Fünfunddreißig

Im Inneren von Cerberus

2567


»Wie lange noch?«

»Wir sind erst seit einem Tag unterwegs.« Sajakis Stimme drang dünn und wie aus weiter Ferne zu Sylveste, obwohl sein Anzug nur zwanzig oder dreißig Meter entfernt war. »Wir haben noch Zeit genug, keine Sorge.«

»Ich glaube Ihnen«, sagte Sylveste. »Jedenfalls glaubt Ihnen ein Teil von mir. Der andere Teil ist sich nicht so sicher.«

»Dieser andere Teil könnte ich sein«, sagte Calvin leise. »Und ich glaube nicht, dass wir genug Zeit haben. Es ist nicht ausgeschlossen, aber wir sollten uns lieber nicht darauf verlassen. Nicht, wenn man so wenig weiß wie wir.«

»Soll das Vertrauen erwecken…«

»Ganz und gar nicht.«

»Dann halt den Mund, bis du etwas Konstruktives beizutragen hast.«

Sie waren mehrere Kilometer tief in Cerberus’ zweite Schicht vorgedrungen. In gewisser Beziehung ein guter Fortschritt, hatten sie doch mehr an Höhe verloren, als die höchsten Berge der Erde aufzubieten hatten — aber immer noch zu langsam. Bei diesem Tempo kämen sie niemals rechtzeitig zurück, selbst wenn sie ihr wie auch immer geartetes Ziel erreichen sollten. Der Brückenkopf würde vor den Energien, die von den Verteidigungssystemen in der Kruste unermüdlich abgegeben wurden, schon lange vorher kapitulieren und verdaut oder wie ein Obstkern ins All gespuckt werden.

Die zweite Schicht — das Grundgestein, auf dem die Schlangen lagen und in das die Dachstützen ihre Wurzeln geschlagen hatten — war von kristalliner Beschaffenheit und unterschied sich deutlich von den quasi-organischen Strukturen darüber. Sylveste und Sajaki hatten sich durch die schmalen Zwischenräume zwischen den dicht gepackten Kristallgebilden nach unten gearbeitet wie Ameisen, die sich ihren Weg durch die Fugen einer Ziegelmauer suchten. Es war ein mühsamer Abstieg, der an den Reaktionsmassespeichern in den Anzügen zehrte, denn jeder Schritt musste sofort durch Schubstöße abgebremst werden. Anfangs hatte Sylveste vorgeschlagen, die Monofil-Greifer zu verwenden, die von den Anzügen ausgeschleudert werden konnten (vielleicht wurden sie auch erzeugt oder extrudiert, die Einzelheiten interessierten ihn nicht); aber das hatte ihm Sajaki ausgeredet: sie hätten damit zwar Reaktionsmasse gespart, wären aber auch viel langsamer gewesen, und sie hatten noch Hunderte von Kilometern unter sich. Davon abgesehen hätten sie sich auf streng vertikale Bewegungen beschränken müssen und damit potenziellen Abwehrsystemen ein leichtes Ziel geboten. Also bewältigten sie den Abstieg meistens im Flug und hielten so oft wie nötig an, um in kleinen Mengen Cerberus-Materie aufzunehmen. Bisher hatte sich Cerberus gegen diesen Vampirismus nicht gewehrt, und die Kristalle enthielten genügend Schwermetalle in Spurenelementen, um die Triebwerksreservoire wieder aufzufüllen.

»Es scheint fast, als wüsste der Planet nicht, dass wir hier sind«, sagte Sylveste.

Calvin antwortete ihm. »Schon möglich. So tief ist wohl seit undenklicher Zeit niemand mehr gekommen. Vielleicht sind die Systeme zur Entdeckung und Abwehr von Eindringlingen längst nicht mehr funktionsfähig — vorausgesetzt, sie haben jemals existiert.«

»Wieso habe ich plötzlich den Eindruck, du wolltest mich aufmuntern?«

»Nehmen wir an, ich handle nur in deinem Interesse.«

Sylveste sah förmlich, wie Calvin lächelte, obwohl die Simulation keine visuelle Komponente hatte. »Immerhin glaube ich, was ich eben sagte. Je tiefer wir hinabsteigen, desto geringer wird die Wahrscheinlichkeit, als unerwünschte Eindringlinge erkannt zu werden. Es ist wie im menschlichen Körper — in der Haut ist die Dichte der Schmerzrezeptoren am höchsten.«

