Siebenunddreißig

Im Inneren von Cerberus

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Die letzte Schale war innen hohl.

Drei Tage hatte er bis hierher gebraucht; ein Tag war vergangen, seit er Sajakis leeren Raumanzug auf dem Boden der dritten Schale zurückgelassen hatte, die jetzt mehr als fünfhundert Kilometer über ihm lag. Wenn er erst anfing, sich die Entfernungen zu vergegenwärtigen, würde er unmerklich verrückt werden, also schüttete er sich sorgfältig dagegen ab. Die vollkommen fremdartige Umgebung war beunruhigend genug; wozu seine Angst mit einer Dosis Klaustrophobie verstärken? Aber die Wände schlossen nicht ganz dicht. Hinter jedem Gedanken lauerte die würgende Angst davor, dass er jederzeit mit einer unbedachten Bewegung das empfindliche Gleichgewicht stören, eine Katastrophe auslösen und diese unglaublich gewaltige Decke zum Einsturz bringen könnte.

Jede Schicht war ein klein wenig anders. Er passierte immer neue Phasen der amarantinischen Bautechnik und vermutlich auch der amarantinischen Geschichte — aber so einfach war es nicht. Die Ebenen wurden nicht stetig fortschrittlicher oder primitiver, je tiefer er kam, sie waren vielmehr Ausdruck verschiedener Ansätze und unterschiedlicher Gestaltungsprinzipien. Es war, als hätten die ersten Amarantin bei ihrer Ankunft hier etwas gefunden (wobei er noch nicht ahnte, was das gewesen sein könnte) und sich entschlossen, dieses Etwas mit einer künstlichen Schale zu umgeben, die gepanzert und zur Verteidigung ausgerüstet war. Dann musste eine neue Gruppe eingetroffen sein, die diese Schale mit einer weiteren umgeben wollte, vielleicht weil sie ihre eigene Bewehrungstechnik für sicherer hielt. Die letzte Gruppe hatte das Verfahren noch einen logischen Schritt weiter getrieben und die Befestigungen so getarnt, dass sie nicht mehr künstlich wirkten. Über welche Zeiträume sich die Bautätigkeit erstreckt hatte, ließ sich unmöglich schätzen, also verzichtete er darauf. Vielleicht waren die verschiedenen Schalen nahezu gleichzeitig errichtet worden — vielleicht hatten die Arbeiten auch die Jahrtausende zwischen Sonnendiebs Aufbruch mit den Verbannten und seiner Rückkehr als Gott in Anspruch genommen. Was er in Sajakis Anzug fand, hatte ihm natürlich nicht gerade Mut gemacht.


»Er war nie da«, meldete sich Calvin in seinen Gedanken. »Du dachtest die ganze Zeit, er sei bei dir, aber es war nur ein leerer Raumanzug. Kein Wunder, dass er dich nicht in seine Nähe ließ.«

»Hinterhältiger Dreckskerl.«

»Das kann man wohl sagen. Nur dass der hinterhältige Dreckskerl eigentlich nicht Sajaki war, oder?«

Sylveste bemühte sich verzweifelt, eine andere Erklärung zu finden, doch es wollte ihm nicht gelingen. »Aber wenn nicht Sajaki…« Er verstummte. Ihm war eingefallen, dass er den Triumvir vor Verlassen des Schiffes tatsächlich nicht persönlich gesehen hatte. Sajaki hatte ihn aus der Krankenstation angerufen, aber es gab keinen Beweis dafür, dass er das auch wirklich selbst gewesen war.

»Hör zu. Irgendetwas hat diesen Anzug gesteuert, bis er abstürzte.« Calvin legte wieder einmal eine in Anbetracht der Umstände geradezu groteske Ruhe an den Tag. Das war eins seiner Lieblingsspiele, aber diesmal war er nicht mit dem Herzen dabei. »Wenn man logisch vorgeht, gibt es nur einen Schuldigen.«

»Sonnendieb.« Sylveste sprach den Namen nur zögernd aus, als wolle er prüfen, wie sehr ihn der Gedanke abstieß. Er schmeckte genau so bitter, wie er es sich vorgestellt hatte. »Er war es, nicht wahr? Khouri hatte die ganze Zeit Recht.«

