„Weshalb hast du denn geschwiegen?“ fragte Kwakin, der offenbar Oberwasser bekam. „Du hättest ganz einfach sagen sollen: Ich bin das nicht gewesen, die hier waren es. Wir standen doch daneben.“
„Ja, das hättest du sagen sollen“, mischte sich die Latte ein. „Wie wir dir das später heimgezahlt hätten, gehört auf ein anderes Blatt.“
Kwakin, der eine solche Unterstützung gar nicht erwartet hatte, blickte seinen Kameraden kalt und stumm an. Timur antwortete nicht. Gesenkten Hauptes ging er langsam davon und ließ im Gehen die Zweige durch die Finger gleiten.
„Ist der aber stolz“, sagte Kwakin leise. „Hast du nicht gemerkt, daß er beinahe losgeheult hätte? Er sagt kein Wort und geht.“
„Wir werden ihn schon noch zum Weinen bringen“, prahlte die Latte und wollte Timur nachgehen. Doch Kwakin hielt ihn zurück.
„Er ist stolz“, wiederholte er, „aber du bist ein ganz schlechter Kerl.“ Und ehe die Latte es sich versah, hatte Kwakin ausgeholt und ihm einen Faustschlag gegen die Stirn versetzt, daß er zurücktaumelte.
Zuerst war Pjotr bestürzt, doch dann brüllte er zornig los und rannte davon. Kwakin holte ihn ein und versetzte ihm noch ein paar heftige Rippenstöße. Dann blieb er stehen, hob seine zu Boden gefallene Mütze auf, schlug sich damit über das Knie, trat an den nächsten Eisverkäufer heran und kaufte sich eine Portion Eis. Schwer atmend, lehnte er sich gegen einen Baumstamm und lutschte gierig.
Auf der Festwiese, neben der Schießbude, fand Timur seine Kameraden Geika und Sima.
Als Sima seiner ansichtig wurde, trat er dicht an ihn heran und flüsterte: „Timur, du wirst von deinem Onkel gesucht, ich glaube, er ist sehr wütend auf dich.“
Zu Geikas Verwunderung antwortete Timur gelassen: „Ja, ja, ich gehe schon, ich weiß Bescheid.“
„Kommst du wieder hierher?“ wollte Sima wissen.
„Das weiß ich nicht“, antwortete Timur unentschlossen.
In einer ungewohnten Anwandlung von Weichheit nahm Geika die Hand seines Kameraden und sagte:
„Tima, was ist denn geschehen? Du bist ja so merkwürdig. Denke daran, wir haben nie etwas Schlechtes getan, und du weißt doch, wenn der Mensch im Recht ist…“
„Ja, ich weiß… dann fürchtet er nichts auf der Welt. Aber weh tut es ihm doch, wenn er ungerecht angegriffen wird.“
Mit diesen etwas rätselhaften Worten entfernte sich Timur.
Auf dem Heimweg traf Shenja auf Olga, die ihr Akkordeon nach Hause trug.
Schon von weitem schrie Shenja: „Olga, Olga!“
„Laß mich in Ruhe“, antwortete Olga ungehalten, ohne ihre Schwester anzusehen. „Ich rede nicht mit dir. Ich fahre jetzt nach Moskau, und du kannst dich herumtreiben, mit wem du willst.“
„Aber Olga!“ Shenja war ganz verstört. Doch Olga schien unerbittlich.
„Du hörst doch, ich rede nicht mehr mit dir. Mache dich bereit, wir fahren übermorgen beide nach Moskau zurück und werden dort auf Papa warten.“
Jetzt brach Shenja in Tränen aus.
„Ach, wenn Papa nur hier wäre, ich würde ihm alles sagen. Aber dir nicht.“ Und zornig wandte sich Shenja ab. Sie lief davon, um Timur zu suchen.
Auf dem Wege begegneten ihr Geika und Simakow.
„Wo ist Timur?“ wollte Shenja wissen.