Sylveste erinnerte sich, wie er einmal in Chasm City nach einer Wanderung zu viel kaltes Wasser getrunken und davon Magenkrämpfe bekommen hatte, und fragte sich, ob Calvins Behauptungen auch nur ein Fünkchen Wahrheit enthielten. Sie waren ohne Zweifel beruhigend, aber ließ sich daraus auch wirklich ableiten, dass sich alles, was tiefer lag, im Halbschlaf befand? Waren die hochwirksamen Verteidigungseinrichtungen der Kruste sinnlos geworden, weil unterhalb davon nichts mehr so arbeitete, wie die Amarantin es einst vorgesehen hatten? War Cerberus eine fest verschlossene und blank polierte Schatztruhe, die nur verrostetes Alteisen enthielt — oder womöglich gar nichts?

Solche Überlegungen führten auf Abwege. Wenn er in den letzten fünfzig (oder noch mehr) Jahren seines Lebens nicht nur zwanghaft irgendwelchen Wahnvorstellungen nachgejagt war, dann musste es hier etwas geben, das die Suche lohnte. Es war ein Gefühl, das er nicht in Worte fassen konnte, aber er war sich so sicher wie nie zuvor.

Der Abstieg dauerte einen weiteren Tag. Sylveste schlief immer wieder ein. Sein Anzug weckte ihn nur, wenn etwas Wichtiges passierte oder sich in der Umgebung Veränderungen abspielten, die irgendwelche voreingestellten Toleranzen überschritten, und der Mechanismus fand, dass er sie miterleben sollte. Ob Sajaki ebenfalls schlief, konnte Sylveste nicht feststellen, aber wenn nicht, dann hatte das wohl mit der ungewöhnlichen physiologischen Konstitution des Mannes zu tun; mit seinem selbstreinigenden, mit Nanomaschinen angereicherten Blut und seinem schieberkonfigurierten Bewusstsein, das keine Ruhephasen nötig hatte, um Bilanz zu ziehen. In weniger problematischem Gelände, zumeist dann, wenn ein unergründlich tiefer Schacht in Sicht kam, legten sie maximal einen Kilometer pro Minute zurück. Auf dem Rückweg wären sie natürlich schneller, denn falls sich Cerberus’ Struktur nicht veränderte, kannten die Anzüge dann den Weg. Jetzt kam es immer wieder vor, dass sie nach mehreren Kilometern erst bemerkten, in eine Sackgasse geraten zu sein oder der Schacht zu eng wurde für ein Durchkommen. Dann mussten sie an die letzte Weggabelung zurückkehren und es mit einem anderen Ast versuchen. Sie konnten nur experimentell vorgehen, denn die Anzugsensoren sahen allenfalls ein paar hundert Meter nach vorne, bevor ihnen massive Kristallblöcke die Sicht versperrten. Dennoch schwebten sie, stets begleitet von ihrem grünlich fahlen Schein, langsam, aber unaufhaltsam Kilometer um Kilometer weiter in die Tiefe.

Die Formationen hatten sich kaum merklich verändert; hier fanden sich Blöcke von mehreren Kilometern Durchmesser, die so reglos und gleichgültig anmuteten wie Gletscher. Alle Kristalle waren miteinander verbunden, aber dazwischen gab es höhlenartige Räume und schwindelerregend tiefe Spalten, die in stummem Aufbegehren gegen das Schwerkraftfeld der Welt frei zu schweben schienen. Sylveste fragte sich, was das wohl sein mochte. Tote Materie — tote Kristalle, um genau zu sein — oder etwas ganz anderes? Waren es womöglich Bauteile; Komponenten eines weltumspannenden Mechanismus von so gewaltiger Größe, dass er sich nicht nur den Blicken, sondern sich auch der Vorstellung entzog? Wenn es Maschinen waren, dann speisten sie sich aus einer schwer fassbaren Quantenrealität, in der Begriffe wie Wärme und Energie unscharf wurden. Jedenfalls waren sie kalt wie Eis (das sagten ihm die Thermalsensoren des Anzugs). Dennoch spürte er unter den durchsichtigen Flächen da und dort eine starke Bewegung wie von einem tickenden Uhrwerk hinter einer Acrylwand. Doch als er den Anzug aufforderte, der Sache mit seinen Sensoren nachzugehen, erhielt er nur vage Ergebnisse, mit denen er wenig anfangen konnte.

