Zehn

Im Anflug auf Delta Pavonis

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Volyova saß allein auf der Brücke — einem riesigen, kugelförmigen Raum — unter der holografischen Projektion des Resurgam-Systems. Wie die leeren Plätze ringsum war auch ihr Sitz an einem langen Teleskoparm mit vielen Gelenken angebracht und ließ sich damit praktisch an jeden Punkt der Kugel steuern. Sie hatte den Kopf in die Hand gestützt und starrte nun schon seit Stunden so fasziniert auf das Hologramm des Sternensystems wie ein Kind auf ein glänzendes Spielzeug.

Delta Pavonis schwebte, eine rötlichwarme Bernsteinperle, in der Mitte. Ihre elf großen Planeten umkreisten sie in maßstabsgetreuen Abständen auf ihren jeweiligen Bahnen; Asteroidenschutt und Kometentrümmer bewegten sich auf eigenen Ellipsen; das ganze System war umgeben von einem zarten Kuiper-Gürtel aus eisigem Strandgut; der Neutronenstern, Pavonis’ schwarzer Zwilling, verschob durch seine enorme Gravitation ein wenig die Symmetrie. Das Hologramm war nicht so sehr eine Vergrößerung dessen, was vor ihnen lag, als eine Simulation. Die Schiffssensoren waren empfindlich genug, um selbst auf diese Entfernung Daten zu erfassen, aber das Bild wäre durch relativistische Effekte verzerrt worden und — schlimmer noch — es wäre ein Schnappschuss des Systems vor mehreren Jahren gewesen. Die relativen Positionen der Planeten hätten keinerlei Ähnlichkeit mit der aktuellen Konstellation gehabt. Da die Anflugstrategie des Schiffes entscheidend darauf beruhte, die größeren Gasriesen des Systems zur Tarnung und zur Schwerkraftbremsung zu nützen, musste Volyova wissen, wo sich die Himmelskörper bei ihrer Ankunft befinden würden, nicht wo sie vor fünf Jahren gewesen waren. Und das war nicht der einzige Grund. Lange bevor das Schiff das Resurgam-System erreichte, schickte es bereits unsichtbare Boten voraus, und auch deren Flug musste optimal auf die Planetenkonstellation abgestimmt werden.

»Kiesel freisetzen«, sagte sie, als sie glaubte, genügend Simulationen durchgespielt zu haben. Folgsam schoss die Unendlichkeit tausend der winzigen Sonden ab. Der Schwarm entfernte sich vom Bug des abbremsenden Schiffes und zog sich langsam auseinander. Volyova sprach einen Befehl in ihr Armband, und vor ihr öffnete sich ein Fenster, das ihr den Blick einer Kamera am Rumpf zeigte. Die ganze Kieselschar verschwand wie von einer unsichtbaren Kraft gezogen in der Ferne. Die Wolke wurde immer kleiner, bis Volyova endlich nur noch einen verschwommenen Fleck sah, der rasch schrumpfte. Die Kiesel flogen knapp unter Lichtgeschwindigkeit und würden das Resurgam-System Monate vor dem Schiff erreichen. Bis dahin hatte sich der Schwarm über Resurgams Orbit um die Sonne hinaus verteilt. Jede der winzigen Sonden würde sich auf den Planeten ausrichten, Photonen aus dem gesamten elektromagnetischen Spektrum einfangen und die Daten mit einem stark gebündelten Laserstrahl zum Schiff zurückschicken. Jede einzelne Sonde erfasste nur einen winzigen Ausschnitt, aber wenn man die Ergebnisse zusammenfügte, entstand ein sehr scharfes und detailreiches Bild von Resurgam. Zwar ließ sich daraus nicht entnehmen, wo Sylveste sich aufhielt, aber Sajaki bekäme immerhin eine Vorstellung, wo die Machtzentren auf dem Planeten zu vermuten waren und — wichtiger noch — in welchem Umfang man dort womöglich imstande wäre, Verteidigungsmaßnahmen auf die Beine zu stellen.

Denn in diesem Punkt waren sich Sajaki und Volyova vollkommen einig gewesen. Selbst wenn sie Sylveste fanden, war kaum damit zu rechnen, dass er freiwillig an Bord kommen würde.

»Wissen Sie, was aus Pascale geworden ist?«, fragte Sylveste.

»Sie ist in Sicherheit«, sagte der Augenarzt, der ihn durch enge Felsentunnel in Mantells Tiefen führte. »Das habe ich zumindest gehört«, fügte er hinzu und schwächte damit Sylvestes Zuversicht. »Aber ich könnte mich auch irren. Ich glaube nicht, dass Sluka sie töten ließe, ohne einen triftigen Grund zu haben, aber möglicherweise hat man sie eingefroren.«

»Eingefroren?«

»So lange, bis man etwas mit ihr anfangen kann. Sie haben inzwischen sicher gemerkt, dass Sluka langfristig plant.«

Wellen von Übelkeit brandeten über Sylveste hinweg. Seine Augen schmerzten, aber wenigstens konnte er sehen. Damit tröstete er sich immer wieder. Sehen zu können war ein Fortschritt. Ein Blinder war machtlos und musste im Grunde tun, was man ihm sagte. Eine Flucht mochte auch jetzt noch unmöglich sein, aber zumindest brauchte er nicht mehr so würdelos umherzustolpern. Wobei sein Sehvermögen so schwach war, dass sich das primitivste Urtier dafür geschämt hätte. Räumliche Tiefe konnte er nur unzuverlässig wahrnehmen und Farbe gab es in seiner Welt lediglich als verschiedene Nuancen von Graugrün.

Er musste sich ganz auf seine Erinnerungen verlassen.

