Sechzehn

Nord-Nekhebet

2566


Sylveste spürte, wie das Flugzeug vom Boden abhob und im Tiefflug aus dem unterirdischen Bunker von Mantell schoss. Draußen zog es steil nach oben und schwenkte ab, bevor es an der nächsten Mesa-Wand mit ihren vielen Schichten zerschellen konnte. Er schuf sich ein Fenster in der Flugzeugwand, aber der Staub wurde immer dichter. So war ihm im grellen Licht des Plasmaflügels nur ein kurzer Blick auf die Station vergönnt, bevor die Mesa, in die man sie hineingegraben hatte, hinter ihnen zurückblieb. Er war sich völlig sicher, dass er nicht zurückkehren würde. Etwas sagte ihm — ohne dass er das Gefühl genau hätte begründen können —, dass er nicht nur Mantell, sondern die ganze Kolonie zum letzten Mal sah.

Das Flugzeug war das kleinste und entbehrlichste, das die Siedlung hatte auftreiben können; kaum größer als die Volantoren, die er vor einem ganzen Menschenleben in Chasm City geflogen hatte. Aber es war schnell genug, um ihn in den sechs Stunden, die man ihnen zugestanden hatte, weit genug von der Mesa wegzubringen. Die Maschine hätte Platz für vier Personen gehabt, war aber nur mit Sylveste und Pascale besetzt. Trotzdem konnten sie sich nicht frei bewegen. Sie waren immer noch Gefangene. Slukas Leute hatten vor dem Start von Mantell die Flugroute eingegeben, und Abweichungen waren nur möglich, wenn der Autopilot feststellte, dass die Witterung eine Kursänderung rechtfertigte. So lange die Verhältnisse am Zielort eine Landung zuließen, sollten Sylveste und seine Frau an einem vorher vereinbarten Ort abgesetzt werden, den Volyova und ihre Besatzung bisher noch nicht kannten. Bei schlechten Bedingungen konnte man auf einen anderen Landeplatz in derselben Gegend ausweichen.

Das Flugzeug sollte nicht an Ort und Stelle bleiben. Sobald Sylveste und Pascale — mit so viel Proviant versehen, dass sie notfalls einige Stunden im Sturm überleben konnten — von Bord gegangen waren, würde es auf schnellstem Wege nach Mantell zurückkehren, dabei aber den wenigen noch funktionsfähigen Radarsystemen ausweichen, die seinen Kurs nach Resurgam City melden könnten. Sylveste würde Kontakt zu Volyova aufnehmen und ihr seinen Standort mitteilen, obwohl sie bei einer direkten Übertragung seine Position ohne weiteres auch durch Triangulation ermitteln konnte. Von da an lag alles in Volyovas Hand. Sylveste hatte keine Ahnung, wie es weitergehen würde, wie sie es anstellen wollte, ihn an Bord zu bringen. Das war auch nicht sein Problem. Ihm genügte es zu wissen, dass die ganze Sache höchstwahrscheinlich keine Falle war. Die Ultras hatten es auf Calvin abgesehen, aber ohne Sylveste konnten sie mit dem Sim nichts ausrichten. Sie mussten also sehr gut auf ihn aufpassen. Für Pascale galt das freilich nicht in gleichem Maße, und deshalb hatte Sylveste Schritte unternommen, um hier einen Ausgleich zu schaffen.

Das Flugzeug hatte seinen Steigflug beendet. Es hielt sich unterhalb der durchschnittlichen Höhe der Mesas und nützte sie als Deckung. Alle paar Sekunden änderte es die Richtung und schoss in einen der schmalen, canyonähnlichen Korridore dazwischen. Die Sicht war gleich Null. Hoffentlich, dachte Sylveste, hatte es in letzter Zeit keine Erdrutsche gegeben, die in der Geländekarte, an der sich das Flugzeug bei seinen Manövern orientierte, noch nicht berücksichtigt waren. In diesem Fall wäre der Flug lange vor Ablauf der von Volyova genehmigten sechs Stunden zu Ende.

»Wo, zum Teufel…« Calvin manifestierte in der Kabine und sah sich hektisch um. Wie üblich lümmelte er in einem mächtigen, dick gepolsterten Thronsessel, der für den Fahrgastraum des Flugzeugs viel zu groß war und deshalb zum Teil in den Wänden verschwand. »Wo, zum Teufel, bin ich? Ich kann nichts empfangen! Was ist denn passiert? Nun sag schon!«

Sylveste wandte sich an seine Frau. »Wenn er geweckt wird, beschnüffelt er als Erstes die unmittelbare cybernetische Umgebung — um sich zu orientieren, den Zeitrahmen festzulegen und so weiter. Die Schwierigkeit ist, dass es hier keine cybernetische Umgebung gibt, deshalb ist er jetzt etwas verwirrt.«

»Du sollst nicht über mich reden, als wäre ich gar nicht hier. Wo immer dieses Hier auch sein mag!«

»Du bist in einem Flugzeug«, sagte Sylveste.

»Ein Flugzeug? Das hatten wir bisher noch nicht«, erwiderte Cal. Er schien sich wieder zu fassen. »Wirklich und wahrhaftig. Glaube nicht, dass ich schon mal in so einem Ding gesessen habe. Du bist doch sicher so freundlich, deinem alten Vater einen Überblick über die wichtigsten Fakten zu geben, nicht wahr?«

»Deshalb habe ich dich geweckt.« Sylveste brach ab, um das Fenster zu löschen; es gab nichts mehr zu sehen, und der dichte Staubschleier erinnerte ihn nur daran, was vor ihm lag, sobald ihn das Flugzeug abgesetzt hatte. »Nicht dass du glaubst, ich wollte nur einen gemütlichen Plausch mit dir führen, Cal.«

»Du siehst älter aus, Sohn.«

»Tja, manche von uns müssen eben weiterhin im entropischen Universum leben.«

»Autsch. Das hat wehgetan.«

»Hört ihr bitte auf!«, bat Pascale. »Für dieses kleinliche Hickhack haben wir keine Zeit.«

»Ich weiß nicht«, widersprach Sylveste. »Fünf Stunden — das sollte doch mehr als genug sein. Was meinst du, Cal?«

»Wie Recht du hast. Was weiß sie schon?« Cal sah Pascale böse an. »Das ist Tradition, Schätzchen. Es ist unsere Art — wie soll ich sagen? — sich zurückzumelden. Ich würde mir ernsthaft Sorgen machen, wenn er mich auch nur mit einem Funken Herzlichkeit begrüßte. Das hieße nämlich, er hat eine Bitte, die entsetzlich schwierig zu erfüllen ist.«

»Nein«, sagte Sylveste. »Bei einer entsetzlich schwierigen Bitte würde ich dir nur mit Löschung drohen. Ich habe noch nie etwas von dir gebraucht, was mich verpflichtet hätte, freundlich zu sein, und dazu wird es wohl auch nie kommen.«

Calvin zwinkerte Pascale zu. »Er hat natürlich Recht. Wie dumm von mir.«

Er manifestierte in einem aschgrauen Frack mit Stehkragen und einem komplizierten Muster aus goldenen Winkeln auf den Ärmeln. Ein gestiefelter Fuß ruhte auf dem Knie des anderen Beins, die Frackschöße waren wie eine wallende Gardine darüber drapiert. Bart und Schnurrbart waren nicht nur peinlich gepflegt, sondern zu einem Gesamtkunstwerk von solcher Vollendung modelliert, dass es nur durch ein ganzes Heer von eifrigen Barbieren in unermüdlicher Arbeit zu erhalten war. Ein bernsteinfarbenes Daten-Monokel steckte in einem Auge (eine Marotte, denn Calvin war seit seiner Geburt mit Interface-Implantaten ausgestattet), und sein Haar (er trug es jetzt lang) war geölt und zu einem Ring geflochten, der über seinen Hinterkopf hinausragte und erst kurz über dem Nacken wieder zurückgeführt wurde. Sylveste versuchte vergeblich, die Aufmachung einer Stilepoche zuzuordnen. Möglich, dass sie auf einen bestimmten Abschnitt von Calvins Leben auf Yellowstone zurückging, aber ebenso gut konnte die Simulation sie auch neu erfunden haben, um sich die Zeit zu vertreiben, bis alle Programme gebootet waren.