„Er mußte nach Hause gehen“, sagte Geika. „Sein Onkel ist deinetwegen sehr böse auf ihn.“
Unvermittelt bekam Shenja einen Wutanfall. Sie stampfte heftig mit dem Fuße auf und schrie: „Was für eine Ungerechtigkeit, einen Menschen so mir nichts, dir nichts zu beschuldigen!“
Erschöpft und tränenüberströmt lehnte sie sich an einen Birkenstamm. So fanden sie Tanja und Njurka, die herbeigesprungen kamen. Schon von weitem rief Tanja: „Shenja, kommst du mit uns? Ein Harmonikaspieler ist gekommen. Es wird getanzt. Komm doch mit.“
Und sie zogen Shenja mit sich fort in den Kreis der Mädchen, deren grellbunte Kleider, Blusen und Sarafane wie Blumen auf einer Wiese leuchteten.
„Was weinst du denn, Shenja?“ tröstete Njurka.
„Ich weine nicht einmal, wenn mich die Großmutter schlägt. Kommt tanzen… kommt in den Kreis.“
Sie durchbrachen die Kette und begannen sich im lustig wirbelnden Tanze zu drehen.
Auch Shenja hatte bald ihren Kummer vergessen und nahm fröhlich an den Spielen teil.
Als Timur zu Hause anlangte, wurde er von seinem jungen Onkel mit ungewohnt strenger Miene in Empfang genommen.
Ohne jede Einleitung begann Georgi: „Ich habe deine nächtlichen Abenteuer satt, Timur. Der Unfug mit den Signalen, den Klingelzeichen, dem Alarm und all dem Hokuspokus muß aufhören. Und jetzt erkläre mir erst einmal, was ist das für eine merkwürdige Geschichte mit Doktor Kolokoltschikows Schlafdecke?“
Timur errötete. „Das war ein Irrtum“, sagte er.
„Ein schöner Irrtum! Alten Herren ihre Schlafdecken vom Leibe zu reißen! Er hätte dich gehörig verbleuen sollen. Und noch eins, Timur. Du läßt dieses Mädchen, die Shenja, in Ruhe. Ihre Schwester Olga will nichts von dir wissen.“
„Weshalb denn nicht?“
„Das weiß ich nicht. Doch du hast bestimmt schuld. Was schreibst du für geheimnisvolle Zettel? Was sollen diese Begegnungen beim Morgengrauen im Garten? Olga sagte mir, du brächtest diesem Mädchen nur Dummheiten bei!“
„Das ist nicht wahr“, empörte sich Timur. „Und dabei ist Olga auch Jungkommunistin. Wenn ihr etwas nicht klar war, so hätte sie mich ja fragen können. Ich kann auf alles eine befriedigende Antwort geben.“
„Das mag sein. Aber vorerst verbiete ich dir, dich dem Hause, in dem Olga und Shenja wohnen, zu nähern. Wenn du mir nicht gehorchst, mußt du zu deiner Mutter zurück.“
Er wollte sich entfernen, aber Timur hielt ihn zurück.
„Onkel Georgi“, fragte er, „als Sie ein Junge waren, womit haben Sie sich beschäftigt?“
„Ich? Was für eine dumme Frage! Wir sind herumgelaufen, sind auf Bäume und Dächer geklettert, wir haben uns auch manchmal geprügelt. Aber unsere Spiele waren nicht geheimnisvoll, sondern allen verständlich, und des Nachts lagen wir in unseren Betten und schliefen.“
Um Shenja zu strafen, war Olga auf einen etwas verzweifelten Einfall gekommen. Sie war, ohne ihrer Schwester ein Wort davon zu sagen, noch am gleichen Abend nach Moskau gefahren.
Da sie nicht wußte, was sie mit sich anfangen sollte, und die leere Wohnung unbehaglich war, fuhr sie nicht nach Hause, sondern ging zu ihrer Freundin, blieb, bis es dunkelte, bei ihr und kehrte erst um zehn Uhr abends heim.
Sie schloß die Wohnungstür auf, knipste das Licht an und zuckte erschrocken zusammen. Am Boden lag ein Telegramm. Olga nahm es auf und las. Es war eine Nachricht vom Vater.
Erst am späten Abend, als das Fest bereits zu Ende war und die Bänke, die Körbe und die Verkaufsbuden auf Lastwagen abgefahren worden waren, ging Shenja nach Hause; Tanja begleitete sie. Die Mädchen wollten noch Ball spielen, und Shenja ging, um ihre Turnschuhe zu holen.
