streichen aufgelegte Simakow, der schweigsame, zuverlässige Ladygin und der tolpatschige, gutherzige Kolja. Auch der tapfere Geika lag sicherlich längst im tiefen Schlaf, und die aufregenden Ereignisse des Tages verfolgten ihn in seinen Träumen.
Da schlug die Turmuhr: bim – bam… eins, zwei!… Ja, es war schon spät. Der Tag war vorüber, die Arbeit getan.
Behutsam tastete der Junge den Rasen ab, bis er einen großen Strauß Feldblumen, den er aus der Hand gelegt hatte, wiederfand. Shenja hatte ihn gepflückt.
Vorsichtig, auf Zehenspitzen, um die Schlafenden im Hause nicht zu wecken, stieg der Junge die vom Mond hell beleuchtete Treppe zur Veranda empor und legte den Strauß auf die oberste Stufe. Der Junge war Timur.
Zur Feier der Wiederkehr des Tages, an dem die Rote Armee bei Chassan einen gewaltigen Sieg errungen hatte, veranstaltete die Jugend ein großes Fest im Park.
Die Mädchen waren schon früh aufgestanden, um sich zu schmücken. Olga war dabei, sich eine frischgewaschene Bluse aufzuplätten. Nachdem das geschehen war, nahm sie Shenjas Kleider, schüttelte den Sarafan aus und legte ihn auf das Plättbrett; dabei fiel ein Zettel aus der Tasche. Sie hob ihn auf und las:
„Mädchen, du brauchst keine Angst zu haben. Alles ist in Ordnung, und ich verrate niemand etwas. Timur.“
Weshalb sollte Shenja keine Angst haben? Was war in Ordnung? Was sollte das heißen? Was für Geheimnisse hatte dieses verschlossene, immer zu Schelmenstreichen aufgelegte Mädchen? Olga bekam wieder ihr sorgenvolles Gesicht. Das mußte ein Ende haben. Vor seinem Weggehen hatte Papa ihr die kleine Schwester anvertraut… Was konnte sie nur unternehmen? Eines war sicher, sie mußte rasch und entschlossen eingreifen.
Während Olga noch in Gedanken versunken, das erkaltende Bügeleisen in der Hand, dastand, wurde ans Fenster geklopft. Sie stellte das Bügeleisen an seinen Platz, ging zum Fenster und spähte hinaus. Georgi stand draußen und winkte. Olga öffnete und wünschte ihm einen guten Morgen.
Doch er ließ sie kaum aussprechen: „Ach, Olga“, bat er, „Sie müssen mir helfen. Vorhin ist eine Abordnung zu mir gekommen, die mich gebeten hat, bei dem Fest zu singen. An einem Tage wie dem heutigen kann man so etwas schlecht abschlagen. Ich möchte Sie bitten, mich auf dem Akkordeon zu begleiten.“
Olga schien etwas verwirrt. „Ja… aber… Da wäre doch eine Klavierspielerin richtiger“, meinte sie schließlich. „Weshalb soll es denn gerade das Akkordeon sein?“
„Olga, so verstehen Sie mich doch. Ich will keine Klavierspielerin. Ich möchte von Ihnen begleitet werden. Sie spielen so gut. Das wird eine ausgezeichnete Sache. Lassen Sie doch das dumme Plätten und holen Sie ihr Akkordeon. Darf ich durchs Fenster hereinkommen?“ fragte er und hatte, ohne ihre Antwort abzuwarten, mit einem Satz das niedrige Hindernis überwunden. „So, und jetzt brauchen Sie nur zu spielen, und ich werde singen.“
Olga, deren Widerstand schon längst gebrochen war, erklärte nur noch vorwurfsvoll: „Was müssen Sie eigentlich durch das Fenster klettern, wenn eine Tür da ist?“
Im Park ging es laut und lustig zu. Ein Teil der Kurgäste kam im eigenen Auto angefahren. Lastwagen brachten Körbe mit belegten Broten, Getränken, Keks und Bonbons. Blaugestrichene Karren wurden von Speiseeisverkäuferinnen herangeschoben. Überall auf den Wiesen verstreut lagen Gruppen von Sommerfrischlern, die ihre Grammophone spielen ließen. Nun marschierte die Musik auf.
