Zwölf

Cygni-A

(Simulation)

2483


Der Besprechungsraum, in den Fazil sie führte, war ganz anders als alle derartigen Räume, die Khouri je besucht hatte. Auf jeden Fall war er viel zu groß, als dass er im Zelt hätte Platz finden können. Und Khouri hatte zwar Erfahrung mit Projektionsgeräten verschiedenster Art, aber keines hätte ihr das zeigen können, was sie jetzt zu sehen bekam. Der ganze Boden war auf einer Breite von etwa zwanzig Metern davon bedeckt. Es war von einem Laufsteg mit Metallgeländer umgeben.

Es war eine Karte der gesamten Galaxis.

Und ein ganz einfacher Umstand bewies, dass diese Karte von keinem der ihr bekannten Geräte hätte projiziert werden können. Mit einem Blick darauf konnte sie nämlich jeden einzelnen Stern in der Galaxis erfassen — sehen und identifizieren — vom kühlsten Braunen Zwerg mit fast erloschener Fusionstätigkeit bis hinauf zum hellsten, kurzfristig weißglühenden Superriesen. Und nicht genug damit, dass jeder Stern in der Galaxis verzeichnet war und sie ihn wahrnehmen konnte, wenn ihr Blick darauf fiel. Es ging noch weiter. Sie konnte die ganze Galaxis mit einem einzigen Blick erkennen. Sie in ihrer Gesamtheit assimilieren.

Sie konnte die Sterne zählen.

Es waren vierhundertsechsundsechzig Milliarden dreihundertelf Millionen neunhundertzweiundzwanzigtausend und achthundertelf Sterne. Vor Khouris Augen explodierte einer der weißen Superriesen zu einer Supernova, und sie korrigierte die Zahl um eins nach unten.

»Ein Trick«, sagte Fazil. »Die Karte ist codifiziert. Die Galaxis hat mehr Sterne, als das menschliche Gehirn Zellen hat, sie alle zu kennen, würde also einen allzu großen Teil deiner gesamten Erinnerungsspeicher besetzen, und das wäre nicht wünschenswert. Was natürlich nicht heißt, dass das Gefühl der Allwissenheit nicht simuliert werden könnte.«

Tatsächlich war die Galaxisdarstellung viel zu detailliert, um wirklich von einer Karte sprechen zu können. Nicht nur, dass die charakteristischen Eigenschaften jedes Sterns — Farbe, Größe, Leuchtkraft, Begleitsterne, Positionen und Bahngeschwindigkeiten — präzise vermerkt waren, man sah auch Regionen, wo Sterne entstanden, dünne, schwach leuchtende Schleier aus kondensierendem Gas, in denen immer heißer werdende Glutkörnchen, die Sonnenembryonen, eingebettet waren. Junge, von Scheiben aus protoplanetarem Material umgebene Sterne waren zu beobachten, und wenn sie wollte, sah sie ganze Planetensysteme wie mikroskopisch kleine Planetarien mit ungeheurer Beschleunigung um ihre Zentralgestirne kreisen. Sie entdeckte alte Sterne, die ihre Photosphäre schichtweise abgestoßen und ins All geschleudert hatten, um damit das dünne interstellare Medium anzureichern: das elementare Protoplasma-Reservoir, aus dem irgendwann künftige Sternengenerationen, Welten und Kulturen entstehen würden. Supernova-Reste verschiedenster Art trieben auseinander, kühlten dabei aus und strahlten ihre Energie an das interstellare Medium ab. Manchmal konnte sie im Herzen einer solchen Sternenkatastrophe einen neu geschmiedeten Pulsar beobachten, der mit würdevoller Präzision ständig langsamer werdende Radiowellen aussendete — vergleichbar einer Uhr in einem längst vergessenen Kaiserpalast, die, ein letztes Mal aufgezogen, bis zum Ende weitertickte, wobei der Abstand von einem Ticken zum nächsten immer länger wurde, bis schließlich alles in frostiger Unendlichkeit erstarb. Auch Schwarze Löcher befanden sich im Herzen solcher Trümmerfelder. Ein gewaltiges (wenn auch im Augenblick noch nicht aktives) Schwarzes Loch lauerte im Herzen der Galaxis, umgeben von einem Schwarm zum Untergang verurteilter Sterne, die es eines Tages in seinen Ereignishorizont ziehen und mit einer Röntgenstrahlen-Explosion von apokalyptischen Ausmaßen in Stücke reißen würde.

Und die Darstellung beschränkte sich nicht nur auf die astrophysikalische Seite dieser Galaxis. Es war, als lege sich lautlos eine neue Schicht von Erinnerungen über Khouris Bewusstsein. Plötzlich wimmelte die Galaxis von Leben; eine Million Zivilisationen verteilten sich nach einem Pseudo-Zufallsprinzip über die große, langsam rotierende Scheibe.

Doch das war Vergangenheit — tiefe, tiefe Vergangenheit.

»Seither«, sagte Fazil, »sind etwa eine Milliarde Jahre vergangen. Ein für galaktische Verhältnisse beachtlicher Zeitraum, besonders wenn man berücksichtigt, dass das gesamte Universum nur etwa fünfzehn Mal so alt ist.« Er stand neben ihr auf dem Laufsteg, und beide beugten sich über das Metallgeländer wie ein junges Paar, das in einem schwarzen, mit schwimmenden Brotstücken übersäten Teich sein Spiegelbild betrachtete. »Um dir eine gewisse Vorstellung zu geben — die Menschheit existierte vor einer Milliarde Jahren noch nicht, auch die Dinosaurier entwickelten sich erst vor knapp zweihundert Millionen Jahren; einem Fünftel des Zeitraums, mit dem wir uns hier beschäftigen. Nein; wir stecken noch mitten im Präkambrium. Auf der Erde gab es Leben, aber keine Vielzeller — höchstens ein paar Schwämme, wenn man Glück hatte.« Wieder betrachtete Fazil die Galaxis-Darstellung. »Aber das war nicht überall so.«

Die Zivilisationen, etwa eine Million (Khouri hätte die Zahl mit unglaublicher Präzision bestimmen können, aber das erschien ihr plötzlich so kindisch und pedantisch, als gäbe man sein Alter auf den Monat genau an), waren nicht alle zur gleichen Zeit entstanden und hatten sich nicht alle gleich lange erhalten. Fazil zufolge (aber das sah sie auf einer sehr elementaren Ebene auch selbst) hatte die Galaxis erst vor vier Milliarden Jahren eine Entwicklungsstufe erreicht, die das Aufkommen intelligenter Strukturen ermöglichte. Doch auch an diesem Punkt minimaler galaktischer Reife waren nicht alle Zivilisationen schlagartig zur gleichen Zeit aufgetaucht. Die Entwicklung der Intelligenz war in Schüben verlaufen, einige Zivilisationen hatten sich Welten ausgesucht, wo das Tempo der Evolution aus welchen Gründen auch immer hinter der Norm zurückblieb, manchmal war der Aufstieg des Lebens auch von einer ungewöhnlich hohen Katastrophendichte behindert worden.