»Sagen wir, es wäre an diesem Punkt unverzeihlich töricht, die Hypothese zu verwerfen. Soll ich fortfahren?«

»Nein«, sagte Sylveste. »Etwas später. Gib mir einen Moment Zeit, mir alles durch den Kopf gehen zu lassen, dann kannst du mich mit deiner erhabenen Weisheit überschütten, so viel du willst.«

»Was willst du dir denn jetzt noch durch den Kopf gehen lassen?«

»Liegt das nicht auf der Hand? Ob wir weitergehen oder nicht.«


Es war keine von den einfacheren Entscheidungen seines Lebens. Er wusste jetzt, dass er von Anfang an oder zumindest über lange Zeit manipuliert worden war. Wie weit war die Manipulation gegangen? Hatte sie auch seine Vernunft in Mitleidenschaft gezogen? Hatte fast sein ganzes Leben lang, seit seiner Rückkehr von Lascailles Schleier jemand in seinem Bewusstsein gesessen und ihn in diese eine Richtung gelenkt? War er am Ende da draußen im All gestorben und als willenloser Leichnam nach Yellowstone zurückgekehrt, ein Automat, der handelte und fühlte wie sein altes Ich, aber in Wirklichkeit nur auf ein Ziel zugetrieben wurde, das er jetzt fast erreicht hatte? Und war das überhaupt noch von Bedeutung?

Denn wie er es auch drehte und wendete, wie falsch das Gefühl, wie irrational die Logik auch sein mochten, dies war der Ort, nach dem er sich immer gesehnt hatte.

Er konnte nicht zurück; noch nicht.

Nicht, bevor er alles wusste.


»Svinoi Schweinehund«, sagte Volyova.

Dreißig Sekunden nachdem der Alarm des taktischen Displays zu schrillen begonnen hatte, traf der erste Graser-Schuss die Nase des Shuttle; die Zeit reichte kaum aus, um eine Wolke Abriebmaterial abzustoßen und damit die Initialenergie der auftreffenden Gamma-Photonen zu zerstreuen. Kurz bevor sich die Fenster des Flugdecks verdunkelten, bemerkte Volyova einen silbernen Blitz. Ein Stück geopferter Rumpfpanzerung wurde von einem Schwall angeregter Metall-Ionen verschlungen. Der Rumpf erzitterte wie unter einer Sprengung. Weitere Alarmsirenen stimmten ihr Klagegeheul an, ein großer Teil des taktischen Displays schaltete auf Offensivbetrieb um und zeigte grafisch die Einsatzbereitschaft der Bordgeschütze an.

Vergeblich, alles vergeblich. Die Waffen der Melancholie waren einfach zu schwach und hatten eine zu geringe Reichweite. Sie konnten gegen den Megatonnen schweren Verfolger nichts ausrichten. Kein Wunder: die Unendlichkeit hatte Geschütze, die größer waren als das ganze Shuttle, und die hatte sie vermutlich noch gar nicht eingesetzt.

Cerberus füllte, ein riesiger, grauer Schatten, aus der Sicht des Shuttle ein Drittel des Himmelsraumes aus. Sie hätten jetzt abbremsen müssen, aber sie waren vollauf damit beschäftigt, sich braten zu lassen. So vergingen wertvolle Sekunden. Selbst wenn sie den Angriff abwehren konnten, wären sie gefährlich schnell…

Weitere Rumpfteile verdampften.

Volyova ließ ihre Finger sprechen und tippte eine vorprogrammierte Ausweichroute ein. Sie konnte das Shuttle sicher aus dem unmittelbaren Zielbereich des Graser-Angriffs bringen. Die Schwierigkeit war nur, dass dafür ein Schub von zehn Ge erforderlich war.

Sie gab den Befehl zum Ausführen des Programms und verlor prompt das Bewusstsein.


Die letzte Schale war hohl, aber nicht leer.

Sylveste schätzte sie auf dreihundert Kilometer Durchmesser, aber das war reine Vermutung. Sein Anzugradar weigerte sich hartnäckig, vernünftige Werte für den Durchmesser des Raums zu liefern, wie oft er sie auch abfragte. Der Anzug kam offensichtlich mit dem Objekt in der Mitte nicht zurecht. Das konnte Sylveste verstehen. Auch er hatte Schwierigkeiten damit, auch wenn sie vielleicht anderer Art waren. Ihm verursachte es Kopfschmerzen.