»Also dann…«

»Das Flugzeug bringt mich zu Volyova«, sagte Sylveste. »Du kannst dich sicher an sie erinnern?«

»Wie könnten wir sie vergessen?« Calvin nahm das Monokel heraus und polierte es zerstreut an seinem Ärmel. »Und wie kam es dazu?«

»Das ist eine lange Geschichte. Sie hat der Kolonie die Daumenschrauben angesetzt. Die Leute hatten kaum eine andere Wahl, als mich auszuliefern. Und dich gleich mit.«

»Sie wollte mich haben?«

»Nun tu nicht so, als wärst du überrascht.«

»Ich bin nicht überrascht; nur enttäuscht. Und natürlich ist das alles ein bisschen viel auf einmal.« Calvin setzte sich das Monokel wieder ein, sein vergrößertes Auge starrte drohend durch den Bernstein. »Wollte sie uns nur zur Sicherheit alle beide haben, oder hat sie etwas Besonderes mit uns vor?«

»Wahrscheinlich Letzteres. Was nicht heißen soll, dass sie mir ihre Absichten offenbart hätte.«

Calvin nickte nachdenklich. »Du hattest also bisher nur mit Volyova zu tun, ja?«

»Kommt dir das merkwürdig vor?«

»Ich hätte erwartet, dass unser Freund Sajaki irgendwann seinen Auftritt hat.«

»Ich auch, aber sie hat sich zu seiner Abwesenheit mit keinem Wort geäußert.« Sylveste zuckte die Achseln. »Spielt es denn eine Rolle? Sie sind doch alle gleich schlimm.«

»Zugegeben, aber bei Sajaki wussten wir wenigstens, woran wir waren.«

»Du meinst, wir wussten, dass wir beschissen wurden.«

Calvin wiegte zweifelnd den Kopf. »Du kannst über den Mann sagen, was immer du willst, er hat zumindest Wort gehalten. Und er — oder wer immer die Zügel in der Hand hat — war immerhin so anständig, dich bis jetzt in Ruhe zu lassen. Wie lange ist es her, seit wir zum letzten Mal auf diesem barbarischen Ungeheuer namens Sehnsucht nach Unendlichkeit waren?«

»Etwa einhundertdreißig Jahre. Für sie natürlich sehr viel weniger — nach ihrer Zeit sind nur ein paar Jahrzehnte vergangen.«

»Dann müssen wir mit dem Schlimmsten rechnen.«

»Was ist das Schlimmste?«, fragte Pascale.

»Dass wir«, begann Calvin, nur mühsam die Geduld bewahrend, »eine gewisse Aufgabe zu erfüllen haben, die mit einem gewissen Herrn zusammenhängt.« Er sah Sylveste mit schmalen Augen an. »Wie viel weiß sie überhaupt?«

»Offenbar weniger, als ich dachte.« Pascale fand das nicht komisch.

»Ich habe ihr nur so viel erzählt wie unbedingt nötig«, sagte Sylveste und sah erst seine Frau und dann die Beta-Simulation an. »Zu ihrem eigenen Schutz.«

»Oh, vielen Dank.«

»Natürlich hatte ich selbst meine Zweifel…«

»Dan, was wollen diese Leute von dir und deinem Vater?«

»Ach ja, das ist leider noch eine sehr lange Geschichte.«

»Du hast selbst gesagt, wir haben fünf Stunden Zeit. Immer vorausgesetzt natürlich, ihr beiden hört irgendwann auf, euch gegenseitig zu bewundern.«

Calvin zog eine Augenbraue in die Höhe. »Das hat uns noch niemand nachgesagt. Aber vielleicht hat sie gar nicht so Unrecht, was, Sohn?«

»O doch«, sagte Sylveste. »Sie verkennt die Situation vollkommen.«

»Trotzdem solltest du ihr vielleicht etwas mehr erzählen — um sie auf dem Laufenden zu halten.«

Das Flugzeug flog eine besonders scharfe Kurve. Calvin blieb als Einziger unbeeindruckt. »Na schön«, sagte Sylveste, »obwohl ich immer noch finde, dass sie umso sicherer ist, je weniger sie weiß.«

»Warum darf ich das nicht selbst beurteilen?«, fragte Pascale.

Calvin lächelte. »Ich würde dir raten, mit unserem lieben Captain Brannigan zu beginnen.«

Und Sylveste erzählte ihr auch noch den Rest der Geschichte. Bisher war er der Frage, was Sajakis Mannschaft eigentlich von ihm wollte, tunlichst ausgewichen. Nicht dass er Pascale nicht zugebilligt hätte, die Wahrheit zu erfahren — aber er fand das Thema selbst so unerfreulich, dass er es stets gemieden hatte. Er hatte nichts gegen Captain Brannigan persönlich, er empfand sogar ein gewisses Mitgefühl für den Mann oder das, was aus ihm geworden war. Der Captain war eine einmalige Persönlichkeit mit einer ausnehmend schrecklichen Krankheit. Auch wenn er (soweit Sylveste das beurteilen konnte) derzeit nichts um sich herum wahrnahm, so war er doch in der Vergangenheit bei Bewusstsein gewesen und könnte es auch in Zukunft wieder sein, auch wenn eine Heilung zugegebenermaßen nicht sehr wahrscheinlich war. Und wenn der Captain in seiner zwielichtigen Vergangenheit womöglich irgendwelche Verbrechen begangen hätte? Nun, dann hätte er mit seinem jetzigen Zustand die alten Sünden längst tausendfach abgebüßt. Nein; niemand wünschte dem Captain etwas Böses, und die meisten Menschen wären sogar bereit, sich aktiv für ihn einzusetzen, vorausgesetzt, sie gingen dabei selbst kein Risiko ein. Sogar ein kleines Risiko hätte man vielleicht in Kauf genommen.

Aber was die Besatzung von Sylveste wollte, ging darüber weit hinaus. Sie würden ihm zumuten, sich Calvin auszuliefern; ihm sein Bewusstsein zu öffnen und die Kontrolle über seine motorischen Funktionen zu überlassen. Eine entsetzliche Vorstellung. Es war schlimm genug, sich mit Cals Beta-Simulation auseinander setzen zu müssen; so schlimm, als würde man vom Geist seines Vaters verfolgt. Er hätte das Sim schon vor Jahren zerstört, hätte es sich nicht immer wieder als nützlich erwiesen, aber schon das Wissen um seine Existenz bereitete ihm Unbehagen. Cal hätte viel zu gute Augen und seine Urteile waren allzu treffend. Er… es wusste, was Sylveste mit der Alpha-Simulation gemacht hatte, auch wenn es nie offen darüber gesprochen hatte. Aber jedes Mal, wenn Sylveste es einließ, senkte es seine Fühler tiefer in sein Gehirn. So lernte es ihn immer besser kennen und konnte seine Reaktionen immer genauer vorhersagen. Was bedeutete es für ihn, wenn sein vermeintlich freier Wille von einem Softwareprogramm, das theoretisch kein eigenes Bewusstsein hatte, so ohne weiteres kopiert werden konnte? Natürlich ging es nicht nur darum, dass ihm die Kanalisierung seine Menschlichkeit raubte. Die Prozedur war auch physisch mehr als unangenehm, denn die Signale, die seine willkürlichen Bewegungen steuerten, mussten schon an der Quelle durch einen Cocktail von Neuro-Inhibitoren ausgeschaltet werden. Er wäre gelähmt, aber zugleich in Bewegung — kaum anders, als wäre er von einem Dämon besessen. Die Erfahrung war grauenvoll gewesen, und er hatte es nicht eilig, sie zu wiederholen.

Nein, dachte er. Wenn es nach ihm ging, konnte der Captain zur Hölle fahren. Warum sollte er aufhören, ein Mensch zu sein, nur um jemanden zu retten, der länger gelebt hatte als die meisten Menschen in der Geschichte? Mitgefühl hin oder her. Man hätte den Captain schon vor Jahren sterben lassen sollen, jetzt war nicht Brannigans Leiden das größte Verbrechen, sondern das, was seine Besatzung Sylveste zumuten wollte, um es zu lindern.