Doch irgendwann — zwei oder drei Milliarden Jahre, nachdem auf der jeweiligen Heimatwelt zum ersten Mal Leben entstanden waren — hatten einige Zivilisationen die Raumfahrt entwickelt. Von da an breiteten sich die meisten rasant über die Galaxis aus, auch wenn es immer ein paar Stubenhocker gab, die lieber ihr eigenes Sonnensystem, manchmal auch nur den Raum um den eigenen Planeten kolonisierten. Im Allgemeinen vollzog sich die Expansion jedoch sehr rasch, mit einer durchschnittlichen Driftrate zwischen einem Zehntel und einem Hundertstel Lichtgeschwindigkeit. Das hörte sich langsam an, war aber in Wirklichkeit rasend schnell, wenn man bedachte, dass die Galaxis Milliarden von Jahren alt war und nur einen Durchmesser von hunderttausend Lichtjahren hatte. Hätten diese raumfahrenden Zivilisationen sich ungehindert ausbreiten dürfen, dann hätte sich jede von ihnen in der lächerlichen kurzen Zeit von wenigen zehn Millionen Jahren zum Herrn über die gesamte Galaxis aufschwingen können. Wenn es so gekommen wäre — eine einzige Macht, ein sauberes imperialistisches Regime —, wäre vielleicht alles Weitere anders verlaufen.

Stattdessen hatte sich die erste Zivilisation am unteren Ende des expansionistischen Geschwindigkeitsspektrums befunden und war mit der Expansionswelle eines zweiten, jüngeren Emporkömmlings kollidiert. Diese zweite Zivilisation war zwar jünger gewesen, der ersten aber technisch ebenbürtig und auch durchaus imstande, sich aggressiv zu verhalten, wo es erforderlich war. Es kam zu einer Auseinandersetzung, die man — in Ermangelung eines besseren Ausdrucks — als galaktischen Krieg bezeichnen könnte; Reibereien zwischen den beiden wachsenden Imperien schlugen sprühende Funken, die sich zu riesigen Feuerrädern auswuchsen. Bald wurden andere aufstrebende Zivilisationen in den Konflikt hineingezogen. Irgendwann waren mehrere tausend raumfahrende Zivilisationen — mehr oder weniger stark — an den Auseinandersetzungen beteiligt, für die es in den tausend Ursprachen der Kombattanten viele verschiedene Namen gab. Für einige davon fand sich keine sinnvolle Entsprechung in einem der menschlichen Idiome. Doch mehr als eine Kultur benutzte einen Ausdruck der — unter gebührender Berücksichtigung der Kommunikationsschwellen zwischen verschiedenen Arten — als ›Morgenkrieg‹ zu übersetzen wäre.

Es war ein Krieg, der die gesamte Galaxis (und die beiden kleineren Satelliten-Galaxien, die um die Milchstraße kreisten) in Mitleidenschaft zog und nicht nur Planeten, sondern ganze Sonnen- und Sternsysteme, Sternhaufen, ja ganze Spiralarme verschlang. Khouri erfuhr, dass Spuren davon bis auf den heutigen Tag zu finden waren, wenn man nur an den richtigen Stellen suchte. In einigen Regionen der Galaxis gab es ungewöhnlich hohe Konzentrationen von toten Sternen, und die Anordnung der noch leuchtenden Sonnen entsprach nicht der Norm; über Lichtjahre verteilt fanden sich die ausgebrannten Gerippe von Waffensystemen. Wo man Sterne erwartet hätte, herrschte gähnende Leere, und um Sterne, die — infolge des bekannten Kräftespiels bei der Entstehung von Sonnensystemen — Planeten hätten haben müssen, kreiste nur noch erkalteter Schutt. Der Morgenkrieg hatte unglaublich lange gedauert — länger als die Evolutionsphase der heißesten Sterne. Aber für galaktische Verhältnisse war er von wahrhaft gnädiger Kürze gewesen; eine Zuckung nur, die alles veränderte.

Möglicherweise war keine Zivilisation unversehrt aus dieser Katastrophe hervorgegangen; möglicherweise konnte überhaupt keiner der Beteiligten als Sieger oder Besiegter gelten. Die Auseinandersetzung mochte nach galaktischen Maßstäben von kurzer Dauer gewesen sein, in der Geschichte der Arten nahm sie einen ungeheuer breiten Raum ein. Während die Kämpfe tobten, konnten neue Spezies entstehen, sich aufspalten, mit anderen verschmelzen oder diese assimilieren, sich bis zur Unkenntlichkeit verändern oder sogar den Sprung von organischen Lebensformen zu solchen auf mechanischer Grundlage vollziehen. Einige schafften sogar die Hin- und Rückreise, sie wurden Maschinen und kehrten zum organischen Leben zurück, wenn es ihren Zwecken dienlich war. Andere vergeistigten und zogen sich ein für alle Mal vom Kriegsgeschehen zurück. Wieder andere hatten sich selbst digitalisiert und mit der Speicherung in sorgsam getarnten Computermatrices Unsterblichkeit erlangt. Etliche hatten sich auch selbst geopfert.

Dennoch ging eine Zivilisation stärker als alle anderen aus dem Grauen des Krieges hervor. Vielleicht hatte sie im großen Hauen und Stechen nur eine untergeordnete Rolle gespielt und entstieg nun als Herrscherrasse den Trümmern. Vielleicht war sie auch das Ergebnis einer Koalition, eines Zusammenschlusses mehrere kampfesmüder Spezies. Es war nicht weiter von Bedeutung, und sie konnte ihre Ursprünge wohl auch selbst nicht mit gesicherten Daten belegen. Es handelte sich — zumindest damals — um eine hybride Spezies, Maschinen-Chimären, die sich einige Eigenschaften der Wirbeltiere bewahrt hatten. Sie hielten es nicht einmal für nötig, sich einen Namen zu geben.

»Aber«, sagte Fazil, »sie bekamen einen, ob sie wollten oder nicht.«

Khouri sah ihren Mann an. Während er ihr die Geschichte des Morgenkriegs erzählte, hatte sie einigermaßen begriffen, wie völlig unwirklich die Umgebung war, in der sie sich befand. Fazils Bemerkungen über die Mademoiselle hatten schließlich eine schwache Erinnerung an die wahre Gegenwart wachgerufen. Der Leitstand hatte jetzt scharfe Konturen, und sie wusste, dass diese Szene, diese manipulierte Scherbe ihrer Vergangenheit — nicht mehr war als ein Zwischenspiel. Dies war nicht der echte Fazil, auch wenn er ihr — schließlich war er aus ihren Erinnerungen entstanden — mindestens so real erschien wie der Fazil, den sie einst gekannt hatte.

»Wie nannte man sie denn?«, fragte sie.

Er zögerte ein wenig, um dann mit fast pathetischem Ernst zu antworten: »Die Unterdrücker. Aus gutem Grund, wie du bald begreifen wirst.«

Und dann erklärte er es ihr, und sie verstand. Das Wissen brach mit der Wucht und der Gleichgültigkeit eines Gletschers über sie herein, sie würde es nie wieder vergessen. Noch etwas wurde ihr klar, und das war vermutlich der Zweck der ganzen Inszenierung gewesen. Sie begriff jetzt, warum Sylveste sterben musste.

Und warum es durchaus angemessen wäre, seinen Tod mit dem Tod eines ganzen Planeten zu erkaufen, wenn das denn die einzige Möglichkeit wäre.


Die Wärter kamen genau in dem Augenblick, als Sylveste, erschöpft von der letzten Operation, in unruhige Träume fiel.

»Aufwachen, Schlafmütze«, sagte der größere der beiden, ein stämmiger Mann mit grauem Hängeschnurrbart.