Er hatte Mantell seit der Nacht des Umsturzes vor zwanzig Jahren nicht mehr gesehen. Des ersten Umsturzes, verbesserte er sich. Seit Girardieu seinerseits abgesetzt war, hatte Sylveste sich angewöhnt, seine eigene Entthronung als historisches Ereignis zu betrachten. Girardieus Regierung hatte die Station nicht sofort geschlossen, obwohl die Erforschung der Amarantin im Widerspruch zum Programm der Fluter stand. Nach dem Umsturz hatte man die Arbeiten fünf oder sechs Jahre lang weiterlaufen lassen, aber einen von Sylvestes fähigsten Archäologen nach dem anderen nach Cuvier zurückbeordert und durch Öko-Ingenieure, Botaniker und Spezialisten für Geothermalenergie ersetzt. Schließlich wurde Mantell nur noch als Experimentalstation mit minimaler Besetzung geführt, große Teile wurden eingemottet oder verwahrlosten. Dabei wäre es wohl geblieben, doch dann tauchten Schwierigkeiten von anderer Seite auf. Schon seit Jahren kursierten Gerüchte, wonach die Führer des Wahren Weges in Cuvier, Resurgam City oder wie die Stadt sonst noch genannt wurde, von außerhalb gesteuert würden, von einer Clique ehemaliger Girardieu-Anhänger, die bei den Intrigen im Vorfeld des ersten Umsturzes den Kürzeren gezogen hatten. Diese ›Briganten‹ hatten angeblich mit Hilfe biotechnischer Verfahren, die sie Captain Remilliod abgekauft hatten, ihren Organismus so weit modifiziert, dass sie die staubige, sauerstoffarme Atmosphäre außerhalb der Kuppeln atmen konnten.

Solche Geschichten waren nicht neu. Doch nach den ersten Überfällen auf eine Reihe von Außenposten gewannen sie sehr an Überzeugungskraft. Sylveste wusste, dass man Mantell irgendwann aufgegeben hatte, das hieß, die derzeitigen Bewohner waren nicht erst seit Girardieus Ermordung eingezogen, sondern hausten hier vielleicht schon seit Monaten oder gar seit Jahren.

Jedenfalls gebärdeten sie sich wie die Herren im Haus. Sylveste wusste, dass der Raum, den er und der Arzt schließlich betraten, derselbe war, in dem ihn Gillian Sluka nach seiner Gefangennahme — wann immer das gewesen sein mochte — empfangen hatte. Aber er erkannte ihn nicht wieder: durchaus möglich, dass er während seiner Tätigkeit in Mantell hier wie zu Hause gewesen war, jetzt gab es keine Anhaltspunkte mehr, die ihm hätten helfen können. Die Ausstattung und die Möbel — soweit vorhanden — waren vollständig ersetzt worden. Sluka stand mit dem Rücken zu ihm neben einem Tisch und hatte die behandschuhten Hände in die Hüften gestemmt. Sie trug eine weite, knielange Jacke mit ledernen Schulterstücken in einer Farbe, die seine Augen als schmutziges Olivgrün wiedergaben. Das Haar hing ihr zum Zopf geflochten auf den Rücken.

Entoptische Figuren projizierte sie nicht. Zu beiden Seiten des Raums schwebten Planetenkugeln über schlanken Schwanenhalssockeln. Die Decke strahlte eine tageslichtähnliche Helligkeit aus, der seine Augen jede Wärme entzogen.

»Bei unserem ersten Gespräch nach Ihrer Gefangennahme«, begann sie mit ihrer heiseren Stimme, »hatte ich fast den Eindruck, als wüssten Sie nicht, wo Sie mich unterbringen sollten.«

»Ich hatte Sie immer für tot gehalten.«

»Den Eindruck wollten Girardieus Leute auch erwecken. Die Geschichte, unser Schlepper sei unter einem Erdrutsch begraben worden — eine einzige Lüge! Wir wurden angegriffen — sie dachten natürlich, Sie wären bei uns.«

»Warum haben sie mich dann nicht später an der Ausgrabungsstätte getötet?«

»Weil sie inzwischen begriffen hatten, dass Sie lebend nützlicher waren. Girardieu war kein Dummkopf — er hat immer Gewinn aus Ihnen gezogen.«

»Wenn Sie die Grabung nicht verlassen hätten, wäre das alles nicht passiert. Wie haben Sie eigentlich überlebt?«

»Einige von uns konnten aus dem Schlepper fliehen, bevor Girardieus Schergen kamen. Wir nahmen an Geräten mit, so viel wir tragen konnten, und schlugen uns bis zu den Bird’s Claw-Canyons durch. Dort stellten wir aufblasbare Zelte auf. Aus einem solchen Zelt kam ich ein volles Jahr nicht mehr heraus. Ich wurde bei dem Angriff ziemlich schwer verletzt.«

Sylveste strich mit den Fingern über die fleckige Oberfläche einer der Kugeln auf den schlanken Sockeln. Erst jetzt sah er, dass es sich um topografische Darstellungen von Resurgam in verschiedenen Phasen des Terraformungs-Programms der Fluter handelte. »Warum sind Sie nicht zu Girardieu nach Cuvier gegangen?«, fragte er.

»Jemanden wie mich wollte er nicht zu seinen Schäfchen zählen, das war ihm peinlich. Er ließ uns nur deshalb am Leben, weil er uns nicht töten konnte, ohne Aufsehen zu erregen. Es gab gewisse Verbindungen, aber die rissen ab.« Sie hielt inne. »Zum Glück hatten wir einige von Remilliods Spielereien mitgenommen. Die Scavenger-Enzyme waren am nützlichsten. Jetzt kann uns der Staub nichts mehr anhaben.«

Wieder studierte Sylveste die Kugeln. Dank seines mangelhaften Sehvermögens konnte er die Farben der Planetenlandschaften nur erahnen, aber man konnte davon ausgehen, dass die Kugeln eine stetige Entwicklung in Richtung Blau-Grün zeigten. Wo jetzt Hochplateaus aufragten, sollten Landmassen inmitten von Ozeanen entstehen. Die Steppen sollten unter dichten Wäldern verschwinden. Er wandte sich den hintersten Kugeln zu. Sie zeigten Resurgam so, wie es in mehreren hundert Jahren aussehen sollte. Auf der Nachtseite leuchteten reihenweise Städte und ein Gürtel von spielzeugkleinen Habitats zog sich um den Planeten. Spinnwebfeine Weltraumbrücken schwangen sich vom Äquator zum Orbit. Wie wären wohl die Aussichten für diesen zarten Wunschtraum, dachte er, wenn Resurgams Sonne abermals explodierte wie schon einmal vor neunhundertneunzigtausend Jahren, genau zu dem Zeitpunkt, als sich die Zivilisation der Amarantin einer der menschlichen vergleichbaren Entwicklungsstufe näherte?

Vermutlich nicht allzu gut.

»Was haben Sie außer der Biotechnik noch von Remilliod bekommen?«, fragte er. »Sie verstehen sicher, dass ich neugierig bin.«

Sie schien ihn bei Laune halten zu wollen.

»Sie haben nicht nach Cuvier gefragt. Das überrascht mich. Und auch nicht nach Ihrer Frau«, fügte sie hinzu.