Am Eingang zum Festplatz stand ein alter Mann. Er zankte gerade mit einem Monteur, der in seiner Arbeitskleidung mitsamt seinen Schlüsseln, Schraubenziehern und Haken Einlaß begehrte.
„Mit dem Werkzeug kommt heute hier keiner durch. Es ist Feiertag. Geh mal erst nach Hause, wasch dich und ziehe dich festlich an.“
„Heute brauche ich keine Eintrittskarte. Hier ist doch alles kostenlos, Väterchen“, widersprach der Monteur, der nicht verstanden hatte, worum es ging.
„Das stimmt. Aber so kommst du nicht herein. Hättest ja noch einen Schraubstock mitbringen können“, fertigte ihn der Alte ab. „Und du, Bürger“, rief er dem nächsten Einlaßbegehrenden zu, „hier wird gesungen und nicht getrunken. Und bei dir guckt die Flasche aus der Tasche.“
„Ach, liebes Väterchen“, stotterte der Mann, „ich muß doch herein… Ich bin doch selber Tenor.“
„Unsinn. Umkehren, Herr Tenor. Nehmt euch ein Beispiel an dem hier.“
Er wies auf den Monteur.
„Der ist brav und gehorcht. Mach du es ebenso.“ Inzwischen waren die Festteilnehmer von allen Seiten herangekommen und hatten ihre Plätze eingenommen. Dichtgedrängt saßen die Zuschauer auf den Bänken und warteten auf die Darbietungen. Shenja, die von einigen Jungen erfahren hatte, Olga sei mit ihrem Akkordeon in Georgis Begleitung hinter die Bühne gegangen, saß ungeduldig zwischen ihnen. Sie war so aufgeregt, daß sie die ersten Vorführungen kaum beachtete, doch als Olga und Georgi endlich auf der Bühne standen, klopfte ihr Herz zum Zerspringen. Wenn Olga sich nur nicht blamierte! Wenn nur keiner ihre Schwester auslachte! Sie beruhigte sich erst, als alles still blieb und alle aufmerksam lauschten.
Wie Olga und Georgi unbefangen, jung und strahlend auf den Brettern der rohgezimmerten Bühne standen, wirkten sie so anziehend, daß Shenja am liebsten aufgesprungen und auf die Bühne geeilt wäre, um ihrer Schwester um den Hals zu fallen.
Nun setzte sich Olga, warf den Riemen des Instruments über die Schulter und begann zu spielen. Inzwischen schien mit Georgi, der neben ihr stand, eine seltsame Veränderung vorgegangen zu sein.
Seine Gestalt war zusammengeschrumpft, er senkte den Kopf, tiefe Falten gruben sich in seine Stirn; ein gebeugter alter Mann stand auf der Bühne und sang mit bebender Stimme:
„Keinen Schlaf fand ich die dritte Nacht!
Lausche in die Finsternis und Stille!
Wie vor zwanzig Jahren auf der Wacht
lebt und brennt in mir der heiße Wille,
als ergrauter Greis für dich zu streiten.
Sind die Jugendjahre auch verflogen,
seit ich mutig in den Kampf gezogen.
Heimat, Frieden will ich dir bereiten!“
Shenja war ehrlich erschüttert. Ach, wie schön, dachte sie, und wie gut hat er gesungen. Ein Prachtkerl ist dieser Alte! Und Olga hat wunderbar gespielt. Nur schade, daß Papa sie nicht hören konnte.
Nachdem die beiden geendet hatten, erhob sich brausender Beifall; Shenja war auf die Bank gesprungen und klatschte wie wild.
Als der Sänger und die Akkordeonspielerin nach der Vorstellung die Allee entlanggingen, sagte Olga: „Es war wunderschön. Doch eines macht mir Sorge, wo mag Shenja stecken?“
„Ich habe sie auf der Bank stehen und Beifall klatschen sehen“, antwortete Georgi. „Sie schien begeistert und schrie bravo. Und dann kam…“ Georgi wurde rot und hielt inne.