»Was wollen Sie?«

»Wir werden Ihnen doch nicht die Überraschung verderben«, sagte der zweite, ein verschlagener Typ mit einem Gewehr in der Hand.

Sie machten eindeutig Umwege, um ihn zu verwirren, die Windungen waren zu zahlreich, um noch zufällig zu sein. Und sie erreichten, was sie wollten. Der Sektor, in den sie ihn brachten, war ihm fremd. Entweder hatten Slukas Leute einen alten Teil von Mantell weitgehend umgestaltet, oder dieses Tunnelsystem war völlig neu und erst seit der Besetzung gegraben worden. Ganz kurz beschlich ihn der Verdacht, man wolle ihn auf Dauer in eine andere Zelle verlegen, aber das war unwahrscheinlich — seine Kleider waren im ersten Raum zurückgeblieben und man hatte dort eben erst die Bettwäsche gewechselt. Aber Falkender hatte angedeutet, die Ankunft der von ihm erwähnten Besucher könnte sich auch auf Sylvestes Status auswirken. Vielleicht hatte man die Pläne kurzfristig geändert.

Wie er bald feststellte, waren die Pläne gleich geblieben.

Der Raum, in dem man ihn zurückließ, war nicht weniger spartanisch als seine Zelle, im Grunde ein Duplikat: Die gleichen leeren Wände, die gleiche Essensklappe, das gleiche beklemmende Gefühl, die Mauern seien unendlich dick und reichten unendlich tief in die Mesa hinein. Die Ähnlichkeit war so groß, dass er im ersten Moment zweifelte, ob ihn seine Sinne nicht getrogen hätten. Vielleicht hatten ihn die Wachen nur im Kreis herumgeführt und schließlich in sein Gefängnis zurückgebracht. Zuzutrauen war es ihnen durchaus… und wenigstens hätte es ihm Bewegung verschafft.

Doch als er sich eingehend umgesehen hatte, wusste er, dass dies nicht seine Zelle sein konnte. Pascale saß auf ihrem Bett — und als sie aufblickte, sah Sylveste, dass sie ebenso erstaunt war wie er.

»Sie haben eine Stunde Zeit«, sagte der Wärter mit dem Schnurrbart und klopfte seinem Partner auf die Schulter.

Dann schloss er die Tür. Sylveste war bereits ohne Aufforderung eingetreten.

Das letzte Mal hatte er sie im Hochzeitskleid gesehen; mit welligem, leuchtend rot gefärbtem Haar; von entoptischen Figuren umschwebt wie von einer Feenschar. Aber vielleicht hatte er das auch nur geträumt. Jetzt trug sie genau wie Sylveste einen graubraunen, ausgebeulten Overall. Das Haar war schwarz und hing ihr in Strähnen um das Gesicht, die Augen waren rot vor Müdigkeit oder von Schlägen, vielleicht auch beides. Sie wirkte kleiner und magerer, als er sie in Erinnerung hatte — vielleicht, weil sie vornüber gebeugt dasaß, die nackten Füße unter sich gezogen, und weil der weiße Raum so groß wirkte.

Sie erschien ihm schöner und zerbrechlicher als je zuvor; und nie war es ihm schwerer gefallen, sie als seine Frau zu betrachten. Er dachte zurück an die Nacht des Umsturzes, als sie geduldig in der Ausgrabungsstätte ausgeharrt und ihn mit ihren Fragen gelöchert hatte; Fragen, die später eine Wunde in sein Innerstes reißen sollten; Fragen, was er getan hatte und wozu er fähig war. Es war schon seltsam, wie der Strom der Ereignisse sie in der schrecklichen Einsamkeit dieser Zelle wieder zusammengeführt hatte.

»Man hat mir immer wieder versichert, du seiest am Leben«, sagte er. »Aber ich konnte es nie so recht glauben.«

»Mir sagte man, du seiest verletzt«, sagte Pascale. Sie sprach leise, als fürchte sie, mit lauten Worten den Traum zu zerstören. »Was passiert war, wollte man mir nicht verraten — und ich wagte nicht weiter zu fragen, aus Angst, die Wahrheit zu hören.«

»Ich wurde geblendet«, sagte Sylveste und berührte — zum ersten Mal seit der Operation — die harte Oberfläche seiner Augen. Die kleine Schmerz-Nova, an die er sich gewöhnt hatte, blieb aus, er spürte nur ein leises Unbehagen, eine Trübung, die sofort verschwand, als er die Finger wegnahm.

»Aber jetzt kannst du wieder sehen?«

»Ja. Und du bist eigentlich das Erste, wofür sich das auch lohnt.«

Sie stand vom Bett auf, schmiegte sich in seine Arme und legte ein Bein um das seine. Sie war so leicht und zart; er wagte kaum, die Umarmung zu erwidern, aus Angst, sie zu zerdrücken. Doch als er sie fester an sich zog, verstärkte auch sie den Druck, schien aber ihrerseits Angst zu haben, ihn zu verletzen. Wie zwei Geister, von denen jeder fürchtete, der andere sei nicht wirklich, hielten sie sich umschlungen. Die eine geschenkte Stunde kam ihnen vor wie eine Ewigkeit; nicht weil die Zeit sich hingeschleppt hätte, sondern weil sie in diesem Moment keine Rolle spielte. Sie stand sozusagen still, und es schien nur einer Willensanstrengung zu bedürfen, um sie auch weiter anzuhalten. Sylveste labte sich an Pascales Anblick wie ein Verdurstender; sie fand selbst in seinen starren Augen noch Menschlichkeit. Früher hatte sie nicht den Mut gefunden, ihn offen anzusehen, geschweige denn, ihm tief in die Augen zu schauen — aber das war lange her. Und Sylveste war es nie schwer gefallen, Pascale in die Augen zu blicken, denn sie brauchte nichts davon zu merken. Jetzt freilich wünschte er, sie würde spüren, wenn er sie anstarrte, damit er ihr auf diesem Umweg die beglückende Botschaft vermitteln könnte, wie betörend er sie fand.

Bald küssten sie sich voller Leidenschaft und fielen eng umschlungen auf das Bett. Im nächsten Moment hatten sie die graubraunen Mantell-Overalls abgestreift und auf den Boden geworfen. Sylveste fragte sich, ob sie beobachtet wurden. Möglich — sogar wahrscheinlich, dachte er. Aber er beschloss, sich nichts daraus zu machen. Für den Augenblick — bis zum Ende dieser Stunde — waren er und Pascale vollkommen allein; die Mauern waren wirklich unendlich dick; es gab im ganzen Universum nur diesen einen Raum. Sie liebten sich nicht zum ersten Mal, obwohl sie früher nur selten Gelegenheit dazu gehabt hatten; sie waren kaum jemals ungestört gewesen. Jetzt — die Vorstellung war fast lächerlich — waren sie Mann und Frau und hatten noch weniger Grund, sich zu verstecken. Und wieder mussten sie sich jeden intimen Augenblick stehlen. Er fühlte sich plötzlich schuldig und suchte lange nach einer Erklärung dafür. Erst als sie schließlich beieinander lagen und er den Kopf an ihrer weichen Brust vergrub, wurde ihm klar, warum er so empfand. Es gab so viel zu besprechen, und sie hatten die kostbare Zeit damit vergeudet, dem fieberhaften Verlangen ihrer Körper nachzugeben. Aber Sylveste erkannte auch, dass das so sein musste.