»Falkender sagte mir, Pascale sei in Sicherheit.«

»Das stimmt. Vielleicht erlaube ich Ihnen irgendwann sogar, sie zu sehen. Aber jetzt hören Sie mir gut zu. Wir haben die Stadt nicht erobert. Der Rest von Resurgam gehört uns, aber Cuvier wird immer noch von Girardieus Leuten gehalten.«

»Steht die Stadt noch?«

»Nein«, sagte sie. »Wir…« Sie sah Falkender an, der hinter Sylveste stand. »Könnten Sie Delaunay holen? Er soll eins von Remilliods Geschenken mitbringen.«

Falkender ging und ließ sie allein zurück.

»Wenn ich recht unterrichtet bin, hatten Sie mit Nils ein Abkommen getroffen«, sagte Sluka. »Die Gerüchte sind allerdings so widersprüchlich, dass man nicht klug daraus wird. Könnten Sie mir Genaueres sagen?«

»Die Sache war nie amtlich«, sagte Sylveste. »Was immer Sie gehört haben mögen.«

»Soviel ich weiß, hatte seine Tochter den Auftrag, Sie in ein wenig schmeichelhaftes Licht zu rücken.«

»Eine sinnvolle Strategie«, sagte Sylveste müde. »Wenn ein Mitglied der Familie, die mich gefangen hielt, meine Biografie verfasste, verlieh das dem Werk ein gewisses Ansehen. Und Pascale war jung, aber nicht mehr zu jung, um sich einen Namen zu machen. Die Sache hatte Vorteile für alle Beteiligten: Pascale konnte kaum scheitern, wobei man gerechterweise sagen muss, dass sie ihrer Aufgabe vorzüglich gerecht wurde.« Schmerzhaft durchzuckte ihn die Erinnerung, wie dicht sie davor gestanden hatte, das Schicksal von Calvins Alpha-Simulation aufzudecken. Heute war er mehr denn je davon überzeugt, dass sie die Wahrheit zwar erraten, aber darauf verzichtet hatte, sie in die Biografie aufzunehmen. Inzwischen wusste sie natürlich sehr viel mehr: zum Beispiel, was sich bei der Expedition zu Lascailles Schleier abgespielt hatte und dass die Umstände von Carine Lefevres Tod nicht so klar waren, wie er es bei seiner Rückkehr nach Yellowstone dargestellt hatte. Allerdings hatte er seit diesem Geständnis nicht mehr mit ihr gesprochen. »Girardieu wiederum hatte die Genugtuung, den Namen seiner Tochter in einem Atemzug mit einem wirklich wichtigen Projekt genannt zu hören. Ganz zu schweigen davon, dass aller Welt mein Innerstes zur gefälligen Begutachtung vorgelegt wurde. Ich war der kostbarste Schmetterling in seiner Sammlung — aber bis zu dieser Biografie war es nicht so einfach für ihn, mich auszustellen.«

»Ich habe die Biografie durchlebt«, sagte Sluka. »Und ich bin nicht sicher, ob Girardieu auch bekommen hat, was er wollte.«

»Trotzdem versprach er, sein Wort zu halten.« Seine Augen versagten plötzlich den Dienst. Die Frau, mit der er sprach, war nur noch ein frauenförmiges Loch im Raum. Dahinter gähnte die Unendlichkeit.

Die Störung ging schnell vorüber. Er fuhr fort: »Ich wollte Cerberus/Hades besuchen. Ich glaube — gegen Ende — war Nils fast bereit, mir die Reise zu ermöglichen, falls die Kolonie die Mittel hätte aufbringen können.«

»Sie glauben, dort wäre etwas zu finden?«

»Wenn sie mit meinen Ideen vertraut sind«, sagte Sylveste, »müssen Sie sich ihrer Logik beugen.«

»Ich finde sie faszinierend — wie jeden Irrglauben.«

Während sie noch sprach, ging die Tür auf, und ein Mann trat ein, den Sylveste noch nie gesehen hatte. Falkender folgte ihm auf dem Fuß. Der Neue — vermutlich Delaunay — war untersetzt wie eine Bulldogge. Er hatte mehrere Tage alte Bartstoppeln, auf dem Kopf trug er ein violettes Barett. Die Augen waren von roten Ringen umgeben und um seinen Hals hing eine Staubschutzbrille. Gurtbänder spannten sich über seinen Brustkorb, die Füße steckten in ockergelben Mukluks.

»Zeigen Sie unserem Gast das böse kleine Ding«, sagte Sluka.

Delaunay hielt einen offenbar sehr schweren schwarzen Zylinder mit einem dicken Henkelgriff in einer Hand.

»Nehmen Sie«, befahl Sluka.

Sylveste gehorchte. Das Ding war so schwer, wie er erwartet hatte. Der Griff war auf der Oberseite des Zylinders angebracht; darunter befand sich eine grüne Taste. Sylveste stellte den Behälter auf den Tisch; er war zu schwer, um ihn längere Zeit mühelos halten zu können.

»Machen Sie ihn auf«, befahl Sluka.

Er drückte auf die Taste — sie bot sich förmlich an — und der Zylinder öffnete sich wie eine russische Babuschka.

Vier Metallstützen drückten die obere Hälfte in die Höhe. Darunter kam ein kleinerer Zylinder zum Vorschein. Dieser innere Zylinder spaltete sich auf die gleiche Weise, darunter befand sich ein dritter und das wiederholte sich noch fünf bis sechs Mal.

Ganz innen befand sich ein schmaler Silberstab mit einem winzigen Fensterchen auf einer Seite. Dahinter lag in einem beleuchteten Hohlraum eine Art Stecknadel mit dickem Kopf.

»Inzwischen werden Sie sicher erkannt haben, was das ist«, sagte Sluka.