Nach vierzig Stunden Abstieg mit vielen Umwegen machten sie eine wichtige und hilfreiche Entdeckung. Die Kristallmatrix wurde dünner, und nach einer Übergangszone von nur einem Kilometer Dicke öffneten sich Schächte, die breiter und tiefer waren als alle bisherigen und offenbar einem bestimmten Zweck dienten. Jeder der zehn Schächte, die sie untersuchten, war zwei Kilometer breit und führte zweihundert Kilometer weit senkrecht ins Nichts. Die Wände strahlten den gleichen fahlgrünen Schein aus wie die Kristallelemente. Auch hinter ihnen spürte Sylveste jenes unterdrückte Vibrieren und schloss daraus, dass die Schächte Teil desselben Systems waren, auch wenn sie ganz andere Funktionen erfüllten. Er fühlte sich an die großen Pyramiden in Ägypten erinnert. Dort hatte die Bauweise die Anlage von Schächten erforderlich gemacht — man brauchte Fluchtwege für die Arbeiter, nachdem sie die Grabkammern von innen versiegelt hatten. Vielleicht galt hier etwas Ähnliches, vielleicht war durch diese Schächte ursprünglich auch die Hitze von Motoren abgeleitet worden, die jetzt stillstanden.

Die Entdeckung war ein Himmelsgeschenk, denn sie beschleunigte den Abstieg außerordentlich, aber das Geschenk war nicht ohne Risiko. Die senkrecht abfallenden Schachtwände boten im Falle eines Angriffs keine Deckung, eine Flucht wäre nur in zwei Richtungen möglich. Wenn sie andererseits noch weiter zögerten, saßen sie womöglich im Innern von Cerberus fest, wenn der Brückenkopf zusammenbrach, und diese Aussicht wäre nicht erfreulicher. Also benutzten sie die Schächte.

Sie konnten sich nicht einfach fallen lassen. Das war bei Entfernungen von bis zu einem Kilometer noch möglich gewesen, aber hier entstanden allein durch die Breite der Schächte unerwartete Probleme. Sie wurden von geheimnisvollen Kräften immer wieder auf die vorbeirasenden Wände zu getragen und mussten mit Korrekturschüben gegensteuern, um nicht gegen die grünlichen Jadeflächen geschmettert zu werden. Auslöser war natürlich der Coriolis-Effekt, jene legendäre Kraft, die an der Oberfläche rotierender Planeten durch Krümmung der Windvektoren Zyklone erzeugte. Hier wirkte der Coriolis-Effekt einem streng linearen Fall entgegen, denn Cerberus rotierte, und Sylveste und Sajaki mussten mit jeder Bewegung, die sie dem Kern näher brachte, der Seitwärtsbeschleunigung entgegenwirken. Dennoch kamen sie im Gegensatz zum Anfang ihrer Reise erfreulich rasch voran.

Der Angriff setzte ein, als sie hundert Kilometer tief gefallen waren.


»Es bewegt sich«, sagte Volyova.

Zehn Stunden waren vergangen, seit sie das Lichtschiff verlassen hatte. Sie war erschöpft, obwohl sie immer wieder ein Nickerchen eingelegt hatte, um für das, was kam, möglichst viel Energie zu sammeln. Aber das hatte wenig genutzt; die kurzen Phasen der Bewusstlosigkeit genügten nicht, um all die körperlichen und geistig-seelischen Strapazen der letzten Tage zu kompensieren. Zugleich war sie hellwach, so als hätte ihr Körper kurz vor dem Zusammenbruch notgedrungen auf die letzten Energiereserven zugegriffen. Der Zustand war sicher nicht von Dauer, und wenn die Atempause vorüber war, würde sich der Preis, den sie dafür bezahlen musste, noch einmal erhöhen — aber im Moment war sie auch um eine kurze Spanne der Aufnahmebereitschaft froh. »Was bewegt sich?«, fragte Khouri. Volyova deutete mit einem Nicken zu der grell weißen Shuttle-Konsole mit den hufeisenförmig angeordneten Anzeigen hin, die sie aktiviert hatte. »Das verdammte Schiff natürlich, was sonst?« Pascale erwachte und gähnte. »Was ist los?«

