Zwei

An Bord eines Lichtschiffs,

Interstellarer Raum

2543


Das Problem mit den Toten war, dachte Triumvir Ilia Volyova, dass sie nicht wussten, wann sie den Mund zu halten hatten.

Sie hatte soeben von der Brücke aus den Fahrstuhl bestiegen, nachdem sie sich achtzehn Stunden lang mit verschiedenen Simulationen einstmals lebender Personen aus der fernen Vergangenheit des Schiffes beraten hatte. Nun war sie todmüde. Sie hatte mit allen Tricks versucht, einem oder mehreren ihrer Gesprächspartner brauchbare Informationen über die Herkunft der Weltraumgeschütze zu entlocken. Es war Knochenarbeit gewesen, nicht zuletzt deshalb, weil einige der älteren Beta-Persönlichkeiten nicht einmal Neu-Norte sprachen und die Software, auf der sie liefen, sich aus irgendeinem Grund zu keiner Übersetzung bewegen ließ. Volyova hatte ununterbrochen geraucht, während sie sich mit den grammatikalischen Fallen des Mittel-Norte herumschlug, und sie dachte nicht daran, ihren Lungen jetzt Abstinenz zu verordnen. Nach den aufreibenden Gesprächen war sie völlig verkrampft und brauchte die Zigaretten mehr denn je. Die Klimaanlage des Fahrstuhls funktionierte nicht richtig, und so hatte sie die kleine Kabine schon nach wenigen Sekunden vollkommen eingenebelt.

Volyova schob den Ärmel ihrer pelzgefütterten Lederjacke zurück und befahl der Sehnsucht nach Unendlichkeit über das Armband, das sie um ihr knochiges Handgelenk trug: »Zum Captainsdeck.« Daraufhin übertrug das Schiff einem mikroskopisch kleinen Teil seiner selbst die primitive Aufgabe, den Fahrstuhl zu steuern, und im nächsten Augenblick sackte ihr der Boden unter den Füßen weg.

»Wünschen Sie Musik während der Fahrt?«

»Nein. Und ich habe dir schon an die tausend Mal erklärt, dass ich nur meine Ruhe haben will. Halt den Mund und lass mich nachdenken!«

Sie fuhr durch das Rückgrat des Schiffes, einen vier Kilometer langen Schacht, der vom Bug bis zum Heck reichte. Irgendwo am symbolischen oberen Ende war sie eingestiegen (sie kannte nur 1050 Decks) und sank jetzt mit einer Geschwindigkeit von zehn Decks pro Sekunde nach unten. Der Fahrstuhl war ein auf Magnetfeldern schwebender Glaskasten. Die Innenverkleidung des schienenlosen Schachts wurde gelegentlich durchsichtig, so dass sie sich orientieren konnte, ohne auf die Karte im Fahrstuhlinnern sehen zu müssen. Jetzt fuhr sie durch Wälder: Terrassengärten mit planetarer Vegetation, die aus Mangel an Pflege verwildert war und bald sterben würde, weil die meisten der UV-Lampen, die den Wald einst mit Sonnenlicht versorgt hatten, defekt waren und niemand Zeit hatte, sie zu reparieren. Unterhalb der Wälder folgten die achthunderter Decks; riesige Schiffszonen für die Unterbringung der Mannschaft, als die noch in die Tausende ging. Nach Deck 800 fuhr der Fahrstuhl durch den riesigen und zurzeit statischen Anker, der das drehbare Habitat des Schiffs von den nicht drehbaren Versorgungsbereichen trennte, dann sank er durch zweihundert Decks mit Kryogen-Tanks; genügend Kapazität für hunderttausend Schläfer — falls welche da gewesen wären.

Volyova befand sich mehr als einen Kilometer unterhalb ihres Ausgangspunkts, aber der Druck blieb konstant, die Lebenserhaltung war eines der wenigen Systeme, die noch so funktionierten, wie sie sollten. Dennoch sagte ihr ein Restinstinkt, dass ihr bei dieser Sinkgeschwindigkeit die Ohren knacken müssten.

»Atriumdecks«, meldete der Fahrstuhl, der auf eine längst überholte Ausgabe des ursprünglichen Schiffsplans zugegriffen hatte. »Hier finden Sie in Ihrer Freizeit Zerstreuung und Entspannung.«

»Sehr komisch.«

»Wie bitte?«

»Ich meine, du hast schon recht merkwürdige Vorstellungen. Kennst du jemanden, der in seiner Freizeit freiwillig in einen Druckanzug steigt und sich mit Strahlenschutzmedikamenten volldröhnt, bis ihm die Gedärme auslaufen? Ich halte das nicht für ein reines Vergnügen.«

»Wie bitte?«

»Vergiss es«, seufzte Volyova.

Nun ging es einen Kilometer weit durch Zonen mit vermindertem Druck. Volyova spürte, wie sie leichter wurde, als sie an den Triebwerken vorbeischwebte. Die waren außen am Rumpf, an eleganten, rückwärts gepfeilten Tragholmen angebracht, saugten mit weit aufgesperrten Mäulern in winzigen Mengen interstellaren Wasserstoff ein und bereiteten ihre Ernte mit irgendwelchen physikalischen Verfahren auf, die vollkommen unverständlich waren. Niemand, nicht einmal Volyova, behauptete zu wissen, wie Synthetiker-Triebwerke funktionierten. Wichtig war nur, dass sie es taten. Wichtig war außerdem, dass sie ständig von einem warm leuchtenden Nebel aus exotischen Teilchen umgeben waren. Zwar wurde die Strahlung zum größten Teil von der Abschirmung des Schiffsrumpfs absorbiert, aber etwas ging wohl doch durch. Deshalb beschleunigte der Fahrstuhl, wenn er an den Triebwerken vorbeifuhr, und bremste wieder auf Normalgeschwindigkeit ab, sobald er den Gefahrenbereich verlassen hatte.