»Ich kann mir denken, dass es nicht hier auf dem Planeten hergestellt wurde«, sagte Sylveste. »Und ich weiß, dass wir nichts dergleichen von Yellowstone mitgebracht haben. Damit bleibt nur Remilliod, unser vortrefflicher Wohltäter. Hat er es Ihnen verkauft?«

»Zusammen mit neun weiteren«, nickte sie. »Jetzt sind es nur noch acht, das zehnte haben wir gegen Cuvier eingesetzt.«

»Es ist eine Waffe?«

»Remilliods Leute nannten es ›heißer Staub‹«, erklärte Sluka. »Antimaterie. Der Stecknadelkopf enthält nur ein Zwanzigstel Gramm Antilithium, aber das ist mehr als ausreichend für unsere Zwecke.«

»Ich wusste nicht, dass es derartige Waffen überhaupt gibt«, sagte Sylveste. »In so kleiner Ausführung, meine ich.«

»Verständlich. Die Technik ist schon so lange verboten, dass kaum noch jemand weiß, wie man solche Dinge herstellt.«

»Wie groß ist seine Sprengkraft?«

»Etwa zwei Kilotonnen. Das genügt, um in Cuvier ein großes Loch zu reißen.«

Sylveste begriff, was das bedeutete, und nickte nachdenklich. Dabei versuchte er sich auszumalen, was die Menschen empfunden haben mussten, die getötet wurden oder ihr Augenlicht verloren, als der Wahre Weg mit diesem Stecknadelkopf die Hauptstadt angriff. Durch den leichten Druckunterschied zwischen den Kuppeln und der Außenluft waren sicher verheerende Stürme entstanden, die über das geordnete Gemeinwesen hinwegfegten. Im Geiste sah er vor sich, wie die Bäume und Pflanzen in den Baumschulen von der Wucht des Hurrikans entwurzelt und in Stücke gerissen, Vögel und andere Tiere einfach durch die Luft geschleudert wurden. Wer die Zerstörung der Kuppel überlebt hatte — schwer zu sagen, wie viele das gewesen sein mochten —, musste rasch unter die Erde flüchten, bevor die gesamte Luft entwich und man an Resurgams Atmosphäre erstickte. Zwar war die Luft inzwischen eher atembar als noch vor zwanzig Jahren, aber man musste immer noch lernen, darin zu überleben, und sei es nur für wenige Minuten. Die meisten Bewohner hatten die Hauptstadt nie verlassen. Sie hatten keine Chance gehabt.

»Warum?«, fragte er.

»Es war ein…« Sie brach ab. »Ich wollte sagen, es war ein Fehler, aber darauf könnten Sie mir erwidern, im Krieg gebe es keine Fehler, nur mehr oder weniger glückliche Zufälle. Zumindest hatten wir nicht die Absicht, den Stecknadelkopf tatsächlich einzusetzen. Es war so gedacht, dass Girardieus Getreue die Stadt übergeben sollten, sobald sie erfuhren, dass sich die Waffe in unserem Besitz befand. Aber es kam ganz anders. Girardieu selbst hatte zwar von der Existenz der Stecknadelköpfe gewusst, aber er hatte seine Untergebenen nicht darüber informiert. Deshalb nahm man unsere Drohung nicht ernst.«

Was dann geschah, verstand sich von selbst. Die Briganten waren frustriert, weil man ihnen nicht glaubte, und hatten die Waffe dann doch eingesetzt. Aber die Hauptstadt war immer noch bewohnt, das hatte Sluka gleich zu Anfang deutlich gemacht. Girardieus Getreue gaben sie nicht aus der Hand. Sylveste stellte sich vor, wie sie in unterirdischen Bunkern saßen und alles verwalteten, während über ihnen die Staubstürme an den nackten Gerüsten der zerstörten Kuppeln zerrten.

»Sie sehen«, sagte die Frau, »man sollte uns nicht unterschätzen, besonders nicht, wenn man noch gewisse Bindungen an Girardieus Regime hat.«

»Was haben Sie mit den anderen Waffen vor?«

»Infiltration. Ohne Abschirmung ist so ein Stecknadelkopf klein genug, um ihn in einen Zahn einzusetzen. Dort könnte er höchstens bei einer gründlichen medizinischen Untersuchung entdeckt werden.«

»Sieht so Ihr Plan aus?«, fragte er. »Sie suchen sich acht Freiwillige, die sich diese Dinger implantieren lassen? Und diese acht schleusen Sie dann wieder in die Hauptstadt ein? Diesmal würde man Ihnen vermutlich glauben.«

»Wir brauchen nicht einmal Freiwillige«, verbesserte Sluka. »Sie wären vorzuziehen, aber notwendig sind sie nicht.«

Wider besseres Wissen bemerkte Sylvester »Gillian, ich glaube, vor fünfzehn Jahren haben Sie mir besser gefallen.«

»Bringen Sie ihn in seine Zelle zurück«, befahl sie Falkender. »Er fängt an, mich zu langweilen.«

Der Arzt zupfte ihn am Ärmel.

»Darf ich mich noch etwas länger mit seinen Augen beschäftigen, Gillian? Ich könnte mehr erreichen, allerdings nur unter größeren Beschwerden.«

»Tun Sie, was Sie wollen«, sagte Sluka. »Aber Sie sind zu nichts verpflichtet. Ich muss gestehen, seit er sich in meiner Gewalt befindet, bin ich fast ein wenig enttäuscht von ihm. Wahrscheinlich hat auch er mir besser gefallen, bevor ihn Girardieu zum Märtyrer machte.« Sie zuckte die Achseln. »Wir können ihn nicht einfach wegwerfen, dafür ist er zu wertvoll, aber vielleicht lasse ich ihn zunächst einfrieren, bis uns etwas Besseres einfällt. In einem oder auch in fünf Jahren kann ich eventuell mehr mit ihm anfangen. Damit will ich nur sagen, es wäre schade, allzu viel Zeit auf jemanden zu verschwenden, von dem wir ohnehin bald genug haben könnten, Dr. Falkender.«

»Der Erfolg ist des Chirurgen schönster Lohn«, bemerkte Falkender.

»Ich sehe gut genug«, erklärte Sylveste.

»O nein«, widersprach der Arzt. »Ich kann viel mehr für Sie tun, Dr. Sylveste. Sehr viel mehr. Ich habe noch kaum angefangen.«


Volyova war unten bei Captain Brannigan, als eine Pförtnerratte ihr mitteilte, die Berichte der Kiesel seien eingetroffen. Sie wollte neue Proben von der Peripherie des Captains nehmen, die jüngsten Erfolge eines ihrer Retrovirenstämme gegen die Seuche hatten ihr Mut gemacht. Sie hatte eines der militärischen Cyberviren, die das Schiff getroffen hatten, modifiziert und mit der Seuche kompatibel gemacht. Erstaunlicherweise schien es tatsächlich zu wirken — zumindest bei den kleinen Proben, an denen sie es bisher ausprobiert hatte. Wie ärgerlich, dachte sie, wegen etwas aus der Arbeit gerissen zu werden, das sie neun Monate zuvor in die Wege geleitet und in der Zwischenzeit fast vergessen hatte — wobei sie im ersten Moment nicht glauben wollte, dass tatsächlich so viel Zeit vergangen war. Doch die Aussicht auf neue Informationen war erregend.