Calvin sah das verständlicherweise ganz anders… für ihn war es keine Tortur, sondern eine Chance…

»Ich war natürlich der Erste«, sagte Calvin. »Damals in meiner körperlichen Existenz.«

»Der Erste wobei?«

»Der Erste, der ihm diente. Er war schon damals ein starker Chimäre. Ein Teil der Technik, die ihn zusammenhielt, war noch vor dem Transrationalismus entwickelt worden. Wie alt seine organischen Bestandteile waren, weiß Gott allein.« Er strich sich Bart und Schnurrbart, wie um sich an ihre künstlerische Form zu erinnern. »Das war natürlich vor den Achtzig. Aber ich war schon damals als Forscher bekannt, der die Grenzen der chimärischen Wissenschaften radikal hinauszuschieben suchte. Ich gab mich nicht damit zufrieden, die Techniken aus der Zeit vor dem Transrationalismus Wiederaufleben zu lassen. Ich wollte weitergehen. Ich wollte meinen Vorläufern den Staub von meinen Füßen zu schlucken geben. Ich wollte die Hülle dehnen, bis sie in Fetzen zerriss, um sie dann neu zusammenzunähen.«

»Genug von dir, Cal«, mahnte Sylveste. »Wir wollten über Brannigan sprechen, weißt du nicht mehr?«

»So etwas nennt man ›den Schauplatz vorbereiten‹, mein lieber Junge.« Calvin zwinkerte ihm zu. »Wie auch immer. Brannigan war ein extremer Chimäre, und ich war bereit, extreme Eingriffe in Betracht zu ziehen. Als er erkrankte, hatten seine Freunde keine andere Wahl, als sich um meine Dienste zu bemühen. Natürlich alles ganz inoffiziell — sogar für mich war es eine große Abwechslung. Physiologische Veränderungen interessierten mich zunehmend weniger, dafür war ich zunehmend fasziniert — meinetwegen auch besessen — von Neuraltransformationen. Genauer gesagt suchte ich einen Weg, wie man Neuralaktivitäten direkt in…« Er biss sich auf die Unterlippe und brach ab.

»Brannigan ließ sich von ihm behandeln«, fuhr Sylveste fort. »Im Gegenzug half er ihm, Beziehungen zu einigen der Reichen von Chasm City zu knüpfen; potenziellen Kandidaten für das Achtziger-Programm. Wenn ihm Brannigans Heilung gelungen wäre, hätte die Geschichte damit ihr Ende gefunden. Aber er hat die Sache verpfuscht — er tat nicht mehr als unbedingt nötig, um sich Brannigans Verbündete vom Hals zu halten. Hätte er damals seine Arbeit ordentlich gemacht, dann würden wir jetzt nicht in diesem Schlamassel stecken.«

»Womit er sagen will«, unterbrach Calvin, »dass die Reparatur des Captains nicht von Dauer war. Bei dieser Art von Chimärismus war es unvermeidlich, dass mit der Zeit ein anderer Teil seines Systems behandlungsbedürftig wurde. Und die Operation, die ich an ihm ausgeführt hatte, war so komplex, dass es buchstäblich niemand anderen gab, an den sie sich hätten wenden können.«

»Deshalb kamen sie zurück«, sagte Pascale.

»Diesmal befehligte er das Schiff, das wir gleich besteigen werden.« Sylveste sah die Simulation an. »Cal war tot; die Achtzig hatten in einer öffentlichen Katastrophe geendet. Nur seine Beta-Simulation war noch übrig. Ich brauche nicht zu erwähnen, dass Sajaki — der sich inzwischen dem Captain angeschlossen hatte — darüber nicht sehr glücklich war. Aber sie fanden trotz allem einen Weg.«

»Was für einen Weg?«

»Den Captain von Calvin behandeln zu lassen. Sie stellten fest, dass er durch mich arbeiten konnte. Das Beta-Sim lieferte die Fachkenntnis in chimärischer Chirurgie. Ich lieferte den Körper, mit dem er sich bewegen und die Operation durchführen konnte. Die Ultras nannten den Prozess ›Kanalisierung‹.«

»Aber dann warst du doch gar nicht unbedingt erforderlich«, sagte Pascale. »So lange sie die Beta-Simulation — oder eine Kopie davon — hatten, konnte doch auch einer von ihnen ›den Körper liefern‹, wie du es so schön ausgedrückt hast?«

»Nein, obwohl ihnen das wahrscheinlich lieber gewesen wäre; sie waren schließlich nicht gern von mir abhängig. Aber das Verfahren setzt eine große Ähnlichkeit zwischen dem Beta-Sim und der Person voraus, mit der es arbeitet. Der eine muss in den anderen hineinschlüpfen können wie in einen Handschuh. Bei mir und Calvin hat es funktioniert, weil er mein Vater ist; wir haben viele genetische Übereinstimmungen. Wenn du unsere Gehirne aufschneiden würdest, hättest du wahrscheinlich Mühe, sie auseinander zu halten.«

»Und jetzt?«

»Sind sie wieder da.«

»Hätte er doch beim letzten Mal seine Arbeit ordentlich gemacht«, sagte Calvin und begleitete die Bemerkung mit einem dünnen, selbstzufriedenen Lächeln.

»Deine Schuld; du hast den Wagen gelenkt. Ich habe nur getan, was du mir sagtest.« Sylveste runzelte die Stirn.

»Die meiste Zeit war ich nicht einmal bei vollem Bewusstsein. Trotzdem war jede einzelne Minute die Hölle für mich.«

»Und jetzt wollen sie dich zwingen, das Gleiche noch einmal zu tun«, sagte Pascale. »Das war also der Grund? Für alles, was hier geschehen ist? Für den Angriff auf die Siedlung? Sie wollten nur erreichen, dass du ihrem Captain hilfst?«

Sylveste nickte. »Falls du es noch nicht gemerkt haben solltest, die Personen, mit denen wir gleich ins Geschäft kommen wollen, sind nicht das, was man üblicherweise als Menschen bezeichnen würde. Ihre Prioritäten und ihre Zeitbegriffe sind ein wenig… abstrakt.«

»Ich würde in diesem Fall auch nicht von einem Geschäft sprechen. Das ist pure Erpressung.«

»Nun ja«, sagte Sylveste. »Nicht ganz. Diesmal hat sich Volyova ein klein wenig verrechnet. Ich war nämlich auf ihre Ankunft vorbereitet.«


Volyova sah zu der Projektion von Resurgam auf. Im Moment war Sylvestes Aufenthaltsort auf dem Planeten noch völlig unbekannt, vergleichbar einer Quantenwellenfunktion, die noch nicht kollabiert war. Aber sobald sie mit einer genauen Triangulation seinen Sender geortet hatten, würde die Wellenfunktion zu unzähligen nicht gewählten Möglichkeiten zerfallen.

»Haben Sie ihn?«

»Das Signal ist schwach«, sagte Hegazi. »Der Sturm, den Sie erzeugt haben, verursacht starke Turbulenzen in der Ionosphäre. Sie sind jetzt sicher sehr stolz auf sich?«

»Orten Sie ihn, Svinoi.«

»Geduld, Geduld.«

Im Grunde hatte Volyova nicht daran gezweifelt, dass Sylveste sich rechtzeitig melden würde. Dennoch war sie erleichtert gewesen, als sie ihn tatsächlich hörte. Damit war eine weitere Etappe des schwierigen Unternehmens bewältigt, ihn an Bord zu holen. Sie gab sich allerdings nicht der Illusion hin, die Aufgabe sei damit bereits so gut wie erledigt. Und Sylvestes Forderungen hatten so arrogant geklungen — er hatte geradezu Befehle erteilt —, dass sie sich unwillkürlich fragte, ob ihre Kollegen wirklich alles in der Hand hatten. Wenn Sylveste es darauf angelegt hatte, Zweifel in ihr zu wecken, dann war ihm das gelungen. Zum Teufel mit dem Mann! Sie hatte sich gut vorbereitet, weil sie wusste, dass Sylveste bei solchen Denkspielen ein wahrer Meister war, aber offenbar nicht gut genug. Nun trat sie im Geiste einen Schritt zurück und sah sich an, wie weit die Dinge gediehen waren. Immerhin würden sie Sylveste in Kürze in ihrer Gewalt haben. Das konnte nicht in seinem Sinne sein, besonders, da er sich denken konnte, was sie von ihm wollten. Wenn er Herr seines Schicksals wäre, ließe er sich gewiss nicht darauf ein, an Bord gebracht zu werden.