Volyova hatte jetzt zwei Drittel der Schiffslänge zurückgelegt. Hier unten kannte sie sich besser aus als die übrige Besatzung: Sajaki, Hegazi und die anderen kamen nur herunter, wenn es einen ganz besonderen Grund dafür gab. Und wer wollte es ihnen verdenken? Je tiefer man sank, desto mehr näherte man sich dem Captain, und sie war die einzige, der diese Vorstellung keine Angst einjagte.

Nein; sie war nicht nur weit entfernt, diesen Teil des Schiffes zu fürchten, sie hatte ihn sogar zu ihrem eigenen Reich erkoren. Auf Deck 612 hätte sie aussteigen, den Spinnenraum ansteuern und damit das Schiff verlassen können, um den Stimmen der Gespenster zu lauschen, die den Raum zwischen den Sternen unsicher machten. Eine Aussicht, die sie immer wieder verlockend fand. Aber jetzt musste sie arbeiten — sie hatte ein ganz bestimmtes Anliegen — die Geister konnte sie auch ein andermal besuchen. Auf Deck 500 befand sich der Feuerleitstand. Im Vorbeifahren fielen ihr all die Probleme in Zusammenhang damit wieder ein, und sie hätte am liebsten angehalten, um neue Untersuchungen durchzuführen. Gleich danach stürzte sie durch den Raum mit den Weltraumgeschützen — eine von mehreren großen luftleeren Blasen innerhalb des Schiffes.

Das riesige Gewölbe hatte einen Durchmesser von nahezu einem halben Kilometer, aber jetzt war alles dunkel, und Volyova musste sich die vierzig Objekte, die es enthielt, in ihrer Phantasie vorstellen. Das fiel ihr nicht schwer. Zwar gab es viele offene Fragen, was die Funktion und die Herkunft dieser Waffensysteme anging, aber ihre Form und ihre Standorte kannte sie so genau wie ein Blinder die mit Bedacht aufgestellten Möbel seines Schlafzimmers. Am liebsten hätte sie die Hand aus dem Fahrstuhl gestreckt und den Metallrahmen des nächsten Kolosses gestreichelt, nur um sich zu vergewissern, dass er noch da war. Seit sie zum Triumvirat gestoßen war, hatte sie sich bemüht, möglichst viel über die Geschütze in Erfahrung zu bringen, aber sie hätte nicht behaupten können, sich in ihrer Nähe wohl zu fühlen. Sie ging ebenso nervös an sie heran wie an eine neue Liebe, wusste sie doch, dass alle bisher gesammelten Informationen nur oberflächlicher Natur waren, und dass alles, was unter dieser Oberfläche lag, jede Illusion zerstören könnte.

Sie bedauerte es nicht allzu sehr, den Geschützpark wieder zu verlassen.

Auf Deck 450 schoss sie wieder an einem Anker vorbei, diesmal trennte er den Versorgungsbereich vom sich konisch verjüngenden Leitwerk des Schiffes, das sich noch einen weiteren Kilometer nach unten erstreckte. Der Fahrstuhl beschleunigte abermals in einem Strahlungsgürtel, dann leitete er die lange Bremsphase ein, um schließlich zum Stehen zu kommen. Dabei durchfuhr er die zweite Serie von Kryo-Decks, zweihundertfünfzig Etagen, die ein-hundertzwanzigtausend Schläfer aufnehmen konnten. Derzeit gab es natürlich nur einen einzigen, falls man so großzügig sein wollte, den Zustand des Captains als Schlaf zu bezeichnen. Der Fahrstuhl wurde jetzt langsamer. Auf halbem Weg durch die Kryo-Decks hielt er an und verkündete freundlich, er habe das angegebene Ziel erreicht.

»Kryo-Schlafdeck für Passagiere, Pforte«, meldete der Fahrstuhl. »Hier bekommen Sie alles, was Sie im Kälteschlaf brauchen. Wir bedanken uns, dass Sie unseren Service in Anspruch genommen haben.«

Die Tür ging auf, Volyova trat über die Schwelle und schaute durch den schmalen Spalt hinab auf die immer enger werdenden, hell erleuchteten Schachtwände. Sie hatte fast die gesamte Länge (oder Höhe — es fiel schwer, sich das Schiff nicht als unglaublich hohes Gebäude vorzustellen) durchfahren, und dennoch war nach unten noch kein Ende des Schachtes abzusehen. Das Schiff war so groß — so unsinnig groß —, dass der Verstand nicht einmal seine Grenzen zu erfassen vermochte.

»Ja, schon gut. Und jetzt tu mir den Gefallen und hau ab!«

»Wie bitte?«

»Fahr weiter!«

Was der Fahrstuhl natürlich nicht tun würde — es gab ja auch keinen triftigen Grund dafür, außer, sie zu beschwichtigen. Er hatte nichts anderes zu tun, als auf sie zu warten. Volyova war als einziger Mensch auf dem Schiff wach, folglich hatte niemand außer ihr eine Veranlassung, die Fahrstühle zu benutzen.