Sie nahm den Fahrstuhl nach oben. Neun Monate, tatsächlich. Nicht zu fassen, wie schnell die Zeit verging, wenn man arbeitete. Sie hätte es wissen müssen, und im Grunde war ihr auch bekannt, wie lange es her war, die Information war nur nicht in den Teil ihres Bewusstseins vorgedrungen, mit dem sie solche Dinge zur Kenntnis nahm und sich aktiv damit auseinander setzte. Es hatte genügend Anhaltspunkte gegeben. Das Schiff trödelte nur noch mit einem Viertel Lichtgeschwindigkeit dahin. In etwa hundert Tagen würde es endgültig in den Resurgam-Orbit einschießen und dann brauchten sie eine Strategie. Hier kamen die Kiesel ins Spiel.

Auf der Brücke erschienen Schnappschüsse von Resurgam und der näheren Umgebung in verschiedenen elektromagnetischen und exotischen Teilchenspektren. Es waren die ersten neueren Bilder eines potenziellen Feindes. Volyova prägte sich die wichtigsten Fakten tief ins Bewusstsein ein, um sie in einer Krise mühelos instinktiv abrufen zu können. Die Kiesel waren zu beiden Seiten an Resurgam vorbeigerast, so dass es Daten von der Tag- wie von der Nachtseite gab. Außerdem hatte sich die Kieselwolke im Lauf des Fluges so weit auseinandergezogen, dass zwischen der ersten und der letzten Einheit, die das System passierte, fünfzehn Stunden lagen. So konnte sie Resurgams gesamte Oberfläche beleuchtet und im Dunkeln betrachten. Die Kiesel über der Tagseite wandten Delta Pavonis den Rücken zu und suchten nach Neutrinostrahlung aus Fusions- und Antimateriekraftwerken auf der Oberfläche. Die Kiesel auf der Nachtseite suchten nach Wärmesignaturen von Bevölkerungszentren und Orbitalanlagen. Andere Sensoren prüften die Atmosphäre, maßen Sauerstoff—, Ozon- und Stickstoffwerte und stellten fest, in welchem Ausmaß die Kolonisten die planetare Biosphäre verändert hatten.

Wenn man berücksichtigte, dass die Kolonisten seit mehr als fünfzig Jahren hier waren, hatten sie auf auffallend vieles verzichtet. Es gab keine großen Orbitalstationen, keine Einrichtungen für den interplanetaren Flugverkehr. Nur ein paar Kommunikationssatelliten umkreisten den Planeten, und ob die repariert oder ersetzt werden konnten, falls sie beschädigt wurden, war zu bezweifeln, da es auf der Planetenoberfläche keine größeren Industrieanlagen gab. Die wenigen noch verbliebenen Satelliten außer Betrieb zu setzen oder zu stören wäre ein Kinderspiel, falls das im Rahmen ihres bislang noch nicht formulierten Planes erforderlich werden sollte.

Dennoch waren die Siedler nicht untätig gewesen. Die Atmosphäre zeigte Spuren extensiver Veränderung, der freie Sauerstoff lag weit über den Werten, die Volyova erwartet hätte. Die Infrarot-Sensoren meldeten geothermische Bohrungen entlang einer Linie, an der sich mit Sicherheit kontinentale Subduktionszonen befanden. Der Neutrinoausstoß an den Polarzonen wies auf Sauerstofffabriken hin — Fusionsanlagen, die Wassereis-Moleküle in Sauerstoff und Wasserstoff zerlegten. Der Sauerstoff wurde an die Atmosphäre abgegeben — oder in überkuppelte Wohngebiete gepumpt —, während der Wasserstoff in die Fusoren zurückgeleitet wurde. Volyova identifizierte mehr als fünfzig solcher Wohngebiete, aber die meisten waren unbedeutend und keines war auch nur annähernd so groß wie die Hauptsiedlung. Vermutlich gab es noch weitere, kleinere Außenposten — Stationen und Heimstätten in Familienbesitz —, aber die würden die Kiesel nicht finden.

Was hatte sie also zu berichten? Keine Orbitalen Verteidigungsanlagen, mit hoher Wahrscheinlichkeit keine Raumfahrt, und ein Großteil der Bewohner nach wie vor in einer Siedlung zusammengepfercht. Zumindest vom Standpunkt des Kräftevergleichs her sollte es ein Leichtes sein, die Resurgamiten zur Auslieferung Sylvestes zu überreden.

Aber da war noch etwas.

Das Resurgam-System war ein weit auseinandergezogenes Doppelsternsystem. Delta Pavonis war die Leben spendende Sonne, aber — und das hatte sie gewusst — sie besaß einen toten Zwilling. Der dunkle Begleiter war ein Neutronenstern, zehn Lichtstunden von Pavonis entfernt, weit genug also, um stabile Planetenbahnen um beide Sterne zu ermöglichen. Tatsächlich hatte sich der Neutronenstern einen eigenen Planeten eingefangen. Dessen Existenz war ihr schon vor der Information durch die Kiesel bekannt gewesen. Der Datenbank des Schiffes war er nicht mehr wert als eine Kommentarzeile und eine dürre Ziffernreihe. Welten wie diese waren aus chemischer Sicht ausnahmslos uninteressant, sie hatten keine Atmosphäre, waren biologisch inaktiv und blank gescheuert von den Winden, die der Neutronenstern noch als Pulsar erzeugt hatte. Nicht viel mehr als ein Klumpen ausgeglühtes Sterneneisen, dachte Volyova, und etwa genauso spannend.

Aber in der Nähe dieser Welt befand sich eine Neutrinoquelle. Sie war nur schwach — fast an der Grenze der Registrierbarkeit —, aber sie verdiente Beachtung. Die Entdeckung war schwer zu verdauen. Erst nach einer Weile würgte Volyova wie ein Wiederkäuer einen kleinen Klumpen Gewissheit herauf: Nur eine Maschine konnte eine solche Signatur erzeugen. Und das machte ihr Sorgen.


»Sie haben wirklich überhaupt nicht geschlafen?«, fragte Khouri. Sie selbst war kurz zuvor aufgewacht und fuhr nun mit Volyova im Fahrstuhl hinunter, um den Captain zu besuchen.