»Aha«, sagte Hegazi. »Da haben wir ihn. Wollen Sie hören, was der Dreckskerl zu sagen hat?«

»Stellen Sie ihn durch.«

Wieder brach die Stimme des Mannes über sie herein, aber etwas war anders als vor sechs Stunden. Diesmal wurde jedes Wort von Sylveste begleitet — ja fast übertönt — vom durchdringenden Geheul des Schmirgelsturms.

»Ich bin hier, wo sind Sie? Volyova, hören Sie mich? Ich sagte, hören Sie mich? Antworten Sie doch! Ich gebe Ihnen jetzt meine Koordinaten, auf Cuvier bezogen — also passen Sie auf.« Und dann nannte er — zur Sicherheit mehrmals — eine Reihe von Zahlen, mit denen sich sein Standort auf hundert Meter genau bestimmen ließ. Er hätte sich die Mühe sparen können, denn an Bord hatte man ihn inzwischen trianguliert. »Und jetzt holen Sie uns! Wir haben nicht ewig Zeit — wir stecken mitten in einem Schmirgelsturm, und wenn Sie sich nicht beeilen, sind wir tot.«

»Mhm«, sagte Hegazi. »Vielleicht wäre es keine schlechte Idee, dem armen Jungen irgendwann zu antworten.«

Volyova zog eine Zigarette heraus, zündete sie an und nahm einen tiefen Zug. Dann sagte sie: »Noch nicht. Wir lassen ihn noch ein paar Stunden lang zappeln. Ich möchte, dass er so richtig nervös wird.«

Der geöffnete Anzug schlurfte auf Khouri zu. Sie hörte nur ein leises Scharren, dann spürte sie den sanften, aber festen Druck gegen den Rücken, die Rückseite der Arme und Beine und den Hinterkopf. Aus dem Augenwinkel konnte sie beobachten, wie die feucht glänzenden seitlichen Kopfteile zuklappten. Arm- und Beinschalen schmiegten sich um ihre Gliedmaßen. Der Brustpanzer schloss sich mit einem schmatzenden Geräusch, als schlürfe jemand eine Puddingschüssel leer.

Ihr Sichtfeld war jetzt eingeschränkt, aber sie konnte verfolgen, wie sich die Anzuggliedmaßen an den vorgesehenen Fugen schlossen. Die Dichtungen blieben noch für eine Sekunde sichtbar, dann verschwanden auch sie im glatten Weiß der Anzughaut. Ein zweiter Kopf bildete sich über dem ihren, es wurde kurz dunkel, dann erschien ein ovales Sichtfeld vor ihren Augen. Auf dem schwarzen Rand des Ovals leuchteten zahlreiche Anzeigen und Statusmeldungen auf. Später würde sich der Anzug mit Luftgel füllen, um seinen Insassen vor dem Beschleunigungsdruck beim Flug zu schützen, doch im Moment atmete Khouri noch eine pfefferminzfrische Sauerstoff/Stickstoff-Mischung mit dem gleichen Druck wie auf dem Schiff.

»Ich habe alle Sicherheits- und Funktionstests durchgeführt«, meldete der Anzug. »Bitte bestätigen Sie Ihre Bereitschaft, die Kontrolle über die Einheit vollständig zu übernehmen.«

»Ich bin bereit«, sagte Khouri.

»Die meisten meiner autonomen Steuerprogramme sind jetzt deaktiviert. Die Persönlichkeit bleibt in beratender Funktion zugeschaltet, solange keine anders lautende Anweisung ergeht. Um die vollautonome Anzugsteuerung wiederherzustellen, ist…«

»Ich habe verstanden, danke. Wie weit sind die anderen?«

»Alle Einheiten melden Bereitschaft.«

Volyovas Stimme unterbrach. »Wir sind startklar, Khouri. Ich übernehme die Führung; Dreiecksformation beim Sinkflug. Alles springt auf mein Kommando. Und keine Bewegung ohne meine Erlaubnis.«

»Keine Sorge. Das hatte ich auch nicht vor.«

»Sie haben sie wirklich gut gedrillt«, bemerkte Sudjic über die allgemeine Verbindung. »Scheißt sie auch auf Befehl?«

»Schnauze, Sudjic! Sie sind nur dabei, weil Sie Planetenerfahrung haben. Wenn Sie aus der Reihe tanzen…« Volyova hielt inne. »Ich will es so ausdrücken: Sajaki wird nicht eingreifen können, wenn ich die Beherrschung verliere, und mir steht zu diesem Zweck eine ganze Menge Artillerie zur Verfügung.«

»Da wir gerade von Artillerie sprechen«, sagte Khouri. »Ich sehe keinerlei Waffendaten auf meiner Anzeige.«

»Das liegt daran, dass du nicht freigeschaltet bist«, sagte Sudjic. »Ilia fürchtet, du könntest losballern, sobald sich etwas bewegt. Richtig, Ilia?«

»Wenn wir Schwierigkeiten bekommen«, sagte Ilia, »gebe ich die Waffen frei. Versprochen.«

»Warum nicht jetzt?«

»Weil Sie jetzt keine Waffen brauchen, darum. Sie sind nur Ersatzmann; Sie sollen einspringen, wenn die Sache aus dem Ruder läuft. Was natürlich nicht passieren wird…« Sie holte hörbar Atem. »Wenn aber doch, dann kriegen Sie Ihre geliebten Waffen. Aber bemühen Sie sich bitte, im Ernstfall besonnen damit umzugehen.«

Sobald sie draußen waren, wurde die Schiffsluft abgepumpt und durch Luftgel — atembare Flüssigkeit — ersetzt. Im ersten Moment glaubte man zu ertrinken, aber Khouri litt darunter nicht allzu sehr, sie hatte den Wechsel auf Sky’s Edge oft genug erlebt. Normales Sprechen war jetzt nicht mehr möglich, aber die Anzughelme hatten integrierte Trawls, die auch stumme Befehle interpretieren konnten. Eingehende Geräusche wurden durch besondere Helmlautsprecher um die entsprechende Frequenz verschoben, um die Verzerrungen durch das Luftgel auszugleichen. Auf diese Weise klangen alle Stimmen vollkommen normal. Im Anzug war der Flug zum Planeten strapaziöser und belastender als mit einem Shuttle, aber Khouri empfand ihn bis auf den gelegentlichen Druck über den Augen als weniger beschwerlich. Nur ein Blick auf die Anzeigen sagte ihr, dass die winzigen, mit Antilithium gespeisten Triebwerke im Rücken und in den Fersen des Anzugs eine Dauerbeschleunigung von mehr als 6 Ge erzeugten. Die Anzüge flogen in Delta-Formation, Volyova war an der Spitze, die beiden bemannten Anzüge folgten schräg hinter ihr, und drei leere, von außen gesteuerte Anzüge bildeten die Nachhut. In der ersten Phase des Fluges blieben die Anzüge so konfiguriert wie auf dem Lichtschiff und machten damit gewisse Zugeständnisse an die menschliche Anatomie. Doch als die ersten Spuren von Resurgams Atmosphäre aufglühten, hatten lautlos gewisse Veränderungen eingesetzt, die von innen nicht zu bemerken waren. Die Verbindungsmembran zwischen Armen und Körper hatte sich verdickt, bis beide nur noch schwer zu trennen waren. Auch die Stellung der Arme war eine andere; jetzt standen sie starr, aber leicht gebeugt in einem Winkel von fünfundvierzig Grad vom Rumpf ab. Der Kopf hatte sich zwischen die Schultern gezogen und war flacher geworden, so dass jetzt vom Ende jedes Arms eine glatte Kurve über den Kopf und auf der anderen Seite wieder hinunter führte. Die dicken Säulenbeine waren zu einem Schwanz verschmolzen, der sich nach unten verbreiterte, und alle von den Insassen geschaffenen Fenster waren gelöscht worden, um die Augen vor der Glut des Wiedereintritts zu schützen. Die Anzüge tauchten mit der Frontseite in die Atmosphäre ein, der Schwanz hing etwas tiefer als der Kopf: die Energie der kreuz und quer verlaufenden Stoßwellen wurde von der wandlungsfähigen Anzughülle gebändigt und ausgenützt. Direkte Sicht war nicht mehr möglich, aber die Anzüge nahmen ihre Umgebung auf anderen elektromagnetischen Frequenzen wahr und bereiteten die Daten so auf, dass auch die menschlichen Sinne sie verarbeiten konnten. Wenn Khouri seitlich nach unten schaute, sah sie die anderen wie in einer leuchtenden Träne aus rosigem Plasma schweben. In sechstausend Fuß Höhe bremsten die Anzüge mit ihren Triebwerken auf drei Mach ab und passten sich der dichteren Atmosphäre an. Nun verwandelten sie sich in menschengroße Flugzeuge. Stabilisatorflossen wuchsen ihnen aus dem Rücken und die Visiere wurden wieder durchsichtig. Die Innenpolsterung lag so fest an, dass Khouri von alledem kaum etwas spürte. Erst als ihre Gliedmaßen in eine andere Stellung geschoben wurden, verstärkte sich der Druck des Materials ein wenig.