Eigentlich waren es zwei Objekte, und Sylveste hätte nicht sagen können, welches fremdartiger war. Sie waren in Bewegung, genauer gesagt kreiste das eine auf einer festen Bahn um das andere. Der Trabant sah aus wie ein Edelstein, aber seine Struktur war so komplex und in ständigem Wandel begriffen, so dass man von einem Moment zum anderen nicht mehr sagen konnte, welche Form oder Farbe er hatte oder ob er glänzte. Fest stand nur, dass er groß war — zwanzig, vielleicht dreißig Kilometer im Durchmesser —, doch als Sylveste von seinem Anzug eine Bestätigung dieser Werte verlangte, kam dabei so viel Unsinn heraus, als hätte er das Ding gebeten, ihm ein in freier Form gehaltenes Haiku zu interpretieren.

Als er den Edelstein mit der Zoomfunktion seiner Augen vergrößern wollte, widersetzte er sich und wurde allenfalls kleiner. Das Ding war fähig, die Raumzeit in seiner unmittelbaren Umgebung gravierend zu verändern.

Als Nächstes versuchte er es mit der Schnappschussfunktion, aber auch das scheiterte. Auf dem Bild war das Objekt paradoxerweise verschwommener als in Echtzeit, so als würde es sich in kleineren Zeiteinheiten schneller — und grundlegender — verändern als im Sekundenbereich oder darüber. Er bemühte sich, diesen Eindruck festzuhalten, und glaubte schon, eine Erklärung gefunden zu haben, aber das stellte sich sofort als Illusion heraus.

Und das zweite…

Das zweite, das feste Objekt… war womöglich noch schlimmer.

Es war wie ein Loch in der Realität, ein klaffender Riss, aus dem das weiße Licht der Unendlichkeit hervorbrach. Ein starkes Licht, so hell und rein, wie er es nie gesehen, nie erträumt hatte — wie das Licht aus dem Jenseits, von dem sich Sterbende nach eigenen Aussagen angezogen fühlten. Auch er spürte diese Anziehung. Das Licht war so hell, dass es ihn hätte blenden müssen. Doch je länger er in die strahlenden Tiefen schaute, desto weniger grell erschien es ihm, desto mehr verschmolz es zu einer unbewegten, weißen Fläche ohne jede Tiefe. Wo das Licht durch den kreisenden Edelstein gebrochen wurde, warf es immer neue, vielfarbige Figuren an die Wände. Ein Bild von ergreifender Schönheit, ständig wechselnd, unwiderstehlich.

»Hier«, sagte Calvin, »wäre etwas Demut vielleicht angebracht. Du bist beeindruckt, nicht wahr?«

»Natürlich.« Er hörte sich selbst nicht sprechen, aber Calvin schien ihn zu verstehen.

»Und damit ist es auch genug, nicht wahr? Ich meine, du weißt jetzt, was sie vor uns verbergen mussten. Diese Fremdartigkeit… Gott allein weiß, was es ist…«

»Vielleicht ist es genau das: Gott.«

»Wenn ich in dieses Licht schaue, könntest du mich fast davon überzeugen.«

»Willst du sagen, du spürst es auch?«

»Ich weiß nicht, was ich spüre. Und ich weiß auch nicht, ob es mir so ganz geheuer ist.«

»Glaubst du«, fragte Sylveste, »sie haben das geschaffen? Oder sind sie nur durch Zufall darauf gestoßen?«

»Du fragst mich nach meiner Meinung — das hatten wir ja noch nie.« Calvin schien zu überlegen, doch seine Antwort war nicht überraschend. »Geschaffen haben sie es auf keinen Fall, Dan. Die Amarantin waren klug — vielleicht klüger als wir. Aber sie waren keine Götter.«

»Dann muss es jemand anderer gewesen sein.«

»Dem wir hoffentlich niemals begegnen.«

»Dann hältst du jetzt besser den Atem an, denn wenn mich nicht alles täuscht, steht die Begegnung unmittelbar bevor.«

Damit steuerte er den Anzug durch die Schwerelosigkeit auf den funkelnden Edelstein und das herzzerreißend schöne Licht zu.