Sie hatte sie eben fertig zugeschnürt, als die Witwe des Fliegeroffiziers bei ihr eintrat. Sie hielt das schlafende kleine Mädchen in ihren Armen.
Als Shenja ihr sagte, Olga sei noch nicht zu Hause, schien die junge Frau enttäuscht.
„Ich wollte Ihnen mein Töchterchen anvertrauen, ich muß meiner Mutter nach Moskau entgegenfahren…“, sagte sie. „Ihr Zug kommt heute nacht an. Ich wußte ja nicht, daß Ihre Schwester nicht zu Hause ist.“
„Lassen Sie die Kleine ruhig hier“, sagte Shenja.
„Ob Olga da ist oder nicht, ist doch gleich. Oder haben Sie zu mir kein Vertrauen? Legen Sie das Kind dort auf mein Bett. Ich werde mich in das andere Bett legen.“
Die junge Mutter war einverstanden. „Die Kleine schläft sehr fest und wird bestimmt erst morgen früh aufwachen. Man muß nur hin und wieder nachsehen, ob sie sich nicht aufgedeckt hat.“
Mit Shenjas Hilfe wurde das kleine Mädchen entkleidet und zu Bett gebracht. Dann entfernte sich die junge Frau. Shenja warf noch einen Blick auf das schlafende Kind; dann lief sie zum Fenster und zog die Gardine auf, damit sie von draußen das Bett sehen konnte. Sie schlug die Tür zur Terrasse hinter sich zu und rannte davon, um mit Tanja Ball zu spielen. Die Mädchen verabredeten, abwechselnd zum Fenster zu gehen und nach dem Kinde zu sehen; aber über dem Ballspiel hatten sie alles übrige bald vergessen.
Sie waren kaum fortgegangen, als der Postbote die Treppe heraufkam. Er klopfte lange vergeblich, und da ihm niemand öffnete, ging er zu den Nachbarn und fragte, ob die Alexandrow-Mädchen wohl zur Stadt gefahren seien, doch der Nachbar meinte, er habe Shenja eben noch gesehen und wolle gern das Telegramm für sie in Empfang nehmen. Der Postbote war einverstanden und entfernte sich. Nachdem der Nachbar das Telegramm in die Tasche gesteckt hatte, setzte er sich auf eine Bank, zündete seine Pfeife an und wartete auf Shenja.
Es mochten wohl anderthalb Stunden vergangen sein, als der Postbote von neuem auftauchte. Als er des Nachbarn ansichtig wurde, rief er:
„Es scheint zu brennen. Ich habe schon wieder ein Telegramm.“
Auch dieses Telegramm nahm der Nachbar in Empfang. Durch das lange Fernbleiben der beiden Mädchen nun doch etwas beunruhigt, stieg er die Stufen zur Veranda empor und spähte durch das Fenster ins Zimmer hinein. Er sah das schlafende kleine Mädchen, neben ihm auf dem Kissen hatte sich das rotbraune Kätzchen zusammengerollt. Die Bewohner des Hauses konnten also nicht weit sein. Vorsichtig stieß der Nachbar das Fenster auf und legte die beiden Telegramme auf das Fensterbrett. Shenja mußte sie bei ihrer Rückkehr sogleich bemerken.
Doch als Shenja nach Hause kam, machte sie gar nicht erst Licht, sah nur nach dem Kinde, das sich bloßgestrampelt hatte, deckte es behutsam zu, hob das Kätzchen vom Kissen und setzte es vor die Tür; dann legte sie sich schlafen. Noch lange lag sie da und grübelte. Sie vermutete, daß Olga nach Moskau gefahren sei. Wie ungerecht ging es doch im Leben zu. In dieser ganzen Angelegenheit traf sie keine Schuld. Es handelte sich bei Olga offenbar um ein Mißverständnis; und nun hatte sie sich zum erstenmal ernstlich mit ihr entzweit. Natürlich machte sich Shenja Gedanken darüber, wo Olga sein mochte. Die ganze Angelegenheit bedrückte sie sehr. Der Schlaf wollte nicht kommen, statt dessen verspürte Shenja ein Hungergefühl. Sie beschloß, eine Semmel mit Marmelade zu essen. Kurz entschlossen sprang sie aus dem Bett, knipste das Licht an und trat zu dem Schrank. Da bemerkte sie die Telegramme auf dem Fensterbrett.