»Das stimmt nicht ganz«, sagte Volyova. »Selbst mein Körper braucht seine Ruhephasen. Ich habe einmal versucht, ohne Schlaf auszukommen. Es gibt dafür bestimmte Drogen, und man kann Implantate in das RAS, das retikuläre Aktivierungssystem einsetzen, die Gehirnregion, die den Schlaf steuert — aber die Ermüdungsgifte müssen dennoch ausgeschieden werden.« Sie krümmte sich wie unter Schmerzen. Khouri sah ganz deutlich, dass Volyova das Thema Implantate etwa so angenehm fand wie Zahnweh.

»Viel passiert?«, fragte sie.

»Nichts, womit Sie sich belasten müssten«, sagte Volyova und zog an ihrer Zigarette. Khouri nahm an, damit sei alles gesagt, doch dann sah ihre Ausbilderin sie verlegen an. »Da fällt mir ein, etwas war doch bemerkenswert. Zwei Dinge sogar, wobei ich nicht weiß, welchem ich mehr Bedeutung beimessen sollte. Das erste betrifft Sie nicht unmittelbar. Aber das zweite…«

Khouri forschte in den Zügen ihrer Vorgesetzten nach konkreten Hinweisen darauf, dass die Frau seit ihrer letzten Begegnung um sieben Jahre gealtert war. Sie fand aber nicht die kleinste Spur, und das bedeutete, dass der Triumvir die sieben Jahre mit Antialterungs-Infusionen ausgeglichen hatte. Verändert wirkte sie zwar schon, aber nur deshalb, weil sie ihr normalerweise kurz geschorenes Haar hatte wachsen lassen. Kurz war es noch immer, aber es hatte jetzt mehr Fülle und ließ die ausgeprägten Kiefer- und Wangenknochen etwas weicher erscheinen. Wenn überhaupt, dachte Khouri, dann sah Volyova eher sieben Jahre jünger aus. Nicht zum ersten Mal versuchte sie, das biologische Alter der Frau zu schätzen, aber es war unmöglich.

»Worum geht es?«

»Als Sie im Kälteschlaf lagen, zeigte sich eine ungewöhnliche Neuralaktivität. Eigentlich durfte sich gar nichts regen. Doch was ich beobachtet habe, wäre nicht einmal bei einem wachen Menschen normal gewesen. Es sah ganz so aus, als tobe in Ihrem Kopf ein kleiner Krieg.«

Der Fahrstuhl hielt am Captainsdeck. »Ein interessanter Vergleich«, sagte Khouri und trat in den eiskalten Korridor hinaus.

»Hoffentlich nicht mehr als das. Natürlich war mir bewusst, dass Sie nicht viel davon mitbekommen haben dürften.«

»Ich erinnere mich an gar nichts«, sagte Khouri.

Volyova schwieg, bis der Captain vor ihnen auftauchte wie ein Nebelfleck. Das glitzernde, widerlich schleimige Etwas sah nicht aus wie ein Mensch, eher wie ein Engel, der vom Himmel auf den harten Boden gefallen und zerplatzt war. Der antiquierte Kälteschlaftank, der ihn noch vor kurzem umschlossen hatte, zeigte jetzt Sprünge und Risse. Er funktionierte kaum noch, was er an Kälte erzeugte, reichte nicht mehr aus, um die unerbittlich vordringende Seuche aufzuhalten. Captain Brannigan hatte inzwischen Dutzende von fadendünnen Wurzeln in das Schiff geschlagen, Wurzeln, die Volyova zwar verfolgte, aber nicht an ihrer weiteren Ausbreitung hindern konnte. Und wie würde es sich auf den Captain auswirken, wenn sie diese Fäden durchtrennte? Vielleicht waren sie ja das Einzige, was ihn noch am Leben erhielt, falls man seinen Zustand als Leben bezeichnen konnte. Irgendwann, sagte Volyova, würden die Wurzeln das ganze Schiff durchdringen und dann wären der Captain und sein Schiff wohl mehr oder weniger eins. Notfalls könnte sie das Geflecht natürlich aufhalten, indem sie diesen Bereich einfach absprengte, ihn aus dem übrigen Schiffskörper herausschnitt wie ein Chirurg in früheren Zeiten einen wuchernden Tumor. Noch nahm Brannigan nicht allzu viel Raum ein — das Schiff würde den Verlust kaum bemerken. Die Transformationen würden dann zwar weitergehen, sich aber mangels neuer Nahrung inzestuös nach innen richten, bis schließlich die Entropie dem entarteten Körper das Lebenslicht ausblies.

»Das ziehen Sie tatsächlich in Betracht?«, fragte Khouri.

»Ich ziehe es in Betracht«, erwiderte Volyova. »Aber ich hoffe, dass es nicht so weit kommt. Ich habe viele Proben entnommen — und jetzt glaube ich tatsächlich einen Fortschritt zu erkennen. Ich habe ein Gegenmittel gefunden — ein Retrovirus, das stärker zu sein scheint als die Seuche. Es zerstört die Seuchenmaschinerie schneller, als die Seuche es zerstören kann. Bisher habe ich es nur an kleinen Präparaten getestet — alles andere würde meine Möglichkeiten übersteigen. Ein Test am Captain selbst wäre ein medizinischer Eingriff, und dafür bin ich nicht qualifiziert.«

»Natürlich«, sagte Khouri hastig. »Aber wenn Sie diese Möglichkeit ausschließen, setzen Sie letztlich nur noch auf Sylveste?«

»Mag sein, aber man sollte seine oder vielmehr Calvins Fähigkeiten nicht unterschätzen.«

»Und er wird Ihnen so ohne weiteres helfen?«

»Nein, aber er hat das auch beim ersten Mal nicht freiwillig getan. Trotzdem haben wir Mittel und Wege gefunden.«

»Ihn zu überreden, meinen Sie?«

Volyova schwieg einen Moment lang und nahm einen Abstrich von einem der röhrenähnlichen Ausläufer, der im Begriff war, sich in ein Gekröse von Schiffsleitungen zu bohren. »Sylveste ist von gewissen Ideen besessen«, sagte sie. »Und solche Menschen lassen sich leichter manipulieren, als sie glauben. Sie sind so auf ihre jeweiligen Ziele fixiert, dass sie nicht immer merken, wenn sie von jemand anderem gesteuert werden.«

»Zum Beispiel von Ihnen?«

Sie steckte die hauchdünne Probe ein, um sie später zu analysieren. »Sajaki hat Ihnen erzählt, dass wir ihn hier an Bord hatten, als er auf Yellowstone einen Monat lang vermisst wurde?«