Bei fünfzehn Kilometern brach der sechste Anzug aus der Formation aus, nahm eine aerodynamisch optimale Form an, in die kein Mensch ohne drastische chirurgische Eingriffe hineingepasst hätte, und ging auf Hyperschallgeschwindigkeit. Sekunden später war er hinter dem Horizont verschwunden. Wahrscheinlich war noch nie ein künstliches Objekt vor ihm mit solcher Geschwindigkeit in Resurgams Atmosphäre eingetreten. Er musste Schub nach oben geben, um nicht vom Planeten weggeschleudert zu werden. Der Anzug war unterwegs zu Sajaki. Dessen Einsatz auf Resurgam war beendet. Nun ließ er sich unweit der Stelle abholen, von wo er zum letzten Mal mit dem Schiff gesprochen hatte.

In zehn Kilometer Höhe — man hielt Funkstille, obwohl die Laserverbindung zwischen den Anzügen vollkommen abhörsicher war — trafen sie auf die ersten Ausläufer des Schmirgelsturms, den Volyova entfacht hatte. Aus dem All hatte er so schwarz und undurchdringlich ausgesehen wie eine Aschewand, doch in seinem Innern war es heller, als Khouri erwartet hätte. Das Licht war sepiabraun und körnig wie an einem Schlechtwettertag in Chasm City. Die Sonne hatte einen Hof in trüben Regenbogenfarben, doch als sie tiefer im Sturm versanken, verschwand auch der. Jetzt strömte das Licht nicht mehr auf sie herab, sondern stolperte unsicher wie ein Betrunkener auf einer Treppe durch die aufgewirbelten Staubschichten. Da man im Luftgel kein Gewicht spürte, verlor Khouri rasch jedes Gefühl für oben und unten, aber sie vertraute instinktiv darauf, dass die integrierten Inertialsysteme des Anzugs schon die richtige Wahl treffen würden. Wenn der Anzug auf eine Zone mit höherem Druck traf, gab es hin und wieder einen Ruck — obwohl die Triebwerke alle Schwankungen auszugleichen suchten. Als die Formation die Schallgeschwindigkeit unterschritt, rekonfigurierten sich die Anzüge ein weiteres Mal und wurden starrer. Sie waren nur noch fünftausend Fuß über dem Boden und einige hundert über den Gipfeln der höchsten Tafelberge, die allerdings nach wie vor unsichtbar blieben. Es wurde zunehmend schwieriger, die vier anderen in der Formation zu erkennen: immer wieder verschwanden sie im Staub.

Khouri wurde allmählich unruhig. Sie war noch nie unter solchen Bedingungen in einem Raumanzug geflogen. »Anzug«, fragte sie. »Bist du auch ganz sicher, dass du mit dem Staub zurechtkommst? Ich möchte nicht, dass du mir vom Himmel fällst.«

Der Anzug war hörbar verschnupft. »Träger«, antwortete er, »sollte mir der Staub Probleme bereiten, werde ich Sie unverzüglich davon in Kenntnis setzen.«

»Schon gut; war nur eine Frage.«

Jetzt hatte sie so gut wie keine Sicht mehr. Sie schwamm wie im Schlamm. Hin und, wieder tat sich im Sturm kurz eine Lücke auf, dann waren hoch aufragende Canyon- und Mesa-Wände zu erkennen, aber meistens war der Staub vollkommen gleichförmig. »Ich sehe nichts«, sagte sie.

»Ist es so besser?«

Tatsächlich. Der Sturm hatte sich plötzlich aufgelöst. Wo der Horizont nicht von Felswänden verstellt wurde, konnte sie nach allen Seiten kilometerweit sehen. Man flog wie an einem hellen, klaren Tag, nur präsentierte sich die ganze Szene in verschiedenen fahlen Grüntönen. »Eine Montage«, erklärte der Anzug. »Zusammengestellt aus Infrarotwerten, interpolierten Sonarimpulsen und gravimetrischen Daten.«

»Sehr schön, aber werde bloß nicht gleich größenwahnsinnig. Wenn mich Maschinen ärgern, habe ich die hässliche Angewohnheit, sie zu beschimpfen, und wenn sie noch so hoch entwickelt sind.«

»Warnung registriert«, sagte der Anzug und hielt den Mund.

Khouri rief eine Overlaykarte auf, um sich einen größeren Überblick zu verschaffen. Der Anzug wusste genau, was er tat — er steuerte die Koordinaten an, von denen sich Sylveste gemeldet hatte —, aber sie hielt es für ein Gebot der Professionalität, sich aktiv für das Geschehen zu interessieren. Seit Volyova mit Sylveste gesprochen hatte, waren dreieinhalb Stunden vergangen, in dieser Zeit hätte er sich — vorausgesetzt, er war zu Fuß unterwegs — nicht allzu weit vom vereinbarten Treffpunkt entfernen können. Selbst wenn er sich jetzt aus irgendwelchen Gründen absetzen wollte, könnten ihn die Anzugsensoren mühelos lokalisieren, es sei denn, er hätte eine tiefe Höhle gefunden und sich darin verschanzt. Und selbst dann würden ihn die integrierten Detektorsysteme mit Hilfe der thermalen und biochemischen Spuren finden, die er auf dem Weg dorthin unweigerlich hinterlassen hätte.

»Hört zu.« Zum ersten Mal seit dem Eintritt in die Atmosphäre meldete sich Volyova über Funk. »Wir sind in zwei Minuten am Treffpunkt. Ich habe soeben ein Signal aus dem Orbit erhalten. Triumvir Sajaki wurde von seinem Anzug gefunden und aufgenommen. Er ist jetzt auf dem Weg zu uns, aber da sein Anzug nicht mehr so schnell fliegen kann, braucht er noch zehn Minuten.«

»Was will er denn bei uns?«, fragte Khouri. »Warum fliegt er nicht gleich aufs Schiff zurück? Denkt er, wir schaffen das nicht, ohne dass er uns über die Schulter schaut?«

»Du machst wohl Witze?«, fragte Sudjic. »Sajaki hat seit Jahren — seit Jahrzehnten — auf diesen Moment gewartet. Er will ihn um nichts in der Welt verpassen.«

»Sylveste wird aber doch keinen Widerstand leisten?«

»Dazu müsste er sich schon unglaublich stark fühlen«, sagte Volyova. »Aber man kann nie wissen. Ich hatte im Gegensatz zu euch beiden schon mit dem Dreckskerl zu tun.«

Khouris Anzug glitt in eine Konfiguration, die der auf dem Schiff sehr ähnlich war. Die Flügelmembran war jetzt ganz verschwunden, die bisher flach anliegenden Stummelflügel wurden wieder zu ordentlich abgesetzten und mit Gelenken versehenen Armen. An den Enden hatten sie sich zu fäustlingsähnlichen Greifklauen gespalten, die sich aber für feinere Arbeiten jederzeit zu voll entwickelten Händen umgestalten konnten. Khouri kippte nach hinten, bis sie nahezu senkrecht stand, ohne jedoch die Vorwärtsbewegung aufzugeben. Der Anzug hielt die Höhe jetzt allein mit den Triebwerken. Der Staub störte ihn nicht im Geringsten.