»Wenn es nur länger wäre«, sagte er, als sich sein Zeitgefühl wieder halbwegs normalisiert hatte und er sich fragte, wie viel von der Stunde wohl noch übrig war.

»Beim letzten Mal«, sagte Pascale, »hast du mir etwas erzählt.«

»Über Carine Lefevre, ja. Ich musste es dir sagen, verstehst du das? Es hört sich komisch an, aber ich dachte, ich müsste sterben. Deshalb musste ich dir, musste ich irgendjemandem sagen, was ich seit Jahren in meinem Inneren verschlossen hatte.«

Er spürte Pascales kühlen Schenkel auf dem seinen. Sie strich ihm mit der Hand über die Brust wie um sie sich einzuprägen. »Was da draußen geschehen ist, kann niemand beurteilen, auch ich nicht.«

»Ich war feige.«

»Nein. Es war nur dein Instinkt. Vergiss nicht, Dan, du warst am schrecklichsten Ort des ganzen Universums. Philip Lascaille ist ohne Schieber-Transform dorthin geflogen — und du weißt, was aus ihm geworden ist. Du hast genug Tapferkeit bewiesen, indem du bei Verstand geblieben bist. Die Flucht in den Wahnsinn wäre leichter gewesen.«

»Sie hätte überleben können. Verdammt, wenn ich sie nur da draußen allein zurückgelassen hätte — selbst das wäre vertretbar gewesen, wenn ich hinterher den Mut gefunden hätte, die Wahrheit zu sagen. Das wäre eine Art von Sühne gewesen. Aber dass ich noch Lügen über sie erzählte, nachdem ich sie getötet hatte, das hatte sie weiß Gott nicht verdient.«

»Nicht du hast sie getötet, sondern der Schleier.«

»Nicht einmal das weiß ich mit Sicherheit.«

»Wie?«

Er legte sich auf die Seite und sah sie an. Früher hätten seine Augen ihr Bild für die Nachwelt speichern können. Doch diese Funktion existierte nicht mehr.

»Ich meine«, sagte Sylveste, »ich weiß nicht einmal, ob sie da draußen tatsächlich gestorben ist — es müsste nicht unbedingt sofort gewesen sein. Ich habe schließlich überlebt — und ich war derjenige, dessen Schieber-Transform zerfiel. Sie hätte bessere Chancen gehabt, wenn auch nicht wesentlich. Aber wenn sie nun durchgekommen wäre, so wie ich? Wenn sie es irgendwie geschafft hätte zu überleben, aber keine Verbindung zu mir aufnehmen konnte? Bis ich wieder zu mir kam, war sie womöglich schon auf halbem Wege zum Schleierrand. Nachdem ich das Lichtschiff repariert hatte, dachte ich nicht mehr daran, nach ihr zu suchen. Es kam mir gar nicht in den Sinn, dass sie noch leben könnte.«

»Aus gutem Grund«, sagte Pascale. »Weil sie nämlich tot war. Du magst dein Verhalten jetzt in Frage stellen, aber damals sagte dir deine Intuition, dass sie tot war. Und wenn sie überlebt hätte — dann hätte sie auch eine Möglichkeit gefunden, sich bei dir zu melden.«

»Das weiß ich nicht. Und ich werde es nie erfahren.«

»Dann hör auf, dich damit zu quälen. Sonst kommst du von der Vergangenheit niemals los.«

»Hör zu«, sagte er. Eine von Falkenders Bemerkungen war ihm eingefallen. »Kannst du mit jemandem sprechen, abgesehen von den Wärtern? Mit Sluka oder ihren Anhängern vielleicht?«

»Wer ist Sluka?«

»Die Frau, die uns hier festhält.« Sylveste begriff mit einem gähnenden Gefühl der Leere, dass man ihr so gut wie nichts erzählt hatte. »Ich kann es dir nur in ganz einfachen Worten erklären, für mehr bleibt keine Zeit. Die Leute, die deinen Vater getötet haben, waren Fluter, Anhänger des Wahren Weges, soweit ich das sagen kann, oder jedenfalls eine Untergruppe dieser Bewegung. Wir sind in Mantell.«

»Ich wusste, dass wir außerhalb von Cuvier sein mussten.«

»Nach allem, was ich hörte, wurde Cuvier angegriffen.« Den Rest, dass der oberirdische Teil der Stadt wahrscheinlich so gut wie unbewohnbar war, behielt er für sich. Das brauchte sie nicht zu erfahren — jedenfalls nicht jetzt, schließlich war Cuvier der einzige Ort, wo sie je zu Hause gewesen war. »Ich weiß nicht genau, wer die Stadt zurzeit kontrolliert — loyale Anhänger deines Vaters oder eine rivalisierende Splittergruppe des Wahren Weges. Sluka erwähnte, dein Vater hätte sie nicht gerade mit offenen Armen aufgenommen, nachdem er Cuvier damals an sich gebracht hatte. Das hat sie ihm offenbar so übel genommen, dass sie ihn schließlich ermorden ließ.«

»Wie kann man so nachtragend sein?«

»Sluka ist vermutlich nicht unbedingt der seelisch stabilste Mensch auf dem Planeten. Übrigens glaube ich nicht, dass sie auch unsere Gefangennahme geplant hatte — aber nun hat sie uns und weiß nicht so recht, was sie mit uns anfangen soll. Wir könnten noch wertvoll werden, deshalb kann sie uns nicht einfach um die Ecke bringen lassen… doch bis dahin…« Sylveste hielt inne. »Jedenfalls könnte sich bald eine Veränderung ergeben. Von dem Mann, der meine Augen repariert hat, weiß ich, dass Gerüchte über Besucher im Umlauf sind.«

»Was für Besucher?«

»Das habe ich auch gefragt. Aber er hat mir nicht mehr verraten.«

»Man könnte gewisse Vermutungen anstellen, nicht wahr?«

»Wenn irgendetwas die Lage auf Resurgam verändern könnte, dann die Ankunft von Ultras.«

»Für Remilliod ist es noch etwas zu früh.«

Sylveste nickte. »Wenn wirklich ein Schiff im Anflug ist, dann kannst du darauf wetten, dass es nicht Remilliod ist. Aber wer könnte sonst mit uns Geschäfte machen wollen?«

»Vielleicht geht es ja gar nicht um Geschäfte.«

Es mochte ein Zeichen von Arroganz sein, aber für Volyova war es physisch unerträglich, jemand anderem ihre Arbeit zu überlassen, wie absurd die Alternative auch sein mochte. So war sie ganz zufrieden damit — falls das der richtige Ausdruck war —, dass Khouri im Leitstand saß und sich nach Kräften bemühte, das Weltraumgeschütz vom Himmel zu schießen. Sie gab auch ohne weiteres zu, dass sie nur mit Khouri überhaupt eine vernünftige Chance hatte. Aber deshalb war sie noch lange nicht bereit, die Hände in den Schoß zu legen und abzuwarten, wie die Sache ausging. Volyova wusste genau, dass sie das nicht aushalten würde. Was sie brauchte — wonach sie gierte — war eine Idee, um das Problem von einer anderen Seite her anzugehen.