Vom Mittelschacht bis zum Kälteschlaftank des Captains war ein weiter Weg. Und sie musste einige Umwege nehmen, denn weite Teile des Schiffes waren mit Viren verseucht, die ausgedehnte Funktionsstörungen verursachten, und konnten deshalb nicht betreten werden. Einige Zonen waren mit Kühlmittel überflutet, in anderen trieben sich bösartige Pförtnerratten herum. Wieder andere wurden von wild gewordenen Verteidigungsschleppsäcken bewacht, denen Volyova lieber aus dem Weg ging, wenn sie nicht gerade Lust auf eine Verfolgungsjagd hatte. Einige Räume waren mit Giftgas gefüllt, luftleer oder hochgradig verstrahlt. In manchen sollte es sogar spuken.

Volyova glaubte nicht an Gespenster (abgesehen von den Geistern natürlich, die sie vom Spinnenraum aus hörte), aber alles andere nahm sie durchaus ernst. Gewisse Bereiche des Schiffs betrat sie nur bewaffnet. Aber die Umgebung des Captains war ihr soweit vertraut, dass sie keine umfangreicheren Vorsichtsmaßnahmen traf. Immerhin war es hier kalt, und so schlug sie den Kragen ihrer Jacke hoch und zog sich die Mütze weiter über die Ohren. Die Maschen scheuerten an ihren Haarstoppeln. Sie zündete sich eine neue Zigarette an. Nach mehreren tiefen Zügen wich die Leere aus ihrem Kopf und wurde durch eiskalte, militärische Wachsamkeit ersetzt. Sie kam gut allein zurecht und freute sich nur in Maßen darauf, wieder menschliche Gesellschaft zu bekommen. Vor allem, wenn das bedeutete, dass sie sich mit der Nagorny-Situation auseinandersetzen musste. Vielleicht würde sie sich doch nach einem neuen Waffenoffizier umsehen, wenn sie das Yellowstone-System erreichten.

Wie war diese Sorge nur durch ihre mentale Abschirmung gedrungen?

Im Augenblick beschäftigte sie doch gar nicht Nagorny, sondern der Captain. Und da war er auch schon, er oder die ersten Ausläufer dessen, was aus ihm geworden war. Volyova nahm sich zusammen. Sie musste Ruhe bewahren. Die bevorstehende Untersuchung verursachte ihr jedes Mal von neuem Übelkeit. Sie fiel ihr schwerer als den anderen; ihr Abscheu war stärker. Sie war brezgati; zimperlich.

Es war ein wahres Wunder, dass Brannigans Kälteschlaftank immer noch funktionierte. Volyova wusste, dass es sich um ein sehr altes — überaus robustes — Modell handelte. Der Tank war immer noch redlich bemüht, die Körperzellen in Stasis zu halten, obwohl aus breiten, paläolithischen Sprüngen in seiner Schale längst faserige Metallwucherungen quollen. Das Gewächs kam aus dem Inneren und breitete sich aus wie ein Pilz. Was immer von Brannigan noch übrig war, befand sich tief darunter.

In der Nähe des Tanks war es bitter kalt und bald fror Volyova erbärmlich. Aber sie hatte zu tun. Sie zog eine Kürette aus ihrer Jacke und brannte dünne Späne des Gewächses ab, um sie zu analysieren. In ihrem Labor wollte sie verschiedene Viren darauf ansetzen, in der Hoffnung, eine Waffe zu finden, für die das Gewächs anfällig war. Sie wusste aus Erfahrung, dass die Mühe zum großen Teil vergeblich sein würde — das Gewächs verstand es nur zu gut, alle molekularen Instrumente stumpf zu machen, mit denen sie es attackierte. Immerhin konnte sie sich Zeit lassen: der Tank kühlte Brannigan auf wenige Hundert Millikelvin über dem absoluten Nullpunkt herunter, und die Kälte schien die Ausbreitung doch etwas zu bremsen. Andererseits wusste Volyova, dass bisher noch kein Mensch aus diesem Temperaturbereich erfolgreich reanimiert worden war, aber das war beim derzeitigen Zustand des Captains eher zweitrangig.

Sie sprach mit gedämpfter Stimme in ihr Armband. »Logbuchdatei über den Captain öffnen und folgenden Zusatz anfügen.«

Das Armband meldete mit leisem Zirpen seine Bereitschaft.

»Dritter Kontrollbesuch bei Captain Brannigan seit meiner Reanimation. Die…«

Sie zögerte. Ein unpassender Ausdruck könnte Triumvir Hegazi verärgern — nicht dass sie das sonderlich gestört hätte. Ob sie es wohl wagen durfte, von der ›Schmelzseuche‹ zu sprechen, nachdem die Bewohner von Yellowstone diesen Namen geprägt hatten? Vielleicht war es doch nicht zu empfehlen.

»…Krankheit scheint sich seit dem letzten Eintrag nicht weiter beschleunigt zu haben. Die Fortschritte betragen nur wenige Millimeter. Kryo-Funktionen nach wie vor im grünen Bereich — erstaunlich. Aber wir müssen uns wohl darauf einstellen, dass ein Ausfall des Tanks früher oder später unvermeidlich…« Wenn es dazu kam, dachte sie, und es ihnen nicht gelang, den Captain schnell genug in ein neues Gerät zu verlegen (wobei nach wie vor offen war, wie sie das bewerkstelligen wollten), hätten sie auf jeden Fall ein Problem weniger, mit dem sie sich herumschlagen mussten. Auch er wäre dann — hoffentlich — aller Sorgen ledig.