»Die ›Dreißig Tage in der Wildnis‹?«

»Eine alberne Bezeichnung«, knirschte Volyova. »Warum diese biblische Ausdrucksweise? Dabei hat er ohnehin schon einen Messiaskomplex, wenn Sie mich fragen. Wie auch immer, ja, damals haben wir ihn hierher aufs Schiff geholt. Interessant daran ist, dass die Resurgam-Expedition erst volle dreißig Jahre später von Yellowstone aufbrach. Und jetzt verrate ich Ihnen ein Geheimnis. Bis wir nach Yellowstone zurückkamen und Sie anheuerten, ahnten wir nichts von der Existenz dieser Expedition. Wir rechneten damit, Sylveste immer noch auf Yellowstone zu finden.«

Khouri konnte nach ihren Erfahrungen mit Fazil gut nachempfinden, vor welchen Schwierigkeiten Volyova und die Besatzung gestanden haben mussten, aber sie hielt es für überzeugender, die Ahnungslose zu spielen.

»Ein Fehler, sich nicht vorher zu erkundigen.«

»Keineswegs. Wir hatten durchaus Informationen eingeholt — doch die waren mehrere Jahrzehnte alt, als wir sie erhielten. Und als wir endlich danach handelten — als wir Yellowstone anflogen —, hatte sich ihr Alter noch einmal verdoppelt.«

»Die Chancen standen wohl trotzdem nicht allzu schlecht. Die Familie war immer eng mit Yellowstone verbunden gewesen, also konnte man davon ausgehen, dass auch der reiche junge Prinz sich nach wie vor dort herumtrieb.«

»Was allerdings ein Irrtum war. Interessant daran ist nur, dass es inzwischen den Anschein hat, als hätten wir uns die ganze Mühe sparen können. Möglicherweise war die Resurgam-Expedition bereits geplant, als wir Sylveste beim ersten Mal an Bord hatten. Hätten wir ihm nur richtig zugehört, dann hätten wir direkt dorthin fliegen können.«

Auf dem Weg durch das komplizierte Netz von Fahrstühlen und Tunnels zwischen dem Korridor des Captains und der Waldlichtung sprach Volyova ganz leise in das Armband, das sie stets am Handgelenk trug. Khouri wusste, dass sie Verbindung mit einer der vielen künstlichen Persönlichkeiten auf dem Schiff aufnahm, konnte aber nicht erraten, welche Vorkehrungen sie treffen wollte.

Nach der gnadenlosen Kälte und Düsterkeit im Korridor des Captains war das Grün der Lichtung ein Fest für die Sinne. Die Luft war warm und duftete nach Blüten, und die bunten Vögel in den Lüften leuchteten fast zu grell für Khouris an die Dunkelheit gewöhnten Augen. Zunächst war sie völlig überwältigt und bemerkte gar nicht, dass sie und Volyova nicht allein waren. Doch dann sah sie die drei Gestalten, die im taufeuchten Gras um einen Baumstumpf knieten. Eine davon war Sajaki, aber mit einer Frisur, die sie noch nie an ihm gesehen hatte: bis auf einen Haarknoten war sein Schädel vollkommen kahl. Die zweite war Volyova selbst — sie trug das Haar wieder kurz, was die eckige Form ihres Kopfes betonte und sie älter aussehen ließ als die Volyova, die neben Khouri stand. In der dritten Gestalt erkannte Khouri Dan Sylveste.

»Wollen wir zu ihnen gehen?«, fragte Volyova und stieg über die schwankende Treppe ins Gras hinab.

Khouri folgte. »Das war…« Sie rief sich das Jahr ins Gedächtnis, in dem Sylveste aus Chasm City verschwunden war. »Um 2460, richtig?«

»Ins Schwarze getroffen!« Volyova wandte sich um und sah Khouri gelinde erstaunt an. »Sind Sie Expertin für Sylvestes Lebensgeschichte? Schon gut. Wichtig ist, dass wir den gesamten Besuch aufgezeichnet haben. Ich weiß genau, dass dabei eine Bemerkung fiel, die mir… nun, im Lichte dessen, was wir heute wissen, recht aufschlussreich vorkommt.«

»Faszinierend.«

Khouri zuckte zusammen. Nicht sie hatte gesprochen, die Stimme war von hinten gekommen. Erst jetzt fiel ihr auf, dass die Mademoiselle in einiger Entfernung oben an der Treppe stand.

»Ich hätte mir denken können, dass Sie Ihre hässliche Visage zeigen würden«, sagte Khouri. Sie hatte nicht einmal stumm artikuliert, aber das ständige Geschnatter der Singvögel war so laut, dass Volyova, die vorausgegangen war, sie nicht hören konnte. »Sie sind wie ein falscher Geldschein. Man wird Sie nicht los.«

»Wenigstens wissen Sie jetzt, dass ich noch da bin«, sagte die Mademoiselle. »Sonst hätten Sie nämlich allen Grund, sich Sorgen zu machen, denn das hieße, dass Sonnendieb meine Abwehr durchbrochen hätte. Als Nächstes ginge es Ihrem Verstand an den Kragen, und wie sich das auf Ihre Beschäftigungsaussichten bei Volyova auswirken würde, möchte ich mir lieber nicht ausmalen.«

»Halten Sie den Mund. Ich möchte hören, was Sylveste zu sagen hat.«

»Nur zu«, sagte die Mademoiselle knapp, ohne sich von der Stelle zu rühren.

Khouri trat zu Volyova, die jetzt dicht neben dem Trio stand.

»Natürlich«, sagte die stehende Volyova, »hätte ich das Gespräch auch an jeder anderen Stelle des Schiffes abspielen können. Aber es hat hier stattgefunden, und deshalb möchte ich es auch hier wiederholen.« Während sie sprach, griff sie in ihre Jackentasche, zog eine rauchgraue Brille heraus und setzte sie auf. Khouri verstand: da Volyova keine Implantate hatte, konnte sie die Aufzeichnung nur über direkte Netzhautprojektion verfolgen. Ohne Projektionsbrille waren die Gestalten für sie unsichtbar.