»Svinoi«, fluchte sie, denn so angestrengt sie auch überlegte, die Erleuchtung wollte nicht kommen. Jedes Mal, wenn sie glaubte, einen Ansatzpunkt, einen Weg gefunden zu haben, das Geschütz aufzuhalten, waren ihre Gedanken bereits vorausgeeilt und hatten irgendwo einen logischen Fehler in der Argumentationskette gefunden. Einerseits war es ein Beweis für ihre geistige Flexibilität, dass sie imstande war, ihre eigenen Lösungen zu hinterfragen, sobald sie ihr bewusst wurden, ja, beinahe noch vorher. Andererseits konnte sie sich — es war zum Verrücktwerden — des Eindrucks nicht erwehren, dass sie alles tat, um ihre eigenen Erfolgschancen zu sabotieren.

Und jetzt musste sie sich auch noch mit dieser Anomalie befassen.

Sie hatte sich für diese Bezeichnung entschieden, weil sie die ganze Mischung aus Unverständnis und Empörung ausdrückte, die sie jedes Mal überfiel, wenn sie sich zwang, sich mit dem Thema zu konfrontieren. Das Thema war, was in Khouris Kopf vorging. Und da Khouri jetzt in die abstrakte Geisteslandschaft des Waffenraums abgetaucht war, schloss die Anomalie zwangsläufig den Leitstand und damit auch Volyova mit ein, die ihn schließlich eingerichtet hatte. Sie konnte die Situation über die Neuralanzeigen an ihrem Armband genau überwachen. Kein Zweifel, im Schädel ihres Waffenoffiziers tobte ein heftiger Sturm. Und dieser Sturm streckte bereits die ersten, unruhigen Fühler in den Waffenraum aus.

Volyova wusste, dass die einzelnen Teile irgendwie zusammenhingen. Die Probleme mit dem Leitstand, beginnend mit Nagornys Wahnsinn, die Sonnendieb-Geschichte und später die Selbstaktivierung des Weltraumgeschützes. Auch der Sturm in Khouris Kopf — die Anomalie — gehörte dazu. Aber zu wissen, dass eine Lösung oder zumindest eine Antwort existierte — ein Gesamtbild, das alles erklärte —, half ihr keinen einzigen Schritt weiter.

Vielleicht am meisten ärgerte sie sich darüber, dass sie selbst sich von dem Problem ablenken ließ, anstatt sich ausschließlich der unmittelbaren Krise zu widmen, die doch viel dringender war. Volyova kam sich vor, als habe sie eine frühreife Schulklasse in ihrem Kopf: jedes einzelne Kind war hochintelligent und gemeinsam wären sie zu überwältigenden Leistungen fähig — sie bräuchten sich nur zusammenzutun. Aber einige Schüler passten nicht auf; sie schauten verträumt aus dem Fenster und überhörten ihre Ermahnungen, sich auf die Gegenwart zu konzentrieren, weil sie ihre eigenen fixen Ideen anregender fanden als den langweiligen Lehrplan, den sie ihnen unbedingt vorkauen wollte.

Ein Gedanke drängte sich vor; eine Erinnerung. Sie bezog sich auf eine Reihe von Firewall-Systemen, die sie vor mehr als vier Jahrzehnten Schiffszeit installiert hatte, eine Art letzter Bastion, um im Notfall ein Eindringen zerstörerischer Viren zu verhindern. Sie hätte nie gedacht, dass sie jemals zum Einsatz kommen würden, schon gar nicht unter solchen Umständen.

Immerhin erinnerte sie sich daran.

»Volyova«, keuchte sie in ihr Armband und bemühte sich, ihrem Gedächtnis die einschlägigen Befehle zu entreißen. »Anti-Guerilla-Protokolle aufrufen; Schweregrad Lambda-Plus, maximale Kampfbereitschaft, Einwilligung und Zweitkontrolle als erfolgt voraussetzen, Verweigerungsunterdrückung auf volle Autonomie, Armageddon-Defaults Stufe Neun, Sicherungs-Übersteuerung Rot Eins Alpha, Privilegien des Triumvirates auf allen Ebenen in Kraft setzen; Privilegien für Nichtangehörige des Triumvirats aufheben.« Sie holte Atem und hoffte, sich mit dieser Kette von Beschwörungen genügend Türen ins Herz der Schiffsmatrix geöffnet zu haben. »Und jetzt«, sagte sie: »Programm Code Palsy suchen und starten.« Leise fügte sie hinzu: »Und mach schnell, verdammt noch mal!«

Palsy war das Programm zur Schließung der Firewalls, die sie eingerichtet hatte. Sie hatte es selbst geschrieben — aber das war so lange her, dass sie kaum noch wusste, wozu es gut war und wie viele Bereiche des Schiffes es vermutlich beeinflussen würde. Es war ein Risiko — sie wollte so viel lahm legen, um das Weltraumgeschütz zu behindern, aber natürlich nicht so viel, dass sie sich selbst damit blockierte.

»Svinoi, Svinoi, Svinoi…«

Über ihr Armband liefen Fehlermeldungen, die ihr freundlicherweise mitteilten, verschiedene Systeme, die Palsy aufzurufen und außer Kraft zu setzen versuchte, seien dem Zugriff des Programms inzwischen entzogen; es habe keine Zugangsberechtigung mehr. Gesperrt waren die meisten Schiffssysteme insbesondere auf den tieferen Ebenen. Hätte Palsy richtig funktioniert, dann wäre die Wirkung auf das Schiff gewesen wie ein Schlag auf den Kopf eines Menschen — sofortige Abschaltung aller nicht lebenswichtigen Systeme, allgemeiner Zusammenbruch und eine Art Heilschlaf. Es hätte schwere Schäden angerichtet, aber hauptsächlich auf oberflächlichem Niveau und von einer Art, die Volyova hätte reparieren oder kaschieren oder für die sie Ausreden hätte erfinden können, bevor die anderen Besatzungsmitglieder erwachten. Aber Palsy hatte anders gewirkt. Das Schiff hatte, um beim Vergleich mit einer menschlichen Erkrankung zu bleiben, eher einen leichten Schlaganfall erlitten, der lediglich die äußeren Hautschichten lahmte und auch die nur zum Teil. Das passte ganz und gar nicht in Volyovas Pläne.

Zum Ausgleich waren nun sicher die autonomen Waffen an der Außenhülle blockiert, die nicht direkt vom Leitstand aus gesteuert wurden und bereits das Shuttle gesprengt hatten. Jetzt konnte sie wenigstens diesen Schachzug noch einmal wiederholen. Natürlich war das Geschütz jetzt weiter entfernt; man konnte ihm nicht mehr so einfach den Weg versperren. Aber wenn es ihr wenigstens gelänge, ein zweites Shuttle im All auszusetzen, eröffneten sich damit ganz neue Möglichkeiten.

Sekunden später war ihr Optimismus zu traurigen Krümeln zerfallen. Vielleicht war die Wirkung beabsichtigt, vielleicht waren in den vergangenen vierzig Jahren auch verschiedene Schiffssysteme durcheinander geraten und hatten neue Verbindungen gebildet, so dass Palsy Teile abschaltete, mit denen es eigentlich niemals hätte in Kontakt kommen dürfen… wie auch immer, die Shuttles funktionierten nicht, sie waren durch Firewalls abgeschüttet. Nur halbherzig probierte sie die Übersteuerungsbefehle für Angehörige des Triumvirates, aber nichts geschah. Kein Wunder: Palsy hatte die Befehlsstrukturen brutal unterbrochen und Gräben aufgerissen, die mit Software-Interventionen nicht zu überbrücken waren. Um die Shuttles wieder online zu bringen, musste Volyova jeden einzelnen dieser Gräben manuell rückgängig machen — und dazu musste sie erst die Karte der Anschlüsse finden, die sie vor vier Jahrzehnten angelegt hatte. Nach vorsichtiger Schätzung eine Arbeit von mehreren Tagen.