»Noch eine Minute«, sagte Volyova. »Höhe sechshundert Fuß. Sylveste müsste jeden Moment visuell erfasst werden. Und vergesst nicht, wir suchen auch nach seiner Frau; die beiden sind sicher nicht weit voneinander entfernt.«

Khouri hatte das fahlgrüne Falschfarbenbild satt und schaltete auf Normalsicht zurück. Die anderen Anzüge waren kaum zu erkennen. Von den Canyonwänden und von größeren Felsformationen oder Spalten waren sie jetzt weit entfernt. Das Gelände war nach allen Seiten auf Tausende von Metern hin flach, nur von vereinzelten Felsblöcken oder Rinnen unterbrochen. Doch selbst wenn sich im Sturm eine Lücke auftat, wenn das Chaos für einen Moment zur Ruhe kam, sah man nicht weiter als zehn bis zwanzig Meter, und über dem Boden wirbelte der Staub unermüdlich im Kreis herum. Im Innern des Anzugs war es dagegen kühl und vollkommen still. Dadurch erschien die Situation in einer Weise irreal, die gefährlich werden konnte. Der Anzug konnte auf Wunsch auch Außengeräusche übertragen, aber daraus hätte sie auch nicht mehr entnehmen können, als dass ringsum ein höllischer Sturm tobte.

Khouri schaltete auf Fahlgrün zurück.

»Ilia«, sagte sie. »Ich bin noch immer völlig wehrlos. Das macht mich allmählich nervös.«

»Geben Sie ihr was zum Spielen«, sagte Sudjic. »Was kann sie schon anstellen? Soll sie doch ein paar Felsen abschießen, während wir uns Sylveste holen.«

»Du kannst mich mal.«

»Gleichfalls, Khouri. Dass ich versuche, dir einen Gefallen zu tun, hast du wohl noch nicht kapiert. Oder glaubst du, du kriegst Ilia allein rum?«

»Na schön, Khouri«, sagte Volyova. »Ich aktiviere die Minimalkontrolle über das Verteidigungsprogramm. Recht so?«

Nicht unbedingt, nein. Jetzt konnte sich Khouris Anzug zwar autonom gegen Angriffe von außen verteidigen — er konnte sich bis zu einem gewissen Grad sogar präventiv darauf vorbereiten —, aber Khouri hatte noch immer nicht den Finger am Abzug. Wenn sie Sylveste töten wollte, ein Plan, den sie noch immer nicht ganz aufgegeben hatte, konnte das zum Problem werden.

»Danke, ja«, sagte sie. »Sie müssen schon entschuldigen, wenn ich nicht in lauten Jubel ausbreche.«

»War mir ein Vergnügen…«

Eine Sekunde später berührten alle fünf Anzüge federleicht den Boden. Khouri spürte ein Zittern, als die Triebwerke ausgeschaltet wurden. Wieder nahm der Anzug eine Reihe von winzigen anatomischen Veränderungen vor. Die Statusanzeige schaltete von Flug- auf Bodenbetrieb um, das bedeutete, dass sie normal gehen konnte, wenn sie wollte. In dieser Phase hätte sie den Anzug auch verlassen können, aber ohne Schutzkleidung hätte sie im Schmirgelsturm nicht lange überlebt. Die Stille im Innern des Anzugs war ihr sehr viel lieber, auch wenn sie dadurch nicht hautnah am Geschehen teilhaben konnte.

»Wir teilen uns auf«, sagte Volyova. »Khouri: ich übertrage die Steuerung der beiden leeren Einheiten auf Ihren Anzug; sie folgen ihnen von jetzt an auf Schritt und Tritt. Wir drei ziehen uns jeweils hundert Schritt auseinander. Aktive Sensorsuche im gesamten elektromagnetischen Spektrum aktivieren. Wenn Sylveste in der Nähe ist, werden wir das Svinoi schon finden.«

Die beiden leeren Anzüge waren bereits zu Khouri geschlurft, um sich wie herrenlose Hunde an ihre Fersen zu heften. Sie begriff, dass sie den Kürzeren gezogen hatte; Volyova überließ ihr die Aufsicht über die leeren Anzüge zum Trost dafür, dass sie nicht besser bewaffnet war. Aber Jammern half nichts. Sie hatte für ihren Wunsch nach wirksamen Waffen nur eine vernünftige Begründung: sie brauchte etwas, um Sylveste zu töten. Doch damit ließe sich Volyova vermutlich nicht restlos überzeugen. Immerhin sollte man nicht vergessen, dass die Anzüge auch ohne Bewaffnung tödlich sein konnten. Bei der Ausbildung auf Sky’s Edge hatte man ihr gezeigt, wie ein Anzugträger mit brutaler Gewalt gegen einen Feind vorgehen und ihn buchstäblich entzweireißen konnte.

Sudjic und Volyova entfernten sich in verschiedene Richtungen und Khouri sah ihnen nach. Die Anzüge stapften trügerisch langsam dahin, die typische Gangart im Bodenbetrieb. Trügerisch deshalb, weil sie notfalls laufen konnten wie die Gazellen. Im Moment ging es jedoch nicht um Schnelligkeit. Sie schaltete das fahlgrüne Overlay aus und kehrte zum Normalbild zurück. Sudjic und Volyova waren schon nicht mehr zu erkennen, aber das überraschte sie nicht. Trotz gelegentlicher Lücken im Sturm konnte sie im Allgemeinen nur bis zum Ende ihres ausgestreckten Armes sehen.

Plötzlich erschrak sie. Im Staub hatte sich etwas — jemand — bewegt. Es war nur ein Moment gewesen; sie war nicht einmal sicher, ob sie wirklich etwas gesehen hatte. Schon war sie dabei, eine harmlose Erklärung zu finden, die Erscheinung als Staubwirbel abzutun, der momentan fast wie ein Mensch ausgesehen hatte, als sie die Gestalt zum zweiten Mal sah.

Diesmal war sie deutlicher zu erkennen. Sie zögerte, wie um Khouris Neugier zu reizen, dann trat sie aus dem Gewoge und stand vor ihr.

»Lange nicht gesehen«, sagte die Mademoiselle. »Ich dachte, Sie würden sich freuen, mich wiederzusehen.«

»Wo, zum Teufel, sind Sie die ganze Zeit gewesen?«

»Träger«, sagte der Anzug, »ich kann die letzte gedachte Äußerung nicht interpretieren. Könnten Sie vielleicht eine andere Formulierung wählen?«

»Sagen Sie ihm, er soll nicht auf Sie hören«, riet der Staubgeist. »Ich kann nicht lange bleiben.«

Khouri befahl dem Anzug, ihre Gedanken so lange zu ignorieren, bis sie die Sperre mit einem Codewort wieder aufhob. Der Anzug fügte sich widerwillig, zeigte aber deutlich sein Missfallen, so als sei ein solches Ansinnen derart ungewöhnlich, dass er sich ernsthaft überlegen müsse, ob er die Zusammenarbeit in Zukunft fortsetzen könne.