»Es liegt also«, sagte Sajaki gerade, »in Ihrem eigenen Interesse, unsere Forderungen zu erfüllen. Sie haben in der Vergangenheit Hilfe von Ultra-Elementen in Anspruch genommen — zum Beispiel für Ihre Reise zu Lascailles Schleier — und es ist sehr wahrscheinlich, dass Sie das auch in Zukunft tun wollen.«

Sylveste hatte die Ellbogen auf den Baumstumpf gestützt. Khouri sah sich den Mann genau an. Sie hatte schon viele lebensechte Projektionen von ihm gesehen, aber dieses Bild erschien ihr realer als alle anderen bisher. Vermutlich lag es daran, dass sie ihn im Gespräch mit zwei Personen erlebte, die sie kannte, und nicht mit namenlosen Gestalten aus Yellowstones Geschichte. Das war ein großer Unterschied. Er sah gut aus, unwahrscheinlich gut sogar, trotzdem bezweifelte sie, dass das Bild kosmetisch geschönt worden war. Das lange Haar hing zu beiden Seiten der Denkerstirn in wirren Strähnen herab; die Augen waren leuchtend grün. Selbst wenn sie in diese Augen schauen müsste, bevor sie ihn tötete — was bei den Vorschriften der Mademoiselle nicht auszuschließen war —, sie hätte sie gerne einmal in Wirklichkeit gesehen.

»Das hört sich doch sehr nach Erpressung an«, sagte Sylveste. Er sprach von den dreien am leisesten. »Sie reden, als gäbe es einen festen Beistandspakt zwischen allen Ultras. Mag sein, dass Sie manche Leute damit täuschen können, Sajaki, aber bei mir sind Sie an den Falschen geraten.«

»Dann könnten Sie eine böse Überraschung erleben, wenn Sie wieder einmal versuchen sollten, die Ultras für Ihre Pläne einzuspannen«, antwortete Sajaki und spielte mit einem Holzsplitter. »Damit das ganz klar ist. Wenn Sie unsere Bitte ablehnen, garantiere ich Ihnen, dass Sie — zusätzlich zu allen anderen Nachteilen, die Sie sich damit einhandeln — Ihren Heimatplaneten niemals verlassen werden.«

»Ich glaube nicht, dass mich das allzu sehr stören würde.«

Volyova — die sitzende Ausgabe — schüttelte den Kopf. »Unsere Spitzel sagen etwas anderes. Gerüchten zufolge versuchen Sie zurzeit, eine Expedition zum Delta Pavonis-System zu finanzieren, Dr. Sylveste.«

»Nach Resurgam?«, schnaubte Sylveste. »Wohl kaum. Was gäbe es da schon zu holen?«

Die echte, stehende Volyova sagte: »Er lügt. Jetzt ist das ganz offensichtlich, aber damals dachte ich, das Gerücht sei eben falsch gewesen.«

Sajaki hatte Sylveste geantwortet, nun ergriff Sylveste wieder das Wort und sagte abwehrend: »Was kümmern mich Ihre Gerüchte — hören Sie einfach nicht darauf. Es spricht überhaupt nichts dafür, nach Resurgam zu fliegen. Sehen Sie sich die Berichte an, wenn Sie mir nicht glauben.«

»Genau das ist sonderbar«, sagte die stehende Volyova. »Ich habe mir die Berichte angesehen, und, verdammt, er hatte Recht. Nach allem, was zu jener Zeit bekannt war, gab es absolut keinen Anlass, an eine Expedition nach Resurgam auch nur zu denken.«

»Aber Sie sagten doch eben, er hätte gelogen…«

»Und das stimmt auch — im Rückblick ist es erwiesen.« Sie schüttelte den Kopf. »Wissen Sie, ich habe nie wirklich darüber nachgedacht, aber im Grunde ist es sehr merkwürdig — geradezu paradox. Dreißig Jahre nach diesem Gespräch brach die Expedition nach Resurgam auf, und das heißt, das Gerücht entsprach doch der Wahrheit.« Sie nickte zu Sylveste hin, der inzwischen eine hitzige Diskussion mit ihrem sitzenden Abbild führte. »Aber damals hatte noch niemand von den Amarantin gehört! Was im Namen der Hölle hat ihn überhaupt auf die Idee gebracht, nach Resurgam fliegen zu wollen?«

»Er muss gewusst haben, dass er dort etwas finden würde.«

»Natürlich, aber woher hatte er die Information? Das System wurde vor der Expedition mehrfach mit automatischen Sonden erkundet, aber nie besonders gründlich. Soviel ich weiß, kam keine Sonde dicht genug an die Planetenoberfläche heran, um feststellen zu können, dass es auf Resurgam einmal intelligentes Leben gegeben hatte. Aber Sylveste wusste es.«

»Das ergibt keinen Sinn.«

»Ich weiß«, sagte Volyova. »Glauben Sie mir, ich weiß es nur zu gut.«

Sie stellte sich neben ihre Zwillingsschwester vor den Baumstumpf und beugte sich so tief über Sylveste, dass sich seine starren grünen Augen in den grauen Facetten ihrer Brille spiegelten. »Was hast du gewusst?«, fragte sie. »Und was noch wichtiger wäre, woher hast du es gewusst?«

»Er wird es Ihnen nicht sagen«, bemerkte Khouri.

»Jetzt vielleicht nicht«, erwiderte Volyova lächelnd. »Aber bald wird der echte Sylveste vor mir sitzen. Und dann könnte es schon sein, dass wir einige Antworten bekommen.«

In diesem Augenblick gab ihr Armband mehrere tiefe Töne von sich. Das Signal war Khouri unbekannt, aber es war eindeutig ein Alarm. Das künstliche Tageslicht färbte sich plötzlich blutrot und begann im Rhythmus der Töne zu pulsieren.

»Was ist das?«, fragte Khouri.

»Ein Notfall«, sagte Volyova. Sie hielt sich das Armband dicht vor die Augen, riss sich die Projektionsbrille vom Kopf und studierte eine der kleinen Anzeigen, die genau im Takt mit dem Himmel und den Tönen ebenfalls rot blinkte. Khouri sah eine Schrift über den winzigen Bildschirm laufen, war aber zu weit entfernt, um sie lesen zu können.

»Was für ein Notfall?«, flüsterte sie, um Volyova nicht in ihrer Konzentration zu stören. Das Trio war, ohne dass sie es bemerkt hätte, klammheimlich wieder in dem Teil des Schiffsspeichers verschwunden, aus dem Volyova es abgerufen und zum Leben erweckt hatte.

Volyova schaute von ihrem Armband auf. Sie war ziemlich blass. »Eine von den Waffen aus dem Geschützpark.«

»Ja?«

»Sie ist dabei, sich scharf zu machen.«

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