Sie befahl dem Armband »Logbuch schließen« und fügte hinzu: »Hirnkern des Captains um fünfzig Millikelvin erwärmen.« Sie wünschte sich sehnlichst, für diesen Moment noch einen Glimmstängel aufgespart zu haben.

Sie wusste aus Erfahrung, dass dieser Wert das erforderliche Minimum war. Bei geringerer Temperaturerhöhung blieb das Gehirn in eisiger Stasis gefangen. Bei stärkerer Erwärmung beschleunigten sich die Transformationen für ihren Geschmack zu sehr.

»Captain?«, fragte sie. »Können Sie mich hören? Ich bin es, Ilia.«


Sylveste stieg aus dem Schlepper und ging zum Gitter zurück. Während des Gesprächs mit Calvin war der Wind merklich stärker geworden. Seine Wangen brannten. Der Staub war so rau wie eine Hexenhand.

»Hoffentlich hat die kleine Unterhaltung ihren Zweck erfüllt.« Pascale hatte sich die Maske abgerissen und schrie gegen den Wind an. Sie wusste über Calvin Bescheid, hatte allerdings noch nie persönlich mit ihm gesprochen. »Sind Sie jetzt bereit, Vernunft anzunehmen?«

»Holen sie mir Sluka.«

Normalerweise hätte sie sich gegen einen solchen Befehl verwahrt; jetzt nahm sie Rücksicht auf seine schlechte Laune, ging zum zweiten Schlepper und kam kurz darauf mit Sluka und einigen anderen Arbeitern wieder.

»Wie man mir sagte, wollen Sie uns jetzt anhören?« Sluka baute sich vor ihm auf, der Wind wehte ihr eine lose Haarsträhne vor die Schutzbrille. In einer Hand hielt sie die Maske, aus der sie immer wieder Luft holte, die andere hatte sie in die Hüfte gestemmt. »In diesem Fall werden sie feststellen, dass man mit uns vernünftig reden kann. Ihr guter Ruf liegt uns allen am Herzen. Wenn wir erst wieder in Mantell sind, werden wir über die Sache kein Wort mehr verlieren. Wir werden sagen, Sie hätten den Abzug sofort befohlen, als die Warnung kam. Dann ist es allein Ihr Verdienst.«

»Und Sie glauben, das spielt auf lange Sicht irgendeine Rolle?«

»Was ist an einem einzigen Obelisken so verdammt wichtig?«, fauchte Sluka. »Was ist an den ganzen Amarantin so verdammt wichtig?«

»Sie haben die größeren Zusammenhänge nie erkannt, wie?«

Pascale stand etwas abseits, hielt die abnehmbare Kamera ihres Notepads in der Hand und zeichnete diskret — aber nicht so diskret, dass er es nicht bemerkt hätte — die Unterredung auf. »Manche Leute würden sagen, es gäbe gar keine größeren Zusammenhänge«, sagte Sluka. »Sie hätten die Bedeutung der Amarantin nur übertrieben, um die Archäologen in Lohn und Brot zu halten.«

»Das ist Ihre Ansicht, Sluka, nicht wahr? Aber Sie waren schließlich von Anfang an nicht unbedingt eine von uns.«

»Was soll das heißen?«

»Das soll heißen, dass Girardieu keine bessere Wahl hätte treffen können, wenn er jemanden von seinen Leuten bei uns hätte einschleusen wollen.«

Sluka drehte sich zu ihren Kollegen um, die Sylveste immer mehr wie eine aufgebrachte Horde erschienen. »Hört euch den armen Teufel an — schon ertrinkt er in Verschwörungstheorien. Jetzt kann man sich etwa vorstellen, was der Rest der Kolonie seit Jahren erlebt.« Schon hatte sie ihn wieder im Visier. »Mit Ihnen ist nicht zu reden. Wir fahren ab, sobald die Geräte verstaut sind — und falls der Sturm noch stärker wird, schon vorher. Sie können mitkommen.« Sie nahm einen Atemzug durch die Maske, ihre Wangen bekamen wieder Farbe. »Aber Sie können auch versuchen, hier draußen zu überleben. Das liegt ganz bei Ihnen.«

Er wandte sich an die Horde. »Dann geht doch! Fahrt ruhig los! Lasst euch von sentimentalen Gefühlen wie Loyalität nicht aufhalten. Oder hat irgendjemand genügend Mumm, um hier zu bleiben und seine Arbeit zu Ende zu bringen?« Er schaute von einem zum anderen, aber alle wandten verlegen den Blick ab. Er kannte die Leute kaum mit Namen, auch die Gesichter waren ihm bis vor kurzem fremd gewesen; jedenfalls war keiner von ihnen mit dem Schiff von Yellowstone gekommen; sie kannten nichts anders als Resurgam mit seiner Hand voll menschlicher Siedlungen, die wie Edelsteine in der trostlosen Landschaft verstreut waren. Er musste ihnen vorkommen wie ein Fossil.