»Schön«, sagte sie dann. »Wir sind ganz unter uns, Mademoiselle. Darf ich jetzt erfahren, wo Sie gewesen sind?«

»Gleich«, sagte die Projektion. Sie hatte sich inzwischen stabilisiert, aber die Wiedergabe war nicht so wirklichkeitsgetreu, wie Khouri es inzwischen gewöhnt war. Die Mademoiselle sah aus wie eine flüchtige Skizze oder eine verwackelte Fotografie von sich selbst. Immer wieder ging eine Kräuselwelle über sie hin und verzerrte das Bild. »Erst sollte ich einiges zu Ihrer Aufrüstung tun, sonst müssen Sie noch mit bloßen Händen auf Sylveste losgehen. Also mal sehen; ich greife auf die Primärsysteme des Anzugs zu… umgehe Volyovas codierte Restriktionen… übrigens bemerkenswert einfach — ich bin geradezu enttäuscht, dass sie mich nicht mehr fordert, vor allem, nachdem ich wahrscheinlich zum letzten Mal…«

»Wovon reden Sie eigentlich?«

»Ich will Ihnen die Kontrolle über Ihre Waffen geben, liebes Kind.« Während sie noch sprach, wechselten die Statusanzeigen und meldeten, dass sich soeben eine Reihe von bisher gesperrten Waffensystemen zugeschaltet hatten. Khouri traute ihren Augen kaum, das Arsenal, das ihr plötzlich zur Verfügung stand, war beeindruckend. »Das wäre geschafft«, sagte die Mademoiselle. »Soll ich noch etwas für Sie wach küssen, bevor ich gehe?«

»Jetzt sollte ich wohl danke sagen…«

»Nur keine Umstände, Khouri. Dankbarkeit wäre das Letzte, was ich von Ihnen erwarten würde.«

»Jetzt bleibt mir natürlich nichts anderes übrig, als den Dreckskerl tatsächlich zu töten. Muss ich mich dafür auch bedanken?«

»Sie haben die… äh… Beweise gesehen. Die Anklageschrift, wenn Sie so wollen.«

Khouri nickte. Ihre Kopfhaut scheuerte an der Innenverkleidung des Helms. In einem Raumanzug gestikulierte man nicht. »Ja, die Sache mit den Unterdrückern. Ich weiß natürlich immer noch nicht, ob auch nur ein Wort davon wahr ist…«

»Dann bedenken Sie wenigstens die Alternative. Nehmen wir an, Sie scheuen davor zurück, Sylveste zu töten, und hinterher stellt sich heraus, dass ich die Wahrheit gesagt habe. Was glauben Sie, wie Sie sich fühlen würden, besonders, wenn Sylveste…« — die Staubgestalt lächelte gespenstisch — »sein Ziel erreicht?«

»Mein Gewissen wäre doch immer noch rein?«

»Gewiss doch. Hoffentlich wäre das Trost genug, wenn Sie zusehen müssten, wie Ihre gesamte Spezies von den Unterdrücker-Systemen ausgerottet wird. Wobei ich zugeben muss, dass Sie höchstwahrscheinlich keine Gelegenheit mehr hätten, Ihren Fehler zu bereuen. Die Unterdrücker leisten ganze Arbeit. Aber das werden Sie schon noch herausfinden…«

»Ich danke jedenfalls für den guten Rat.«

»Das war noch nicht alles, Khouri. Haben Sie sich eigentlich schon überlegt, dass es für meine lange Abwesenheit einen triftigen Grund geben könnte?«

»Nämlich?«

»Ich sterbe.« Die Mademoiselle ließ das Wort einen Moment im Staubsturm hängen, dann fuhr sie fort: »Nach dem Zwischenfall mit dem Weltraumgeschütz ist es Sonnendieb gelungen, einen weiteren Teil von sich in Ihren Schädel einzuschleusen — aber das ist Ihnen natürlich bekannt. Sie haben sein Eindringen gespürt, nicht wahr? Ich erinnere mich an Ihre Schreie. Sie waren sehr eindrucksvoll. Es muss ein seltsames Gefühl gewesen sein. Ein Angriff auf Ihr Innerstes.«

»Aber seitdem hat sich Sonnendieb nicht mehr bemerkbar gemacht.«

»Haben Sie sich nie gefragt, warum nicht?«

»Was soll das heißen?«

»Das soll heißen, liebes Kind, dass ich mir in den letzten Wochen Arme und Beine ausgerissen habe, um zu verhindern, dass er sich in Ihrem Kopf weiter ausbreitet. Deshalb haben Sie nichts mehr von mir gehört. Ich war zu beschäftigt damit, ihn abzuriegeln. Den Teil von ihm niederzuhalten, den ich versehentlich mit den Bluthunden hatte eindringen lassen, fiel mir schon schwer genug. Aber damals erreichte ich immerhin eine Pattsituation. Diesmal ist alles ganz anders. Sonnendieb ist stärker geworden, während jede seiner Attacken an meinen Kräften zehrt.«

»Heißt das, er ist immer noch da?«

»Und ob. Sie haben nur deshalb nichts mehr von ihm bemerkt, weil ihn der Krieg, den wir beide in Ihrem Schädel führen, ähnlich stark in Anspruch nimmt wie mich. Der Unterschied ist nur, dass er unentwegt Fortschritte erzielt — er zerstört mich, unterwandert meine Systeme, setzt meine eigene Abwehr gegen mich ein. Oh, er ist mit allen Wassern gewaschen, glauben Sie mir.«

»Was wird geschehen?«

»Ganz einfach, ich werde unterliegen. Das kann ich mit Sicherheit sagen, eine mathematische Schätzung auf der Grundlage seiner derzeitigen Fortschritte.« Wieder lächelte die Mademoiselle, die nüchterne Analyse schien ihr eine geradezu abartige Genugtuung zu bereiten. »Ich kann seinen Sieg noch ein paar Tage hinauszögern, doch dann ist alles vorbei. Vielleicht geht es auch schneller. Allein der Auftritt hier kostet mich ungeheure Kräfte. Aber ich hatte keine andere Wahl. Ich musste die Zeit opfern, um Ihnen die Kontrolle über Ihre Waffen zurückzugeben.«

»Aber wenn er siegt…«

»Ich weiß es nicht, Khouri. Aber Sie sollten auf alles gefasst sein. Wahrscheinlich ist er kein so angenehmer Hausgast, wie ich es immer sein wollte. Sie wissen ja, was er mit Ihrem Vorgänger gemacht hat. Er hat den armen Mann in den Wahnsinn getrieben.« Die Mademoiselle trat tiefer in den Staub hinein, schien wie durch einen Vorhang von der Bühne abgehen zu wollen. »Ich bezweifle, dass wir noch einmal das Vergnügen haben werden, Khouri. Ich sollte Ihnen alles Gute wünschen. Aber im Augenblick habe ich nur eine Bitte. Tun Sie, wozu Sie hier sind. Und leisten Sie ganze Arbeit.« Sie wich noch weiter zurück und löste sich auf wie eine Kohlezeichnung, die der Wind verwehte. »Die Mittel dazu habe ich Ihnen verschafft.«

Dann war die Mademoiselle verschwunden. Khouri wartete noch einen Moment und versuchte, ihre Gedanken nicht so sehr zu ordnen, als zu einer halbwegs festen Masse zu verkneten, die hoffentlich mehr als ein paar Sekunden halten würde. Dann sprach sie das Codewort, das den Anzug reaktivierte. Mit einem Gefühl, das von Erleichterung weit entfernt war, stellte sie fest, dass die Mademoiselle Wort gehalten hatte. Die Waffen funktionierten noch immer.