Und ihr standen nur wenige Minuten zur Verfügung.

Sie stürzte — nicht in ein tiefes seelisches Loch, sondern in einen bodenlosen Gravitationsschacht. Erst ziemlich weit unten — von den kostbaren Minuten waren schon etliche vergangen — fiel ihr etwas ein, eine so nahe liegende Lösung, dass sie schon längst darauf hätte kommen müssen.

Und Volyova rannte los.


Khouri wurde unsanft in den Leitstand zurückgeschleudert.

Ein schneller Blick auf die Status-Uhren bestätigte, was Fazil ihr versprochen hatte: in Echtzeit war keine einzige Sekunde vergangen. Ein toller Trick; sie hatte ganz deutlich das Gefühl, fast eine Stunde im Zelt verbracht zu haben, dabei war die ganze Episode erst einen Sekundenbruchteil zuvor geplant worden. In Wirklichkeit hatte sie nichts erlebt, es war kaum zu fassen. Zum Aufatmen blieb dennoch keine Zeit — schon bevor die Erinnerungsschleife aktiviert worden war, hatten sich die Ereignisse überstürzt. Seither hatte die Situation nichts von ihrer Dringlichkeit eingebüßt.

Das Weltraumgeschütz musste unmittelbar vor der Detonation stehen: die Schwerkraftemissionen waren vom Schiff aus nicht mehr zu orten — wie bei einer Trillerpfeife, die in den Ultraschallbereich eingetreten war. Oder war die Waffe vielleicht schon abschussbereit und die Mademoiselle zögerte noch? Ob sie so großen Wert darauf legte, Khouri auf ihrer Seite zu haben? Wenn das Geschütz versagte, wäre sie wieder das einzige Instrument.

»Geben Sie auf«, mahnte die Mademoiselle. »Geben Sie auf, Khouri. Sie müssen doch einsehen, dass Sonnendieb eine fremde Intelligenz ist! Und Sie unterstützen ihn!«

Khouri hatte kaum noch die Kraft, in Gedanken eine Antwort zu formulieren.

»Ich glaube durchaus, dass er uns fremd ist. Die Frage ist nur, wie ich Sie einzustufen habe.«

»Khouri, dafür ist jetzt wirklich keine Zeit!«

»Bedauere, aber ich finde, gerade jetzt sollten wir die Karten auf den Tisch legen.« Während Khouri ihre Gedanken übermittelte, führte sie den Kampf auf ihrer Seite weiter, obwohl ein Teil von ihr — der Teil, der überzeugt worden war von dem, was sie gesehen hatte — sie anflehte, doch aufzugeben und der Mademoiselle die Kontrolle über das Geschütz zu überlassen. »Sie wollten mir einreden, Sylveste habe Sonnendieb von den Schleierwebern mitgebracht.«

»Nein; ich habe Ihnen nur die Fakten gezeigt, und Sie haben daraus den einzig logischen Schluss gezogen.«

»Den Teufel habe ich getan.« Khouri entwickelte neue Kräfte, aber sie reichten noch immer nicht aus, um die Entscheidung herbeizuführen. »Sie hatten es die ganze Zeit schon darauf angelegt, mich gegen Sonnendieb einzunehmen. Das mag gerechtfertigt sein oder auch nicht — vielleicht ist er wirklich ein übles Schwein —, aber es wirft doch eine Frage auf. Woher wollen Sie das alles wissen? Sie können es gar nicht wissen. Es sei denn, Sie wären selbst ein Alien.«

»Nehmen wir — bis auf weiteres — an, das wäre der Fall…«

Khouri wurde abgelenkt. Etwas Neues war aufgetaucht, etwas von solcher Wichtigkeit, dass es den Kampf für einen Moment in den Hintergrund treten ließ. Sie entspannte sich und zog einen weiteren Teil ihres Bewusstseins ab, um die Situation zu taxieren.

Noch etwas stürzte sich ins Kampfgetümmel.

Der Neuankömmling befand sich nicht im Waffenraum und er war auch keine cybernetische Entität, sondern ein reales Gebilde, das bisher nicht — oder allenfalls unbemerkt — in der Arena präsent gewesen war. Als Khouri es entdeckte, war es dem Lichtschiff sehr nahe; gefährlich nahe für ihre Begriffe — es hatte sich daran festgesaugt wie ein Parasit.

Das Ding hatte die Größe eines sehr kleinen Raumschiffs. Es maß vom Bug bis zum Heck nicht mehr als zehn Meter. Von der Form her war es ein dicker, gerippter Torpedo, der mit acht gegliederten Beinen über den Schiffsrumpf spazierte. Wie durch ein Wunder wurde er nicht von denselben Verteidigungswaffen beschossen, die das Shuttle zerstört hatten.

»Ilia…«, hauchte Khouri. »Ilia, Sie wollen doch nicht ernsthaft…« Und gleich darauf: »Scheiße, genau das war Ihre Idee!«

»Was für eine Torheit«, bemerkte die Mademoiselle.

Der Spinnenraum hatte sich mit allen acht Beinen gleichzeitig vom Rumpf gelöst. Da das Schiff immer noch abbremste, wurde er scheinbar mit zunehmender Geschwindigkeit nach vorne gezogen. Normalerweise, hatte Volyova gesagt, müsste er in diesem Moment seine Greifer abschießen, um die Verbindung mit dem Schiff wiederherzustellen. Aber sie hatte wohl den Mechanismus abgeschaltet, denn der Spinnenraum stürzte weiter, bis seine Triebwerke ansprangen. Khouri beobachtete die Szene in verschiedenen Medien, darunter einigen, die ihr ohne die Waffenraum-Implantate nicht zugänglich gewesen wären, doch ein kleiner Teil des sensorischen Stroms wurde optisch von den Außenkameras des Schiffs übertragen. So konnte sie verfolgen, wie die Triebwerke violett aufglühten, wie aus den Öffnungen im mittleren Bereich, wo der torpedoförmige Rumpf mit dem Türmchen und den jetzt nutzlosen Beinen verbunden war, in rascher Folge nadelfeine Blitze zuckten und die Beine von unten erleuchteten. Der Sturz wurde abgebremst und die Gegenbewegung eingeleitet. Der Spinnenraum setzte sich wieder neben das Schiff. Aber Volyova brachte ihn nicht so nahe heran, dass sie die Greifer hätte einsetzen können. Nach wenigen Sekunden entfernte er sich seitwärts, beschleunigte und strebte auf das Geschütz zu.