»Sir«, sagte einer — möglicherweise der Junge, der ihn zuerst vor dem Sturm gewarnt hatte. »Sir; es ist nicht so, dass wir keinen Respekt vor Ihnen hätten. Aber wir müssen auch an uns denken. Verstehen Sie das denn nicht? Was immer hier vergraben liegt, es lohnt sich nicht, dafür ein solches Risiko einzugehen.«

»Da irren Sie sich«, widersprach Sylveste. »Dafür lohnt sich ein noch viel höheres Risiko, als Sie sich überhaupt vorstellen können. Begreifen Sie denn nicht? Das Ereignis ist den Amarantin nicht widerfahren. Sie haben es ausgelöst. Sie haben es selbst herbeigeführt.«

Sluka schüttelte bedächtig den Kopf. »Sie sollen ihre Sonne hochgejagt haben? Glauben Sie das wirklich?«

»Mit einem Wort: Ja.«

»Dann sind Sie noch viel verrückter, als ich befürchtet hatte.« Sluka wandte ihm den Rücken zu und befahl ihrer Horde: »Lasst die Schlepper an. Wir fahren.«

»Was ist mit den Geräten?«

»Die können meinetwegen hier bleiben und verrotten.« Die Horde zerstreute sich, alle schlenderten auf die massigen Fahrzeuge zu.

»Wartet!«, rief Sylveste. »Hört mich an! Wenn ihr die Geräte zurücklasst, braucht ihr nur einen Schlepper — er bietet Platz genug für alle.«

Sluka wandte sich wieder ihm zu. »Und was ist mit Ihnen?«

»Ich bleibe hier — ich bringe die Arbeit allein zu Ende, oder will noch jemand bleiben?«

Sie schüttelte den Kopf, riss sich die Maske vom Gesicht und spuckte voller Abscheu auf den Boden. Doch als sie ging, holte sie den Rest ihrer Brigade ein und führte sie zu einem der Schlepper. Damit hatte er den zweiten — mit seiner Kabine — für sich allein. Slukas Horde bestieg das Fahrzeug. Einige von den Studenten trugen kleinere Geräte oder Kisten mit Fundstücken und Gebeinen aus der Grabungsstätte. Der Instinkt des Wissenschaftlers siegte selbst über den Zorn des Meuterers. Die Rampen wurden eingeklappt und die Luken geschlossen, dann hob sich der Schlepper auf seine Beine, drehte sich schlurfend um und entfernte sich. Nach kaum einer Minute war er den Blicken entschwunden, und das Tosen des Windes übertönte den Lärm seiner Motoren.

Sylveste drehte sich um und wollte sehen, wer noch geblieben war.

Pascale stand da — aber das war fast unvermeidlich; sie wäre ihm wohl bis ins Grab gefolgt, wenn dabei eine gute Geschichte herausgesprungen wäre. Eine Hand voll Studenten hatte sich Sluka widersetzt; beschämt stellte er fest, dass er sie nicht einmal mit Namen ansprechen konnte. Vielleicht ein halbes Dutzend war noch im Wheeler-Gitter. Wenn er Glück hatte.

Er nahm sich zusammen, wandte sich an zwei der Zurückgebliebenen und schnippte mit den Fingern. »Ihr könnt die Gravitationsscanner abbauen, wir brauchen sie nicht mehr.« Dann nahm er sich das nächste Paar vor. »Ihr beginnt an der Rückseite des Gitters und sammelt alle Werkzeuge ein, die Slukas Deserteure zurückgelassen haben, außerdem die Notizen und alle Kisten mit Fundstücken. Wenn ihr fertig seid, treffen wir uns am Fuß des großen Schachts.«

»Was haben Sie jetzt vor?«, fragte Pascale. Sie schaltete ihre Kamera ab und ließ sie ins Notepad zurückfahren.

»Ich dachte, das liegt auf der Hand«, sagte Sylveste. »Ich will mir ansehen, was auf diesem Obelisken steht.«


Chasm City, Yellowstone,

Epsilon Eridani-System

2524


Ana Khouri war beim Zähneputzen, als das Kontrollpult ihrer Suite anschlug. Sie kam mit Schaum vor dem Mund aus dem Bad.

»Morgen, Kiste.«

Der Hermetiker glitt in die Wohnung. Seine Reisesänfte, auch Palankin genannt, war mit kunstvollen Schnitzereien verziert und hatte vorne ein schwarzes Fensterchen. Bei passender Beleuchtung konnte man hinter dem zolldicken, grünen Glas K. C. Ngs totenbleiches Gesicht auf und ab hüpfen sehen.

»He, du siehst gut aus«, sagte er. Seine Stimme drang krächzend durch das Sprechgitter des Kastens. »Wo kriegt man das, was dich so munter macht?«

»Es nennt sich Kaffee, Kiste. Und ich trinke viel zu viel von dem verdammten Zeug.«

»War nur ein Witz«, sagte Ng. »Du siehst aus wie aufgewärmte Scheiße.«

Sie wischte sich mit der Hand den Schaum vom Mund. »Ich bin eben erst aufgewacht, du Arschloch.«

»Verzeihung.« Das klang so, als sei der Akt des Aufwachens eine physische Schwäche von vorgestern, die Ng längst abgelegt hatte. Ähnlich wie ein Blinddarm. Vielleicht stimmte das ja auch: Khouri hatte den Mann im Kasten noch nie genau gesehen. Die Hermetiker gehörten zu den sonderbarsten Gruppierungen, die in den Jahren nach der Seuche entstanden waren. Einerseits wollten sie nicht auf Implantate verzichten, auch wenn sie womöglich von der Seuche verdorben waren, andererseits waren sie überzeugt, dass selbst die vergleichsweise saubere Welt des Baldachins von Erregern nicht völlig frei war. Also verließen sie ihre Sänften nur innerhalb einer hermetisch abgedichteten Umgebung und konnten sich lediglich in einigen wenigen Orbitalkarussellen frei bewegen.