»Verzeihen Sie die Störung«, sagte der Anzug. »Aber wenn Sie die Sicht über das gesamte Spektrum wiederherstellen möchten, werden Sie feststellen, dass wir Gesellschaft haben.«

»Gesellschaft?«

»Ich habe soeben die anderen Einheiten alarmiert. Aber Sie sind am nächsten.«

»Bist du sicher, dass es nicht Sajaki ist?«

»Es ist nicht Triumvir Sajaki, nein.« Vielleicht bildete Khouri es sich nur ein, aber der Anzug schien es übel zu nehmen, dass sie sein Urteil in Zweifel zog. »Auch wenn der Anzug des Triumvirs alle Geschwindigkeitsbegrenzungen überschreitet, wird er erst in drei Minuten hier eintreffen.«

»Dann muss es Sylveste sein.«

Sie hatte inzwischen auf das empfohlene sensorische Overlay umgeschaltet und konnte die nahende Gestalt — eigentlich waren es zwei, und sie waren leicht auseinander zu halten — gut erkennen. Die beiden anderen bemannten Anzüge strebten ebenso gemächlich, wie sie sich vorher entfernt hatten, auf sie zu. »Sylveste, ich nehme an, Sie können uns hören«, sagte Volyova. »Bleiben Sie, wo Sie sind. Wir kommen von drei Seiten.«

Seine Stimme ertönte im Helm. »Ich dachte schon, Sie lassen uns hier elend zugrunde gehen. Wie schön von Ihnen, dass Sie doch noch gekommen sind.«

»Ich pflege Wort zu halten«, sagte Volyova. »Das sollten Sie inzwischen wissen.«

Obwohl Khouri nicht sicher war, ob sie bis zum Äußersten gehen würde, begann sie mit den Vorbereitungen für den Abschuss. Sie rief ein Ziel-Overlay ab, das einen Rahmen um Sylveste legte, und entschied sich dann für eine der harmloseren Anzugwaffen: einen mittelstarken Laser, der in die Kopfpartie integriert war. Verglichen mit der übrigen Bewaffnung war er geradezu harmlos; eigentlich nur dafür geeignet, angriffslustigen Gegnern klar zu machen, dass sie sich besser ein anderes Ziel suchten. Aber gegen einen unbewaffneten Mann aus nächster Nähe sollte er mehr als ausreichend sein.

Jetzt brauchte sie nur noch die Augen zu schließen und Sylveste würde sterben. Genau so, wie die Mademoiselle es wollte.

Sudjic beschleunigte jetzt und strebte eher auf Volyova als auf Sylveste zu. Plötzlich fiel Khouri ein ungewöhnliches Detail an ihrem Anzug auf. Aus der Klaue am Ende des Arms ragte ein kleines Metallobjekt hervor. Es sah aus wie eine Waffe, eine leichte Boser-Pistole. Dann hob Sudjic mit der gelassenen Ruhe des Berufskillers diesen Arm. Khouri war so erschrocken, dass sie sich im Geiste für einen Moment von ihrem Körper trennte. Sie glaubte sich selbst zu sehen, wie sie die Waffe hob und auf Sylveste zielte.

Aber das Bild hatte einen Fehler.

Es war Sudjic — und sie richtete die Waffe auf Volyova.

»Ich nehme an, Sie haben einen Plan…«, begann Sylveste.

»Ilia!«, schrie Khouri. »Runter, gleich wird sie…«

Sudjics Waffe war stärker, als sie aussah. Ein Blitz — die Laserhülle für den kohärenten Materiestrahl — zuckte schräg durch Khouris Blickfeld und fuhr in Volyovas Anzug. Mehrere Alarmsirenen spielten verrückt und meldeten einen starken Energieausstoß in unmittelbarer Nähe. Khouris Anzug schaltete automatisch auf eine höhere, empfindlichere Bereitschaftsstufe, und die Indices auf dem Display meldeten, die zugehörigen Waffensysteme seien so eingestellt, dass sie bei einem vergleichbaren Angriff auf ihren Anzug unverzüglich ausgelöst würden — auch ohne einschlägigen Befehl von ihr.

Volyovas Anzug war schwer getroffen; ein beträchtlicher Teil des Brustpanzers war zerstört, lamellenförmige Unterschichten, Kabel und Stromleitungen quollen heraus.

Sudjic zielte und feuerte wieder.

Der Schuss ging in die offene Wunde und weiter in die Tiefe. Volyova meldete sich über Funk, aber ihre Stimme klang schwach und weit entfernt. Khouri hörte nur ein fragendes Ächzen, eher erschrocken als gequält.

»Das war für Boris«, sagte Sudjic mit unerträglich klarer Stimme. »Dafür, dass du ihn mit deinen Experimenten um den Verstand gebracht hast.« Wieder hob sie die Waffe mit ruhiger Hand, wie ein Künstler, der zum letzten Pinselstrich an seinem Meisterwerk ansetzte. »Und das ist dafür, dass du ihn getötet hast.«

»Sudjic«, sagte Khouri. »Hör auf!«

Der Anzug drehte sich nicht um. »Warum sollte ich aufhören, Khouri? Habe ich dir nicht gesagt, dass zwischen uns noch eine Rechnung offen ist?«

»Sajaki wird in einer Minute hier sein.«

»Bis dahin habe ich es so hingedreht, als hätte Sylveste auf sie geschossen.« Sudjic schnaubte höhnisch. »Verdämmt, glaubst du wirklich, das hätte ich mir nicht überlegt? Ich hatte nicht vor, mich so ohne weiteres abknallen zu lassen, nur um mich an der alten Hexe zu rächen. Den Aufwand ist sie nicht wert.«

»Ich kann nicht zulassen, dass du sie tötest.«

»Das kannst du nicht? Sehr komisch, Khouri. Wie willst du mich denn daran hindern? Ich kann mich nicht erinnern, dass sie dir die Kontrolle über deine Waffen zurückgegeben hätte, und im Moment ist sie dafür wohl kaum in der Verfassung.«

Sudjic hatte Recht.

Volyova war vornüber gesunken, ihr Raumanzug war undicht geworden. Vielleicht war der Schuss bis in ihren Körper gegangen. Selbst wenn sie irgendwelche Laute von sich gab, so war der Anzug zu schwer beschädigt, um sie noch zu verstärken.

Wieder hob Sudjic die Waffe, jetzt zielte sie nach unten. »Noch ein Schuss, dann bist du erledigt, Volyova — die Waffe unterschiebe ich Sylveste. Er wird natürlich alles abstreiten — aber Khouri ist die einzige Zeugin, und ich kann mir nicht vorstellen, dass sie sich überschlägt, um seine Geschichte zu bestätigen. So ist es doch, nicht wahr? Gib es doch zu, Khouri, ich tue dir nur einen Gefallen. Du würdest das Miststück selbst töten, wenn du nur schießen könntest.«

»Du irrst dich«, sagte Khouri. »Und zwar gleich zweifach.«

»Wieso?«

»Ich würde sie nicht töten, trotz allem, was sie getan hat. Und ich kann durchaus schießen.« Sie nahm sich einen Augenblick — nicht einmal ein Sekundenbruchteil — Zeit, um den Laser genau auszurichten. »Leb wohl, Sudjic. Ich kann nicht sagen, dass es ein Vergnügen war, dich kennen gelernt zu haben.«

Dann feuerte sie.


Als Sajaki kaum eine Minute später eintraf, war von Sudjic nichts mehr übrig, was ein Begräbnis gelohnt hätte.

Ihr Anzug hatte natürlich einen Gegenschlag geführt und zwar mit stärkeren Waffen. Er hatte zu beiden Seiten ihres Kopfes Projektoren ausgefahren, die zielsuchende Plasmapfeile abfeuerten. Aber Khouris Anzug war auf den Angriff vorbereitet. Er verstärkte nicht nur die Panzerung so, dass sie das Plasma optimal ablenkte (indem er sich umstrukturierte und starke plasmaabweisende Elektroströme in seine Hülle leitete), sondern erwiderte zugleich das Feuer auf einer noch höheren Aggressionsebene. Er verzichtete auf Kinderkram wie Plasma und Teilchenstrahlen, entschied sich für beschleunigte Antimaterie-Impulse und gab dazu einige Nanokügelchen aus seinem Antilithium-Vorrat ab. Jedes Kügelchen wurde von einer entsprechend starken Abriebhülle aus Normalmaterie abgeschirmt und auf einen ziemlich hohen Prozentsatz der Lichtgeschwindigkeit beschleunigt.

Khouri hatte nicht einmal Zeit gefunden, den Atem anzuhalten. Nach ihrem ersten Feuerbefehl hatte der Anzug alles Weitere selbständig erledigt.

»Es hat… einen Zwischenfall gegeben«, sagte sie, als der Triumvir landete.

»Was Sie nicht sagen«, gab er zurück und sah sich das Gemetzel an: Volyova in ihrem beschädigten Anzug und Sudjics weithin verstreute und inzwischen radioaktiv verseuchte Überreste. Mittendrin standen — unversehrt, aber offenbar zu benommen, um sprechen oder sich der Gefangennahme entziehen zu können — Sylveste und seine Frau.

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