»Nichts weiter. Wir sind nur in Schwierigkeiten«, antwortete Volyova. Ihre Finger tanzten über die Tastatur und riefen weitere Werte ab, obwohl sie eigentlich keine Bestätigung mehr brauchte. Schlechte Nachrichten bestätigten sich wie immer selbst. »Das Lichtschiff hat sich wieder in Bewegung gesetzt. Das kann zweierlei bedeuten, aber auf jeden Fall nichts Gutes. Sonnendieb hat die größeren Systeme, die ich mit Palsy außer Kraft gesetzt hatte, wieder in Betrieb genommen.«

»Zehn Stunden Frist waren nicht schlecht — damit sind wir immerhin so weit gekommen.« Pascale wies mit dem Kinn zum nächsten Positionsdisplay. Danach hatte das Shuttle mehr als ein Drittel der Strecke nach Cerberus zurückgelegt.

»Was noch?«, fragte Khouri.

»Daraus folgt, dass Sonnendieb inzwischen genügend Erfahrung mit dem Antrieb gesammelt hat, um ihn voll einzusetzen. Bisher hat er nur sehr vorsichtig taktiert, um dem Schiff nicht zu schaden.«

»Und das heißt wiederum?«

Auch Volyova wies nun auf die Positionsanzeige. »Nehmen wir an, er würde den Antrieb jetzt voll beherrschen und auch die Toleranzen kennen. Bei seiner derzeitigen Flugbahn befindet sich das Schiff auf Abfangkurs zu uns. Sonnendieb versucht uns zu erreichen, bevor wir Dan oder auch nur den Brückenkopf erreichen. Auf diese Entfernung bieten wir noch ein zu kleines Ziel — Strahlenwaffen würden zu weit streuen, um uns ernsthaft zu schaden, und subrelativistischen Projektilen könnten wir mit willkürlichen Flugbewegungen ausweichen —, aber es wird nicht lange dauern, bis wir in der kritischen Reichweite sind.«

»Und wie lange genau?« Pascale runzelte die Stirn. Eine ziemlich störende Angewohnheit, fand Volyova, aber sie verzog keine Miene. »Wir haben doch schon einen beträchtlichen Vorsprung?«

»Das zwar schon, aber jetzt kann Sonnendieb nichts mehr daran hindern, das Lichtschiff mit zwanzig oder dreißig Ge zu beschleunigen — Werte, die für uns nicht in Frage kommen, wenn wir nicht zu Brei zerquetscht werden wollen. Das Problem besteht für ihn nicht. Die einzigen Lebewesen, die jetzt noch an Bord sind, laufen auf vier Beinen, quieken und machen hässliche Flecken, wenn man sie erschießt.«

»Da wäre auch noch der Captain«, sagte Khouri. »Aber ich glaube nicht, dass Sonnendieb auf ihn Rücksicht nehmen würde.«

»Ich fragte, wie lange«, sagte Pascale.

»Mit etwas Glück könnten wir Cerberus knapp erreichen«, erklärte Volyova. »Aber dann hätten wir keine Zeit, um Erkundungen anzustellen und Alternativen zu erwägen. Wir müssten schon wegen der Bordwaffen sofort ins Innere, und wir müssten ziemlich weit hinunter.« Aus den Tiefen ihres Körpers quoll ein glucksendes Lachen herauf. »Vielleicht hat es dein Mann von vornherein richtig gemacht. Vielleicht ist er sehr viel sicherer als wir alle. Jedenfalls im Moment.«

Einzelne Bereiche in den kristallinen Schachtwänden leuchteten stärker als andere und bildeten Muster. Es handelte sich um amarantinische Schriftzeichen, aber sie waren so riesig, dass Sylveste sie nicht sofort erkannte. Außerdem sahen sie anders aus als die Symbole, die ihm vertraut waren. Sie schienen einer anderen Sprache anzugehören. Wie ein Blitz traf ihn die Erkenntnis, dass dies die Sprache der Verbannten sein musste; jenes Schwarms, der Sonnendieb ins Exil und später zu den Sternen gefolgt war. Zehntausende von Jahren trennten diese Schrift von allen Proben, die er je gesehen hatte. Es war ein Wunder, dass er ihr einen Sinn entlocken konnte.