»Ilia… ich finde wirklich nicht…«

»Vertrauen Sie mir.« Die Stimme des Triumvirs drang in den Waffenraum, als käme sie vom anderen Ende des Universums, dabei war Volyova nur wenige Kilometer entfernt. »Mit etwas gutem Willen könnte man sagen, ich habe einen Plan. Zumindest ist es eine Möglichkeit, kämpfend unterzugehen.«

»Der letzte Satz gefällt mir nicht so gut.«

»Mir auch nicht, wenn ich ehrlich bin.« Volyova zögerte. »Übrigens, Khouri, wenn alles vorüber ist… vorausgesetzt, wir sind beide dann noch am Leben, wovon man im Moment nicht unbedingt ausgehen kann… sollten wir uns auf einen kleinen Plausch zusammensetzen.«

Vielleicht redete sie nur, um ihre Angst zu überspielen. »Einen kleinen Plausch worüber?«

»Über alles, was passiert ist. Die Probleme mit dem Leitstand. Für Sie wäre es vielleicht eine gute Gelegenheit, sich ein paar… unangenehme Dinge von der Seele zu reden, über die Sie besser schon früher mit mir gesprochen hätten.«

»Zum Beispiel?«

»Zum Beispiel wüsste ich gerne, wer Sie sind.«

Der Spinnenraum kam dem Geschütz rasch näher. Er steuerte seine Geschwindigkeit mit den Triebwerken, blieb aber relativ auf gleicher Höhe mit dem Schiff und hielt die Beschleunigung auf dem Standard von 1 Ge. Selbst mit ausgefahrenen Beinen war er nur knapp ein Drittel so groß wie das Weltraumgeschütz. Er erinnerte jetzt weniger an eine Spinne als an einen Tintenfisch, der im Begriff war, von einem langsam daherziehenden Wal verschlungen zu werden.

»Dafür wird ein kleiner Plausch wohl nicht genügen«, sagte Khouri. Es hatte wirklich keinen Sinn, dachte sie — vermutlich nicht ohne Berechtigung — vor Volyova jetzt noch Geheimnisse haben zu wollen.

»Gut. Und nun müssen Sie mich entschuldigen; ich möchte etwas probieren, was hart an der Grenze von schlechterdings unmöglich anzusiedeln ist.«

»Sie meint selbstmörderisch«, kommentierte die Mademoiselle.

»Sie amüsieren sich köstlich, wie?«

»Ungeheuer — besonders, weil alles, was hier geschieht, völlig außerhalb meiner Kontrolle liegt.«

Volyova hatte den Spinnenraum unweit der langgezogenen Spitze des Waffensystems in Position gebracht, war aber zu weit entfernt, als dass die zappelnden Metallbeine auf der narbigen Oberfläche hätten Halt finden können. Außerdem stand die Waffe nicht mehr still, sondern versetzte sich mit kräftigen Triebwerksstößen in langsame, aber unberechenbare Seitwärtsschwingungen. Offenbar wollte sie Volyova ausweichen, war aber durch die eigene Trägheit in ihren Bewegungen behindert. Für Khouri sah es aus, als fürchte sich das mächtige Geschütz der Höllenklasse vor einer kleinen Spinne. Dann hörte sie vier Schläge, fast zu rasch hintereinander, um sie unterscheiden zu können. Als habe eine Projektilwaffe ihr Magazin geleert.

Vier Greiferleinen schossen aus dem Rumpf des Spinnenraums und berührten lautlos die Spitze des Weltraumgeschützes. Am Ende der Leinen saßen Penetratoren, die sich zehn bis zwanzig Zentimeter tief in ihr Opfer hineinbohrten und dann auseinander klappten. Wenn sie erst zugebissen hatten, waren sie nicht mehr zu lösen. Die Führungsleinen glänzten im Schein der Triebwerke. Sie waren jetzt straff gespannt. Der Spinnenraum zog sich an das Geschütz heran, obwohl es seine schwerfälligen Ausweichmanöver fortsetzte.

»Großartig«, sagte Khouri. »Ich war so weit, das Drecksding abzuschießen — was mache ich jetzt?«

»Sie schießen, wenn Sie die Chance bekommen«, sagte Volyova. »Wenn Sie die Druckwelle nicht gerade auf mich lenken, habe ich eine Chance — der Spinnenraum ist besser gepanzert, als Sie glauben.« Sie schwieg einen Moment lang, dann rief sie: »Gut! Jetzt gehörst du mir, du mieses Stück Schrott.«

Die Beine des Spinnenraums hatten sich um die Spitze gelegt. Das Geschütz machte offenbar keinen Versuch mehr, ihn abzuschütteln. Das mochte seine Gründe haben. Khouri stellte fest, dass Volyova mit ihrem Husarenstück nicht viel erreicht hatte. Der Spinnenraum konnte das Weltraumgeschütz sicher nicht entscheidend behindern.

Inzwischen war der Kampf um die Kontrolle der Rumpfwaffen aufs Neue entbrannt. Gelegentlich spürte Khouri ein leichtes Nachlassen, wenn die Systeme der Mademoiselle für einen Moment ins Hintertreffen gerieten, aber diese kleinen Ausrutscher waren immer zu kurz, um zielen und schießen zu können. Wenn Sonnendieb sie unterstützte, so spürte sie nichts davon, wobei auch das womöglich nur ein Beweis für seine unglaubliche Gerissenheit war. Ohne Sonnendiebs Gegenwart hätte sie den Kampf wohl längst verloren. Hätte er die Mademoiselle nicht abgelenkt, sie hätte die zerstörerische Sprengkraft des Geschützes bereits entfesselt. Doch im Moment spielte das kaum eine Rolle. Sie hatte soeben begriffen, was Volyova tatsächlich vorhatte. Der Spinnenraum zündete jetzt alle seine Triebwerke und stemmte sich damit gegen die Bewegung des größeren, aber schwerfälligeren Weltraumgeschützes.

Volyova zog das Geschütz zum Heck der Unendlichkeit, auf den nächstgelegenen, bläulich weiß sprühenden Antriebsstrahl des Lichtschiffes zu. Sie wollte das verdammte Ding zerstören, indem sie es in den glühend heißen Abgasstrom des Synthetiker-Triebwerks bugsierte.

»Ilia«, sagte Khouri. »Haben Sie sich das… gut überlegt?«

»Überlegt?« Das war unverkennbar ein leises Lachen, auch wenn es nicht ganz echt klang. »Es ist das Unüberlegteste, was ich jemals getan habe, Khouri. Aber ich sehe im Moment nicht viele Alternativen. Jedenfalls nicht, wenn Sie Ihre Rumpfwaffen nicht verdammt schnell feuerbereit kriegen.«

»Ich… arbeite daran.«

»Dann strengen sie sich noch etwas mehr an und stören Sie mich nicht. Mir geht gerade ziemlich viel im Kopf herum, wie Sie sich vielleicht denken können.«

»Wahrscheinlich sieht sie ihr Leben an sich vorüberziehen.«

»Ach, Sie schon wieder.« Khouri beachtete die Mademoiselle nicht weiter. Sie hatte inzwischen erkannt, dass ihre Kommentare nur geschickte Ablenkungsmanöver waren; sie griff damit aktiv in den Kampf ein und stand keineswegs so unbeteiligt daneben, wie sie behauptete.

Noch knapp fünfhundert Meter, dann hätte Volyova es geschafft, das Geschütz in die Flammen zu zerren. Es sträubte sich jetzt, indem es wahllos seine Triebwerke zündete, brachte aber insgesamt nicht so viel Schubkraft auf wie der Spinnenraum. Das leuchtet ein, dachte Khouri. Als seine Erbauer den Hilfsantrieb konstruierten, der es bewegen und in Position bringen sollte, hatten sie nicht in erster Linie darauf Wert gelegt, dass es sich in einem Ringkampf behaupten konnte.