Sie erschrak heftig. Mit bebenden Fingern riß sie die Telegramme auf und las. In dem ersten stand: Ankomme heute nacht zwölf Uhr stop bleibe bis drei Uhr morgens stop erwartet mich in der Stadtwohnung stop Papa. Das zweite kam von Olga und lautete: Sofortige Abreise notwendig stop Papa wird heute nacht in der Stadt sein stop Olga.
Bestürzt sah Shenja nach der Uhr. Es war ein Viertel vor zwölf. Hastig zog sie das Kleid über, ergriff das schlafende Kind und rannte, ohne zu überlegen, zur Treppe. Doch dann blieb sie zögernd stehen. Nach kurzem Nachdenken kehrte sie in das Zimmer zurück, legte das Kind wieder auf das Bett und lief auf die Straße hinaus zum Hause der alten Milchfrau. Mit den Fäusten trommelte sie so lange gegen die Tür, bis der Kopf der Nachbarin im Fenster auftauchte.
„Wer lärmt denn da?“ fragte sie verschlafen. „Was soll der Unfug?“
„Ich bin es, Shenja, und es ist kein Unfug“, kam die verzweifelte Antwort. „Bist du es, Tante Maschka, ich muß das Kind bei dir lassen.“
„Was erzählst du da für Märchen?“ fragte die Nachbarin. „Die Milchfrau ist heute morgen aufs Dorf zu ihrem Bruder gefahren.“ Ungehalten schloß sie das Fenster.
Nun war guter Rat teuer. Vom Bahnhof ertönte der Pfiff des herannahenden Zuges. Völlig kopflos geworden, lief Shenja die Straße entlang und stieß im Dunkeln mit einem Manne zusammen; es war Doktor Kolokoltschikow.
Als Shenja ihn erkannte, stotterte sie: „Ach, entschuldigen Sie, was ist das für ein Zug?“
Der alte Kavalier zog seine Uhr. „Das ist der letzte Zug nach Moskau, 23 Uhr 55 Minuten.“
„Der letzte“, flüsterte Shenja ganz entgeistert und versuchte die aufsteigenden Tränen zu unterdrücken.
„Und wann fährt der nächste?“
„Der nächste fährt morgen früh um drei Uhr vierzig. Was ist dir denn, Mädchen“, fragte der Alte und legte den Arm um Shenjas Schulter. „Du weinst ja. Kann ich dir irgendwie helfen?“
„Ach nein“, schluchzte Shenja und riß sich los. „Mir kann jetzt niemand auf der Welt helfen.“
Zu Hause angelangt, warf sie sich aufs Bett und preßte den Kopf in die Kissen. Nachdem sie sich gehörig ausgeweint hatte, sprang sie wieder auf und warf einen ärgerlichen Blick auf das schlafende Kind. Doch dann schämte sie sich dieser Regung, trat zu dem Bett, glättete die Decke und jagte das rotbraune Kätzchen, das sich wieder hereingeschlichen hatte, vom Kopfkissen. Dann schaltete sie auf der Veranda, in der Küche und im Zimmer das Licht ein und setzte sich resigniert auf das Sofa. Lange Zeit saß sie da und dachte an gar nichts. Zufällig berührte sie das Akkordeon, das auf dem Sofa liegengeblieben war. Mechanisch nahm sie es auf den Schoß und drückte auf die Tasten. Erst schlug sie einige zusammenhanglose Töne an, die sich schließlich zu einer melancholischen Melodie vereinten. Nach einer Weile unterbrach Shenja das Spiel, legte das Instrument zur Seite und trat zum Fenster. Ihre Schultern bebten. Die aufsteigenden Tränen schnürten ihr die Kehle zusammen. Nein, es war zu schwer, hier allein zu sitzen mit dieser Qual. Sie zündete eine Kerze an und ging mit zögernden, unsicheren Schritten durch den Garten zu dem alten Schuppen. Dort stand noch die Leiter an der Mauer. Behutsam das Licht vor dem Winde schützend, kletterte sie hinauf. Nun war sie auf dem Dachboden. Alles war noch so, wie sie es zuletzt gesehen hatte: die Schnüre, die Landkarten, die Flaggen, die Säcke auf dem Fußboden.