»Was sagen sie uns?«, fragte Calvin.

»Dass wir nicht willkommen sind.« Sylveste staunte, dass die Zeichen überhaupt zu ihm sprachen. »Vorsichtig ausgedrückt.«

Sajaki musste den stummen Gedanken aufgefangen haben. »Was genau?«

»Sie sagen, dieses Stockwerk hätten sie gebaut«, übersetzte Sylveste. »Es sei ihr Werk.«

»Damit«, bemerkte Calvin, »bist du wohl endgültig rehabilitiert — der Planet wurde tatsächlich von den Amarantin geschaffen.«

»Unter anderen Umständen wäre jetzt ein Drink fällig«, sagte Sylveste, aber er war nicht mehr ganz bei der Sache. Zu sehr faszinierten ihn die Schriftzeichen, die Gedanken, die sie auslösten. Er hatte das schon öfter erlebt, wenn er sich mit Amarantin-Schriften beschäftigte, aber noch nie hatte er mit einer solchen Geläufigkeit, einer so absoluten Sicherheit übersetzt. Es war spannend und beängstigend zugleich.

»Bitte, sprechen Sie weiter«, sagte Sajaki.

»Es ist, wie ich sagte: eine Warnung. Hier steht, wir sollten nicht weitergehen.«

»Was vermutlich bedeutet, dass wir von unserem Ziel nicht mehr weit entfernt sind.«

Den Eindruck hatte auch Sylveste, ohne ihn begründen zu können. »Die Warnung besagt, dass sich da unten etwas befindet, was wir nicht sehen sollen«, sagte er.

»Sehen? Steht das wörtlich so da?«

»Das Denken der Amarantin ist stark visuell geprägt, Sajaki. Was immer es ist, sie wollen, dass wir ihm nicht zu nahe kommen.«

»Was den Schluss zulässt, dass es wertvoll ist — meinen Sie nicht auch?«

»Und wenn die Warnung nun aufrichtig gemeint wäre?«, fragte Calvin. »Keine Drohung; sondern eine echte, von Herzen kommende Bitte, sich fern zu halten. Kannst du aus dem Kontext erschließen, ob das der Fall ist?«

»Wenn es die mir vertraute Amarantin-Schrift wäre, vielleicht.« Sylveste verschwieg, dass er die Botschaft genau so interpretierte wie Calvin, aber diesen Eindruck nicht rational beweisen konnte. Doch das schreckte ihn nicht ab. Er fragte sich vielmehr, was die Amarantin dazu bewogen haben könnte; was so schlimm war, dass es in einer künstlichen Welt eingeschlossen und mit den stärksten Waffen verteidigt werden musste, die je eine Zivilisation gekannt hatte. Was war so unsagbar schrecklich, dass man es nicht einfach zerstören konnte? Was für ein Monstrum hatten sie geschaffen?

Oder gefunden?

Der Gedanke traf ihn wie ein Geschoss und fand in seinem Bewusstsein ein Loch, das wie für ihn geschaffen war. Als gehörte er dorthin. Sonnendiebs Schwarm hat etwas gefunden. Weit draußen am Rand des Systems hat er eine Entdeckung gemacht.

Während er noch mit dieser Erkenntnis kämpfte, lösten sich die entzifferten Schriftzeichen aus dem Schacht und ließen Hohlräume zurück. Andere folgten; ganze Wörter, Phrasen, Sätze schälten sich ab und umkreisten Sajaki und Sylveste lauernd wie riesige Gebäude. Sie schwebten frei, gehalten von einem unbekannten Mechanismus, der weder mit gravitationellen noch mit magnetischen Schwankungen arbeitete und daher für die Sensoren des Anzugs nicht wahrnehmbar waren. Sylveste war von der absoluten Fremdheit dieser Objekte zunächst wie betäubt, doch dann begriff er, dass hier eine Logik am Werk war, gegen die es keinen Widerspruch gab. Was wäre wirkungsvoller als eine Warnung, die sich, wenn sie missachtet wurde, selbst in die Tat umsetzte?