Wieder krächzte die Stimme: »Entschuldige, aber wenn ich mich nicht irre, haben wir heute Morgen einen Auftrag zu erledigen. Erinnerst du dich an diesen Taraschi, hinter dem wir seit zwei Monaten her sind? Kommt dir der Name irgendwie bekannt vor? Es wäre nicht ganz unwichtig, denn schließlich bist du diejenige, die ihn von seinem Elend erlösen soll.«

»Geh von meinem Nacken runter, Kiste.«

»Selbst wenn ich mich dort niederlassen wollte, liebe Khouri, gäbe das anatomische Probleme. Aber im Ernst, wir haben einen Ort und einen Zeitpunkt für den Abschuss festgelegt, einen geschätzten Todeszeitpunkt. Hast du alle deine Sinne beisammen?«

Khouri schenkte sich einen letzten Schluck Kaffee ein, den Rest ließ sie auf dem Herd stehen. Sie würde ihn trinken, wenn sie zurückkam. Kaffee war ihr einziges Laster, seit ihrer Dienstzeit als Soldat auf Sky’s Edge war sie ihm verfallen. Wichtig war, gerade so viel zu trinken, dass man hellwach war, aber sich nicht so aufzuputschen, dass man keine Waffe halten konnte, ohne zu zittern.

»Ich glaube, ich habe den Blutanteil in meinem Koffeinkreislauf auf ein erträgliches Niveau reduziert, wenn du das meinst.«

»Dann können wir uns über die letzten Dinge unterhalten, jedenfalls so weit es Taraschi betrifft.«

Ng feuerte eine Salve von Anweisungen für die Schlussphase des Abschusses ab. Das meiste stand bereits im Plan, manches konnte sie sich aus ihren Erfahrungen aus früheren Aufträgen auch selbst zusammenreimen. Taraschi war ihr fünftes Mordopfer in Folge, so dass sie allmählich auch die größeren Zusammenhänge sah. Es war ein Spiel mit eigenen Regeln, auch wenn das nicht auf den ersten Blick erkennbar sein mochte, und diese Regeln kehrten mit leichten Abwandlungen bei der Planung jedes neuen Abschusses wieder. Inzwischen waren sogar die Medien auf sie aufmerksam geworden, ihr Name wurde häufiger genannt, und Kiste war offenbar schon dabei, ihr für die nächsten Aufträge besonders pikante und renommierte Ziele zuzuschanzen. Sie war auf dem besten Weg, in die Gruppe der hundert fähigsten Meuchelmörder des Planeten aufgenommen zu werden; eine wahrhaft erlesene Gesellschaft.

»Alles klar«, sagte sie. »Unter dem Denkmal, Einkaufszentrum achte Etage, Westflügel, in einer Stunde. Ein Kinderspiel.«

»Hast du nicht etwas vergessen?«

»Richtig. Wo ist die Mordwaffe, Kiste?«

Ngs Schatten nickte hinter dem Fenster. »Wo die Zahnfee sie hingelegt hat, meine Liebe.«

Damit wendete er seinen Palankin und verließ die Wohnung. Nur ein schwacher Geruch nach Schmieröl blieb zurück. Khouri runzelte die Stirn, dann schob sie langsam die Hand unter das Kissen auf ihrem Bett. Kiste hatte Recht, da war etwas. Als sie sich schlafen legte, hatte noch nichts unter dem Kissen gelegen, aber das konnte sie inzwischen kaum noch erschüttern. Die Firma wandelte gern auf geheimnisvollen Pfaden.

Bald war sie so weit.

Sie versteckte die Mordwaffe unter ihrem Mantel und rief sich eine Seilbahn vom Dach. Die Gondel entdeckte die Waffe und die Implantate in ihrem Kopf sofort und hätte ihr die Beförderung verweigert, wenn sie nicht den Omega-Point-Ausweis unter dem Nagel ihres rechten Zeigefingers vorgezeigt hätte, eine kleine holografische Zielscheibe, die durch das Keratin flimmerte. »Zum Denkmal für die Achtzig«, befahl Khouri.

Sylveste stieg von der Leiter und durchquerte die Grube mit den Stufen, bis er den Lichtkreis um die Spitze des Obelisken erreichte. Sluka und einer der anderen Archäologen hatten ihn im Stich gelassen, aber der einzige noch verbliebene Arbeiter hatte — mit Hilfe des Servomaten — die ineinander verschachtelten Stein-Sarkophage Schicht für Schicht abgetragen und den massiven Obsidian-Block fast einen Meter weit freigelegt. In die Seitenwand waren mit großer Kunstfertigkeit amarantinische Schriftzeichen eingraviert. Das meiste war Text: Reihen von Ideogrammen. Die Archäologen hatten die Sprache der Amarantin in ihren Grundzügen enträtselt, ohne dass ihnen ein zweiter Stein von Rosette dabei geholfen hätte. Die Amarantin waren die achte ausgestorbene Fremdkultur, die von der Menschheit im Umkreis von fünfzig Lichtjahren von der Erde entdeckt worden waren, wobei nichts darauf hinwies, dass eine dieser acht Spezies je mit einer der anderen in Berührung gekommen wäre. Auch von den Musterschiebern und den Schleierwebern war keine Unterstützung zu erwarten: beide Arten schienen nicht einmal Ansätze einer Schrift entwickelt zu haben. Das wusste niemand besser als Sylveste, der mit den Schiebern wie mit den Webern — oder zumindest mit deren Technik — in Kontakt gekommen war.