Olga blickte ihn fragend an. „Wer kam?“
„Ach… irgendein Junge… Und weg waren sie…“, stotterte der sonst so gelassene und selbstsichere Georgi.
„Was war das für ein Junge?“ Olga war ernstlich beunruhigt.
„Georgi, ich möchte Sie längst etwas fragen. Sie sind älter und reifer als ich. Shenja macht mir Sorge, und ich weiß nicht, was ich tun soll. Hier, sehen Sie, heute morgen habe ich in ihrer Kleidertasche diesen Zettel gefunden.“
Georgi nahm den Zettel. Als er ihn gelesen hatte, sah er sehr nachdenklich aus. Nach einer kurzen Pause sagte er: „Ich weiß auch nicht recht, was das bedeuten soll. Jedenfalls will ich mir den Bengel bei Gelegenheit vornehmen.“
Olga steckte den Zettel wieder in die Tasche; sie gingen eine Weile schweigend nebeneinander her. Die Musik spielte lustige Weisen. Die Menschen ringsumher waren fröhlich; es wurde laut und viel gelacht. Nur die beiden jungen Menschen schienen etwas bedrückt. Unwillkürlich fanden sich ihre Hände und so schritten sie die schattige Allee entlang.
An einer Biegung begegnete ihnen ein anderes Paar, das sich ebenfalls bei den Händen hielt. Es waren Shenja und Timur.
Die vier jungen Menschen waren so überrascht, daß sie einander im Vorübergehen nur höflich grüßten.
„Das war er“, flüsterte Olga, „das war der Junge, der den Zettel geschrieben hat.“ Georgi war verwirrt.
„Dieser Junge“, sagte er, „ist Timur, mein eigener Neffe.“
„Und du… und Sie wußten das“, rief Olga empört.
„Weshalb haben Sie mir nichts davon gesagt?“
Heftig entwand sie sich seiner Hand und lief hinter den beiden her, die Allee entlang. Doch weder Timur noch Shenja waren zu sehen. Ratlos blickte sich Olga um. Dann bog sie kurz entschlossen in einen schmalen Seitenpfad ein. Nach einigen Schritten traf sie auf Timur, er war nicht allein, Kwakin und die Latte standen vor ihm, von Shenja keine Spur.
Olga ließ sich nicht abschrecken. Sie trat dicht an Timur heran und erklärte mit erregter Stimme: „Es genügt dir wohl noch nicht, in fremden Gärten herumzulungern, Obst zu stehlen, alte Frauen zu erschrecken und verwaiste kleine Mädchen zum Weinen zu bringen? Jetzt mußt du dich auch noch an mein Schwesterchen heranmachen und es gegen mich aufhetzen. Und du willst ein Jungkommunist sein? Ein Tunichtgut bist du, ein Schuft!“
Timur war sehr blaß geworden. Er zitterte am ganzen Leibe, wagte aber nicht, sich in Kwakins Gegenwart zu verteidigen, und erwiderte nur leise:
„Das ist ja alles nicht wahr. Sie sind falsch unterrichtet.“
Er wollte weitersprechen, aber Olga schnitt ihm mit einer Handbewegung das Wort ab. „Schweige“, rief sie. „Ich will jetzt nach Shenja suchen.“
Timur war ganz verstört stehengeblieben. Dieser plötzliche Angriff hatte ihm die Sprache verschlagen.
Aber auch Kwakin und die Latte schienen sehr bestürzt und schwiegen.
Nachdem Olga hinter den Büschen verschwunden war, kam Kwakin als erster zu sich. Bedauernd fragte er: „Na, Kommissar, das hat dir wohl die Petersilie verhagelt?“
Timur war sehr niedergeschlagen. Er blickte auf und sagte: „Ach ja, Ataman, das hat mir gerade noch gefehlt. Lieber hätte mich deine Bande gefangennehmen und verprügeln sollen, als daß ich euretwegen so etwas zu hören bekomme und dazu schweigen muß.“