Plötzlich blieb für derart abstrakte Überlegungen keine Zeit mehr.

»Anzugverteidigung auf Automatik.« Die Stimme des sonst so unerschütterlichen Sajaki kletterte eine volle Oktave höher. »Mir scheint, diese Gebilde wollen uns zermalmen.«

Als hätte Sylveste das nicht schon selbst gemerkt!

Die schwebenden Worte hatten sich um sie herum zu einer Kugel geordnet und rückten bedrohlich näher. Sylveste überließ seinem Anzug die Initiative. Sichtschilde wurden aktiviert, um die Retina vor der zerstörerischen Helligkeit der Plasma-Explosionen zu schützen. Alle manuellen Steuerungen wurden vorübergehend außer Kraft gesetzt. Das hatte gute Gründe: das Letzte, was der Anzug jetzt brauchte, war ein Mensch, der glaubte, die anstehenden Aufgaben besser erledigen zu können. Trotz der schweren Abschirmung tanzte ein Feuerwerk vor Sylvestes Augen. Photonenereignisse reizten seine Schaltkreise. Gleich außerhalb der Anzughülle tobten multispektrale Strahlungen von tödlicher Intensität. Er spürte heftige Bewegungen; Schubstöße vermutlich, die so stark waren, dass er immer wieder das Bewusstsein verlor. Er kam sich vor wie ein Zug, der durch eine ganze Serie von Gebirgstunneln fuhr. Vermutlich wollte sein Anzug weglaufen und wurde immer wieder radikal abgebremst. Irgendwann fiel er in eine tiefe, lange Ohnmacht.


Volyova fuhr den Schub der Melancholie bis auf fast vier Ge Dauerbeschleunigung hoch und baute zusätzlich willkürliche Schwenks ein, für den Fall, dass das Lichtschiff mit kinetischen Waffen schießen sollte. Mehr Druck konnten sie ohne Schutzanzüge mit Brust- und Rückenschilden nicht ertragen und auch dieser Wert war unangenehm, besonders für Pascale, die an solche Belastungen noch weniger gewöhnt war als Khouri. Sie konnten ihre Sitze nicht verlassen, und alle Armbewegungen mussten auf ein Minimum reduziert werden. Immerhin konnten sie ein mehr oder weniger zusammenhängendes Gespräch miteinander führen.

»Du hattest Kontakt mit ihm?«, fragte Khouri. »Mit Sonnendieb, meine ich. Ich habe es dir angesehen, als du kamst, um uns vor den Ratten in der Krankenstation zu retten. Es stimmt doch, nicht wahr?«

Volyovas Stimme klang leicht gepresst, als würde sie gerade langsam stranguliert.

»Wenn ich an deiner Geschichte noch Zweifel hatte, so verschwanden sie in dem Moment, als ich in sein Gesicht sah. Ich hatte ein Alien vor mir, soviel war sicher. Und ich begriff allmählich, was Boris Nagorny durchgemacht haben musste.«

»Du meinst, was ihn in den Wahnsinn trieb.«

»Glaube mir, wenn dieses Wesen sich in meinem Kopf eingenistet hätte, wäre es mir nicht anders ergangen. Außerdem befürchte ich, dass etwas von Boris in Sonnendieb eingedrungen sein könnte.«

»Was glaubst du denn, wie mir zumute ist?«, fragte Khouri. »Ich habe das Ding in meinem Kopf.«

»Das ist nicht wahr.«

Volyova schüttelte den Kopf, was bei vier Ge schon an Verwegenheit grenzte. »Er hatte dein Bewusstsein für eine Weile besetzt, Khouri — so lange, bis er die Reste der Mademoiselle unterdrückt hatte. Aber dann hat er dich verlassen.«