Stattdessen war die Sprache der Amarantin von Computern entschlüsselt worden. Es hatte dreißig Jahre gedauert — und den Vergleich von Millionen von Fundstücken erfordert —, aber dann stand endlich ein in sich stimmiges Modell, mit dem man die Aussage der meisten Inschriften bestimmen konnte. Von Vorteil war dabei, dass die Amarantin wenigstens zum Ende ihres Daseins nur eine Sprache gekannt hatten, die sich zudem nur langsam veränderte. So konnte man mit ein und demselben Modell Inschriften entziffern, die im Abstand von Zehntausenden von Jahren entstanden waren. Bedeutungsnuancen waren natürlich ein ganz anderer Fall. Hier waren das menschliche Einfühlungsvermögen — und theoretische Grundlagen — gefragt.

Allerdings gab es im menschlichen Erfahrungsbereich nichts, was mit den Schriften der Amarantin vergleichbar gewesen wäre. Alle Texte waren stereoskopisch — verschlungene Linien, die im visuellen Kortex des Lesers verschmolzen werden mussten. Die Amarantin stammten von vogelähnlichen Wesen ab — einer Art fliegender Dinosaurier mit der Intelligenz von Lemuren. Auf irgendeiner Stufe ihrer Entwicklung hatten die Augen zu beiden Seiten des Schädels gesessen, was zu einer starken Zweiteilung der Gehirntätigkeit geführt hatte, bei dem sich jede Gehirnhälfte ihr eigenes, mentales Modell der Welt aufbaute. Später waren sie Jäger geworden und hatten begonnen, mit beiden Augen zu sehen, aber die mentalen Vernetzungen waren noch immer von dieser früheren Entwicklungsphase geprägt. Die meisten Amarantin-Funde spiegelten diese geistige Dualität mit deutlicher Symmetrie um die vertikale Achse wider.

Der Obelisk war keine Ausnahme.

Sylveste brauchte anders als seine Mitarbeiter keine Spezialbrille, um die Schriftzeichen lesen zu können; er brauchte nur einen von Calvins sinnvolleren Algorithmen einzusetzen, um die Verschmelzung der stereoskopischen Bilder mit bloßem Auge durchführen zu können. Dennoch blieb der Akt des Lesens umständlich und erforderte angestrengte Konzentration.

»Ich brauche hier mehr Licht«, sagte er. Der Student nahm einen der tragbaren Scheinwerfer vom Pfosten und hielt ihn über die Seitenwand des Obelisken. Irgendwo hoch oben wetterleuchtete es: zwischen den Staubschichten im Sturm entluden sich elektrische Spannungen.

»Können Sie es lesen, Sir?«

»Ich bemühe mich«, sagte Sylveste. »Es ist nicht ganz einfach. Schon gar nicht, wenn Sie das Licht nicht ruhig halten.«

»Verzeihung, Sir. Ich tue, was ich kann. Aber der Wind wird immer stärker.«

Er hatte Recht; selbst in den Tiefen des Schachts bildeten sich bereits Wirbel. Wenn es noch unruhiger wurde, würde sich der Staub verdichten, bis die Luft zu einer undurchsichtigen, grauen Masse wurde. Unter solchen Bedingungen konnte man nicht lange arbeiten.

»Ich entschuldige mich«, sagte Sylveste. »Ich bin Ihnen sehr dankbar für Ihre Hilfe.« Noch nicht zufrieden mit dieser Aussage, fügte er hinzu: »Und ich bin froh, dass Sie bei mir geblieben sind und nicht bei Sluka.«

»Die Entscheidung war nicht schwer, Sir. Nicht jeder von uns steht Ihren Ideen ablehnend gegenüber.«

Sylveste schaute vom Obelisken auf. »Allen meinen Ideen?«

»Wir finden zumindest, dass sie untersucht werden sollten. Immerhin liegt es im Interesse der Kolonie zu begreifen, was damals geschehen ist.«

»Sie meinen das Ereignis?«

Der Student nickte. »Wenn es wirklich von den Amarantin ausgelöst wurde… und wenn es tatsächlich mit den Anfängen der Raumfahrt zusammenfiel — dann wäre das wohl nicht nur von akademischem Interesse.«

»Ich verabscheue diesen Ausdruck. Er klingt, als wäre jede andere Art von Interesse von vorneherein verdienstvoller. Aber Sie haben Recht. Wir müssen es wissen.«

Pascale kam näher. »Was genau müssen wir wissen?«

»Was ihre Sonne dazu brachte, sie zu töten.« Sylveste drehte sich um und starrte Pascale aus seinen künstlichen Augen mit den übergroßen Silberfacetten an. »Damit wir am Ende nicht den gleichen Fehler machen.«

»Sie meinen, es war ein Unfall?«

»Ich kann mir wirklich nicht vorstellen, dass sie es mit Absicht getan haben, Pascale.«

»Das ist mir klar.« Er wusste, wie sie es hasste, wenn er in diesem gönnerhaften Ton mit ihr sprach. Er hasste es ja selbst. »Aber ich weiß auch, dass steinzeitliche Aliens ganz einfach nicht die Mittel haben, um das Verhalten ihres Sterns zu beeinflussen, ob absichtlich oder nicht.«