»Khouri«, sagte Volyova, »in etwa dreißig Sekunden lasse ich das Svinoi los. Wenn ich mich nicht verrechnet habe, kann dann kein noch so starker Korrekturschub mehr verhindern, dass es in den Strahl getragen wird.«

»Das ist doch gut so?«

»An sich schon. Trotzdem sollte ich Sie warnen…« Volyovas Stimme schwankte stark, der Empfang war gestört. Sie kam den brodelnden Energien des Antriebsstrahls näher, als es für organische Lebewesen eigentlich ratsam war. »Mir ist eben Folgendes eingefallen: Selbst wenn es mir gelingen sollte, das Geschütz zu zerstören… könnte ein Teil der Explosionsenergie — vielleicht in Form von exotischen Teilchen — mit dem Strahl in den Antriebskern gelangen.« Sie legte eine wohlberechnete Pause ein. »Die Ergebnisse wären nicht unbedingt… wünschenswert.«

»Vielen Dank«, sagte Khouri. »Das hebt die Moral ganz ungemein.«

»Verdammt«, sagte Volyova leise. »Mein Plan stößt soeben auf eine kleine Schwierigkeit. Das Geschütz muss den Spinnenraum mit einem elektromagnetischen Impuls beschossen haben, oder die Strahlung aus dem Antrieb führt zu Störungen in der Hardware.« Man hörte — oder glaubte zu hören —, wie jemand wiederholt versuchte, uralte Metallschalter auf einer Konsole umzulegen. »Ich will damit sagen«, erklärte Volyova, »dass ich mich offenbar nicht lösen kann. Ich hänge an dem Drecksding fest.«

»Dann schalten Sie den verdammten Antrieb ab — das können Sie doch?«

»Natürlich; wie hätte ich sonst Nagorny getötet?« Sehr zuversichtlich klang das nicht. »Njet… kein Zugriff auf den Antrieb; habe wohl jede Einwirkung unmöglich gemacht, als ich Palsy…« Jetzt faselte sie. »Khouri, ich fange an, ein klein wenig zu verzweifeln… wenn Sie diese Waffen…«

Daraufhin meldete sich die Mademoiselle zu Wort. »Sie ist schon tot, Khouri«, stellte sie mit verständlicher Genugtuung fest. »Und sie müssten jetzt in einem Winkel schießen, bei dem sich die Hälfte der Waffen abschalten würde, um nicht das Schiff zu beschädigen. Wenn Sie mit den übrigen das Weltraumgeschütz auch nur streiften, hätten Sie Glück gehabt.«

Sie hatte Recht — Khouri war fast entgangen, dass sich ganze Blöcke der potenziell verfügbaren Verteidigungssysteme selbsttätig gesichert hatten, um nicht in Gefahr zu geraten, auf wichtige Schiffskomponenten zu zielen. Damit blieben nur die leichtesten Waffen übrig, die ohnehin keine größeren Schäden anrichten konnten.

Ein Widerstand brach zusammen — vielleicht deshalb.

Khouri hatte mit einem Mal mehr Kontrolle über die Waffen. Und sie betrachtete es sogar als Vorteil, dass die Feuerkraft der verbliebenen Systeme beschränkt war. Sie hatte ihre Pläne geändert. Sie brauchte keine brutale Gewalt mehr, sie brauchte chirurgische Präzision.

Khouri nützte die Atempause, bevor die Mademoiselle die Waffen zurückeroberte, um die ursprünglichen Zieleinstellungen zu löschen und neue Koordinaten einzugeben. Ihre Anweisungen waren sehr präzise. Die Waffen setzten sich so langsam in Bewegung, als schwämmen sie in Sirup, dann richteten sie sich auf das Objekt, das sie ausgewählt hatte. Nicht das Weltraumgeschütz, sondern etwas anderes…

»Khouri«, begann die Mademoiselle, »Sie sollten sich das wirklich noch einmal überlegen…«

Aber Khouri hatte schon abgedrückt.

Plasmafontänen strömten auf das Weltraumgeschütz zu und trafen — nicht das Geschütz selbst, sondern den Spinnenraum. Alle acht Beine und danach alle vier Greifleinen wurden sauber durchtrennt. Der Raum wurde sozusagen in Kniehöhe amputiert und zugleich vom Lichtspeer des Antriebs weggeschleudert.

Das Weltraumgeschütz schwebte in den Strahl wie ein Falter in eine brennende Laterne.

Was dann geschah, war so unmenschlich schnell vorüber, dass Khouri es erst im Nachhinein richtig erfasste. Die Außenhülle des Weltraumgeschützes verdampfte im Bruchteil einer Sekunde zu einer größtenteils metallischen Wolke. Ob der Kontakt mit dem Abgasstrahl das Folgende auslöste oder ob das Waffensystem nicht anders konnte, als im Augenblick seiner Zerstörung sein Innerstes nach außen zu kehren, war nicht zu entscheiden.

Wie auch immer, die Dinge entwickelten sich nicht ganz im Sinne ihrer Erfinder.

Mehr oder weniger im gleichen Moment stieß das, was unter der ausgeweideten Hülle noch übrig war, einen langen Gravitationsrülpser aus, ein Raumzeitbäuerchen von gewaltiger Durchschlagskraft. Es richtete zwar in unmittelbarer Nähe des Geschützes verheerende Schäden an der Realität an, aber nicht so, wie ursprünglich geplant. Ein Regenbogen gebeugten Sternenlichts umflackerte die gerinnende Plasmaenergie. Eine Millisekunde lang bildete der Regenbogen fast eine stabile Kugel, dann begann er zu zittern und zu schillern wie eine Seifenblase kurz vor dem Platzen. Einen Millisekundenbruchteil später implodierte die Kugel und verschwand mit exponentieller Beschleunigung.

Im nächsten Augenblick war nichts mehr da. Nicht einmal Trümmer schwebten vor der sternenübersäten Kulisse des Normalraums.

Dann erschien ein Lichtpunkt, der sich ins Ultraviolette verfärbte. Er vergrößerte sich und schwoll zu einer bedrohlich grellen Kugel an. Die expandierende Plasmawelle traf das Schiff und erzeugte so heftige Erschütterungen, dass Khouri sie selbst in ihrem kardanisch aufgehängten Kampfsitz spürte. Ein Datenschwall sagte ihr — obwohl sie es gar nicht unbedingt wissen wollte —, die Explosion hätte keines der Rumpfsysteme schwer beschädigt und die kurze, intensive Hintergrundstrahlung durch den Blitz sei innerhalb tolerabler Grenzwerte geblieben. Die gravimetrischen Werte seien schlagartig auf Normal zurückgefallen.

Die Raumzeit war angestochen, auf Quantenniveau durchstoßen worden und hatte einen winzigen Blitz Planck-Energie abgegeben. Winzig im Verhältnis zu den Energien, die normalerweise im Raumzeit-Schaum brodelten. Doch jenseits der Grenzen des Normalraums wirkte der lächerlich geringe Ausstoß, als würde im Nachbarhaus eine Atombombe gezündet. Das Loch in der Raumzeit hatte sich sofort wieder geschlossen, bevor größerer Schaden entstehen konnte. Als Spuren des Geschehens blieben nur einige Rest-Monopole zurück, schwarze Löcher mit geringer Masse und andere exotische Teilchen.

Das Weltraumgeschütz hatte katastrophal versagt.

»Großartig«, sagte die Mademoiselle. Es klang tief enttäuscht. »Sie können wirklich stolz auf sich sein.«

Doch Khouri interessierte sich nur für die seltsame Leere, die durch den Waffenraum auf sie zugerast kam. Sie versuchte, sich rechtzeitig zurückzuziehen, die Verbindung zu kappen…

Aber sie war nicht schnell genug.

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