Als Volyova wieder zu sich kam, hörte sie das Schrillen des Radaralarms. Die Unendlichkeit schickte sich an, ihre Graser neu auszurichten. Das würde trotz ihrer zufallsgenerierten Ausweichmanöver nur wenige Sekunden dauern. Ein Blick auf die Anzeige für Rumpfintegrität zeigte ihr, dass die Abriebschicht auf wenige Millimeter zusammengeschmolzen war. Die Materieschleudern waren leer. Realistisch betrachtet konnten sie höchstens noch ein bis zwei Graser-Treffer überstehen.

»Sind wir noch da?«, fragte Khouri erstaunt. Sie hatte wohl nicht damit gerechnet, die Frage noch stellen zu können.

Noch ein Treffer, und der Rumpf hätte mindestens zehn Lecks, wenn er nicht sofort verdampfte. Es war deutlich heißer geworden. Das Shuttle hatte die Wärme der ersten Schüsse gut abgeleitet; aber der letzte war schon auf weniger Widerstand getroffen. Ein Teil der tödlichen Energien war ins Innere gesickert.

»In den Spinnenraum«, rief Volyova und drosselte den Schub für einen Moment, damit man sich an Bord wieder bewegen konnte. »Der ist so gut isoliert, dass ihr noch ein paar Einschläge überleben könnt.«

»Nein!«, schrie Khouri. »Das geht nicht! Hier haben wir wenigstens noch eine Chance!«

»Sie hat Recht«, sagte Pascale.

»Chancen habt ihr auch im Spinnenraum«, widersprach Volyova. »Noch bessere sogar. Schon deshalb, weil er ein kleineres Ziel bietet. Ich schätze, das Schiff wird die Waffen vor allem gegen das Shuttle richten, vielleicht hält es den Spinnenraum auch für ein Wrackteil.«

»Und was ist mit dir?«

Volyova wurde wütend. »Glaubst du vielleicht, ich reiße mich darum, den Helden zu spielen, Khouri? Ich setze mich ab; ob mit oder ohne euch. Aber zuerst muss ich dem Shuttle eine Flugroute einprogrammieren — oder willst du das übernehmen?«

Khouri zögerte einen Moment, obwohl die Vorstellung völlig absurd war. Dann schnallte sie sich von ihrer Beschleunigungsliege ab, winkte Pascale mit erhobenem Daumen, ihr zu folgen, und rannte, als ginge es um ihr Leben.

Was nüchtern betrachtet wohl auch der Fall war.

Volyova hielt Wort. Sie gab die haarsträubendste Ausweichroute ein, die ihr einfallen wollte, wobei sie nicht einmal sicher war, ob sie oder ihre Mitreisenden das überleben konnten. Die Spitzenschübe waren über Sekunden höher als fünfzehn Ge. Aber was spielte das jetzt noch für eine Rolle? Sie fand die Vorstellung, zu sterben, während man bewusstlos war, durch überhöhte Schwerkraft in eine schwülwarme Ohnmacht gestürzt, erträglicher als die, im Vakuum bei lebendigem Leibe in den unsichtbaren Flammen der Gammastrahlung zu verbrennen.

Sie griff nach dem Helm, den sie getragen hatte, als sie das Shuttle bestieg, zählte im Geiste die Sekunden herunter, bis die Ausweichroute eingeleitet wurde, und schickte sich an, den anderen zu folgen.


Auf halbem Weg zum Spinnenraum schlug Khouri die Hitzewelle ins Gesicht, dicht gefolgt von einem entsetzlichen Geräusch. Der Rumpf gab endgültig den Geist auf. Die Beleuchtung im Frachtraum war erloschen, als die Energieversorgung der Melancholie unter der Wucht des Angriffs zusammenbrach. Aber im Innern des Spinnenraums gab es noch Licht. Durch die Sichtfenster war das antiquierte Plüschdekor zu erkennen.