»Wann soll das gewesen sein?«

»Als Sajaki dich trawlen wollte. Vermutlich war es mein Fehler. Ich hätte nicht zulassen dürfen, dass er das Gerät überhaupt einschaltete.« Für ein Schuldbekenntnis klang das bemerkenswert wenig zerknirscht. Vielleicht genügte Volyova schon das Eingeständnis allein. »Als der Scanner auf deine Neuralmuster zugriff, bettete sich Sonnendieb darin ein und gelangte mit den verschlüsselten Daten in den Trawl. Von dort war es nur noch ein kleiner Sprung in alle anderen Schiffssysteme.«

Die drei dachten schweigend nach, bis Khouri endlich sagte: »Sajaki gewähren zu lassen war nicht gerade deine klügste Entscheidung, Ilia.«

»Nein«, gab Volyova zu, als sei ihr der Gedanke eben erst gekommen. »Das muss man wohl so sehen.«

Als er — zehn Sekunden oder zehn Minuten später — wieder zu sich kam, waren die Sichtschilde abgeschaltet, und er fiel ungebremst durch den Schacht. Er schaute nach oben. Kilometerweit über ihm leuchtete die Reststrahlung des kurzen Gefechts. Die Schachtwände waren von den Energiestrahlen zerschrammt. Einige der Worte schwebten immer noch im Kreis herum, aber Teile davon waren abgesplittert, so dass sie nicht mehr viel Sinn ergaben. Und sie hatten aufgehört, sich als Waffen zu gebärden, als hätten sie eingesehen, dass ihre Warnung nicht mehr verständlich war. Während er noch hinaufsah, kehrten sie auf ihre Plätze zurück wie Krähen, die sich verdrossen in ihre Nester zurückzogen.

Irgendetwas stimmte nicht.

Wo war Sajaki?

»Was, zum Teufel, ist passiert?«, fragte Sylveste. Er konnte nur hoffen, dass sein Anzug die Frage auch richtig interpretierte. »Wohin ist er verschwunden?«

»Es gab einen Zusammenstoß mit einem autonomen Verteidigungssystem«, teilte ihm der Anzug so gleichgültig mit, als sprächen sie über das Wetter.

»Danke, das habe ich mitbekommen, aber wo ist Sajaki?«

»Sein Anzug wurde bei einem der Ausweichmanöver schwer getroffen. Verschlüsselte Telemetriesignale lassen umfangreiche und möglicherweise irreparable Schäden an primären und sekundären Antriebsaggregaten vermuten.«

»Ich habe gefragt, wo er ist?«

»Sein Anzug konnte weder die Fallgeschwindigkeit bremsen, noch dem Coriolis-Effekt entgegenwirken, der ihn gegen die Wände trieb. Die Telemetriesignale zeigen an, dass er sich fünfzehn Kilometer unter Ihnen befindet und immer noch weiter stürzt. Die Blauverschiebung relativ zu Ihrer Position beträgt eins Komma eins Kilometer pro Sekunde, Tendenz steigend.«

»Er fällt noch immer?«

»Da seine Antriebsaggregate ausgefallen sind und bei seiner derzeitigen Geschwindigkeit keine Monofil-Bremsleine ausgefahren werden kann, wird er wahrscheinlich so lange weiter stürzen, bis er am Schachtende ankommt.«

»Heißt das, er muss sterben?«

»Bei der errechneten Endgeschwindigkeit ist ein Überleben für alle Modelle statistisch gesehen extrem unwahrscheinlich und daher auszuschließen.«

»Eine Chance von eins zu einer Million«, präzisierte Calvin.

Sylveste legte sich nach vorne, um senkrecht nach unten schauen zu können. Fünfzehn Kilometer — mehr als das Siebenfache der Breite der echolosen Röhre. Er starrte unverwandt in die Tiefe, während er selbst immer weiter fiel… ein paar Mal glaubte er, weit entfernt etwas aufblitzen zu sehen. Vielleicht ein Funke, der entstand, wenn Sajaki im Sturz die Wände streifte. Falls der Lichtblitz nicht ohnehin Illusion war, wurde er mit jedem Mal schwächer, und bald war außer den glatten Schachtwänden nichts mehr zu sehen.

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