»Einsteigen!«, schrie sie Pascale zu. Sylvestes Frau hörte es, obwohl das Schiff in seinem Todeskampf einen Lärm machte wie ein Orchester mit Alteiseninstrumenten, und kletterte in den Spinnenraum. Im gleichen Augenblick raste eine gewaltige Stoßwelle durch den Rumpf (oder was davon noch übrig war) und riss den Spinnenraum aus den Halterungen, an denen ihn Volyovas Servomaten festgemacht hatten.

Irgendwo im Shuttle entwich mit grässlichem Jaulen die Luft. Khouri spürte plötzlich, wie der Sog an ihr riss, als wolle er sie zurückhalten. Der Spinnenraum drehte sich hin und her und schlug in wilder Panik mit den Beinen. Pascale schaute durch das Fenster heraus, aber sie konnte ihr nicht helfen; sie kannte sich mit der Steuerung noch weniger aus als Khouri.

Verzweifelt sah sie sich um, hoffte mit allen Fasern ihres Herzens, dass Volyova ihnen gefolgt sei und ihr sagen könne, was sie tun solle. Aber der Korridor war leer bis auf den schrecklichen Luftstrom, der sie von den Beinen zu reißen drohte.

»Ilia…«

Das verdammte Weib hatte genau das getan, was sie befürchtet hatten; sie war allen Beteuerungen zum Trotz zurückgeblieben.

Im letzten Licht sah sie den Rumpf erzittern wie einen Resonanzboden. Und dann verlor der Sturm, der sie vom Spinnenraum wegreißen wollte, plötzlich an Kraft; eine gleich starke Dekompression in der Mitte des Frachtraums wirkte ihm entgegen. Khouri sah sich um, ihr Blick trübte sich bereits, dann traf sie die Kälte und sie stürzte auf eine Lücke zu, wo eben noch Metall gewesen war…


»Wo, zum…«

Kaum hatte Khouri den Mund aufgemacht, da wusste sie auch schon, wo sie war — im Innern des Spinnenraums. Ein Irrtum war ausgeschlossen, dazu hatte sie schon zu viel Zeit hier verbracht. Behaglichkeit umgab sie; Wärme, Sicherheit, Stille; ein ganzes Universum entfernt von dem Ort, wo sie gewesen war, bevor ihre Erinnerungen abrissen. Ihre Hände schmerzten; sie schmerzten sogar ziemlich heftig — aber davon abgesehen fühlte sie sich so wohl, dass es eigentlich gar nicht mit rechten Dingen zugehen konnte; sie wusste ja noch, dass sie aus dem Schoß eines sterbenden Schiffes ins All gestürzt war…

»Wir haben es geschafft«, sagte Pascale, aber es klang alles andere als triumphierend. »Noch nicht bewegen — du hast dir die Hände ziemlich böse verbrannt.«

»Verbrannt?« Khouri lag auf einer der samtbezogenen Liegen, die an allen Wänden montiert waren. Ihr Kopf ruhte auf dem weich gepolsterten, elegant geschwungenen Messingkopfteil. »Was ist passiert?«

»Du bist gegen den Spinnenraum gekracht; der Sog hat dich dort hingezogen. Ich weiß nicht, wie du es geschafft hast, an der Außenseite bis zur Schleuse hinaufzuklettern. Du warst mindestens fünf oder sechs Sekunden im Vakuum. Das Metall hatte so schnell abgekühlt, dass du mit den Händen daran kleben geblieben bist.«

»Ich kann mich an nichts erinnern.« Aber ein Blick auf ihre Hände genügte zum Beweis dafür, dass Pascale die Wahrheit sprach.

»Sobald du an Bord warst, bist du in Ohnmacht gefallen. Ich konnte es dir nicht verdenken.«

Ihre Stimme hatte immer noch diesen völlig freudlosen Unterton, als sei alles, was Khouri getan hatte, sinnlos gewesen. Wahrscheinlich hatte sie Recht, dachte Khouri. Sie konnten bestenfalls noch eine Möglichkeit finden, mit dem Spinnenraum auf Cerberus zu landen und zu sehen, wie lange sie sich gegen die Verteidigungsanlagen in der Kruste behaupten konnten. Das wäre immerhin interessant. Sonst konnten sie nur warten, bis das Lichtschiff sie fand und abschoss, oder bis ihre Reserven zu Ende waren und sie an der Kälte oder an Sauerstoffmangel starben. Sie zermarterte sich das Gehirn. Wie lange, hatte Volyova gesagt, konnte der Spinnenraum allein überleben?

»Ilia…?«

»Sie hat es nicht mehr geschafft«, sagte Pascale. »Sie ist tot. Ich habe alles mit angesehen. Du warst kaum an Bord, da ist das Shuttle einfach explodiert.«

»Du glaubst, Volyova hat die Explosion mit Absicht ausgelöst, um uns eine Chance zu geben? Damit man uns für ein Wrackteil halten würde?«

»Wenn ja, sind wir ihr vermutlich zu Dank verpflichtet.«

Khouri schlüpfte aus ihrer Jacke, zog das Hemd aus und die Jacke wieder an und riss das Hemd in schmale Streifen. Damit verband sie die geschwärzten, mit Blasen bedeckten Hände. Es tat höllisch weh, aber sie kannte solche Schmerzen aus dem Training, wenn man sich an einem Seil verbrannt oder mit schweren Waffen hantiert hatte. Sie biss die Zähne zusammen, akzeptierte den Schmerz und drängte ihn gleichzeitig zurück. Es gab dringendere Probleme, mit denen sie sich auseinander setzen musste.

Probleme, neben denen die Aussicht, sich vom Schmerz überwältigen zu lassen, geradezu verlockend war. Aber sie widerstand der Versuchung. Sie musste sich zumindest klarmachen, in welcher Lage sie sich befand, auch wenn es offenbar nichts gab, was sie dagegen tun konnte. Sie musste wissen, auf welche Weise das Unvermeidliche passieren würde.

»Wir werden sterben, nicht wahr?«

Pascale Sylveste nickte. »Aber nicht so, wie du glaubst. Darauf gehe ich jede Wette ein.«

»Du meinst, wir landen nicht auf Cerberus?«

»Nein; nicht einmal wenn wir wüssten, wie dieses Ding zu bedienen ist. Wir werden auch nicht in den Planeten hineinrasen, und um in eine Umlaufbahn zu gehen, ist unsere Geschwindigkeit wahrscheinlich zu hoch.«

Als Pascale Cerberus erwähnte, stellte Khouri fest, dass die Halbkugel vor den Sichtfenstern weiter entfernt zu sein schien als vor dem Angriff. Sie mussten mit der vollen Anfluggeschwindigkeit des Shuttles, also mit mehreren Hundert Kilometern pro Sekunde, ungebremst daran vorbeigerast sein.

»Wie geht es jetzt weiter?«

»Ich kann nur raten«, sagte Pascale, »aber ich glaube, wir stürzen auf Hades zu.« Sie nickte zum vorderen Sichtfenster hin. Dort war ein winziger roter Lichtpunkt zu sehen. »Die Richtung könnte ungefähr stimmen, nicht wahr?«

Khouri wusste natürlich, dass Hades ein Neutronenstern war, und sie wusste auch, dass es im Umkreis eines solchen Sterns keine Sicherheit gab. Man hielt sich entweder fern davon, oder man starb — so lauteten die Regeln, und keine Macht im Universum konnte sie außer Kraft setzen.

Die Schwerkraft war der Herr, für die Schwerkraft gab es keine mildernden Umstände, sie kümmerte sich nicht um Gerechtigkeit und nahm auch keine Gnadengesuche in letzter Minute entgegen, um daraufhin ihre Gesetze widerwillig aufzuheben. Die Schwerkraft erdrückte und im Umkreis eines Neutronensterns erdrückte sie alles. Hier wurden Diamanten zu Wasser, und Berge verdichteten sich auf ein Millionstel ihrer früheren Höhe. Man brauchte diesen Kräften gar nicht allzu nahe zu kommen, um von ihnen zermalmt zu werden.

Das konnte man schon in ein paar hunderttausend Kilometern Entfernung haben.

»Ja«, sagte Khouri. »Du hast vermutlich Recht. Und das ist nicht gut.«

»Nein«, sagte Pascale. »Das hatte ich mir auch schon gedacht.«

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