»Wir wissen, dass sie über die Steinzeit hinaus waren«, sagte Sylveste. »Sie hatten das Rad und das Schießpulver erfunden; sie kannten die Grundzüge einer wissenschaftlichen Optik und interessierten sich als Ackerbauern für Astronomie. Als die Menschheit auf dieser Stufe stand, brauchte sie nicht mehr als fünfhundert Jahre bis zur Raumfahrt. Wäre es nicht ziemlich anmaßend, einer anderen Spezies weniger zuzutrauen?«

»Aber wo sind die Beweise?« Pascale stand auf und schüttelte den Staub ab, der sich in den Falten ihres Wintermantels gesammelt hatte. »Oh, ich weiß schon, was Sie sagen wollen — Produkte der High-Tech-Industrie wurden nicht gefunden, weil sie von Natur aus weniger haltbar waren als Artefakte aus früheren Zeiten. Aber selbst wenn es Beweise gegeben hätte — was würde das ändern? Nicht einmal die Synthetiker wagen sich an die Sterne heran, und sie sind sehr viel weiter fortgeschritten als der Rest der Menschheit, uns eingeschlossen.«

»Ich weiß. Das ist es ja, was mich beunruhigt.«

»Was besagt denn nun die Inschrift?«

Seufzend wandte sich Sylveste wieder dem Obelisken zu. Er hatte gehofft, die Ablenkung würde seinem Unterbewusstsein etwas Muße verschaffen, um sich mit dem Text zu beschäftigen und ihm eine klare Lösung zu präsentieren. Auf diese Weise hatte er damals vor der Expedition zu den Schleierwebern eins der psychologischen Rätsel gelöst. Aber diesmal verweigerte sich die Erkenntnis hartnäckig; die Schriftzeichen ergaben immer noch keinen Sinn. Vielleicht machte er sich auch falsche Hoffnungen. Er hatte eine gewaltige Offenbarung erwartet, etwas, das seine Vorstellungen in ihrer ganzen Grausamkeit bestätigte.

Aber die Schrift war offenbar nur zum Andenken eingeritzt worden — an eine Begebenheit, die in der Geschichte der Amarantin eine große Rolle gespielt haben mochte, aber — gemessen an seinen Erwartungen — sicher in höchstem Maße provinziell war. Um ganz sicher sein zu können, wäre eine umfassende Computeranalyse erforderlich, und er konnte nur etwa einen Meter Text ganz oben lesen — aber schon spürte er eine lähmende Enttäuschung. Wofür der Obelisk auch stand, für ihn war es nicht mehr von Interesse.

»Es ist ein Bericht«, sagte Sylveste. »Über eine Schlacht vielleicht oder die Erscheinung eines Gottes. Das ist alles — ein Gedenkstein. Wenn wir ihn ausgraben und das Alter der Kontextschicht bestimmen, wissen wir sicher mehr. Wir können auch eine Trapped Electron-Messung vornehmen, das heißt, den Fund auf die Anzahl gefangener Elektronen untersuchen.«

»Es ist nicht das, wonach Sie suchen, nicht wahr?«

»Eine Weile dachte ich, es wäre so.« Sylveste schaute zum untersten Rand der freigelegten Obeliskenfläche. Der Text endete wenige Zentimeter über der obersten Verkleidungsschicht, danach begann ein neuer Abschnitt, der sich weiter fortsetzte, als er sehen konnte. Es war eine Art Diagramm — aber nur die obersten Bögen mehrerer konzentrischer Kreise waren zu erkennen. Was mochte das sein?

Sylveste konnte — wollte — keine Vermutungen anstellen. Der Sturm wurde heftiger. Jetzt waren gar keine Sterne mehr zu sehen, nur eine einzige alles verhüllende Staubwand raste über sie hinweg wie ein riesiger Fledermausflügel. Wenn sie den Schacht verließen, kämen sie direkt in die Hölle.

»Ich brauche etwas zum Graben«, sagte er. Und dann begann er, den Permafrost-Boden über der obersten Sarkophagschicht wegzukratzen. Er arbeitete so hastig wie ein Gefangener, der sich bis zum nächsten Morgen einen Tunnel aus seiner Zelle scharren wollte. Augenblicke später packten auch Pascale und der Student mit an. Über ihnen heulte der Sturm.


»Ich weiß nicht mehr viel«, sagte der Captain. »Kreisen wir noch um Bloater?«

»Nein«, sagte Volyova und versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, dass sie ihm das schon ein Dutzend Mal erklärt hatte, jedes Mal wenn sie sein Gehirn erwärmte. »Wir haben Kruger 60 A vor einigen Jahren verlassen, nachdem uns Hegazi das Eis für die Abschirmung besorgt hatte.«

»Aha. Wo sind wir dann?«

»Auf dem Weg nach Yellowstone.«

»Wozu das denn?« Die Bass-Stimme des Captains drang grollend aus den Lautsprechern, die in einiger Entfernung von seinem Leichnam aufgestellt waren. Komplexe Algorithmen tasteten seine Hirnströme ab, übersetzten das Ergebnis in Sprache und ergänzten die Antworten, wo es nötig war. Er hatte eigentlich kein Recht, bei Bewusstsein zu sein — an sich erloschen sämtliche Neuralaktivitäten, wenn die Temperatur im Körperinnern unter den Gefrierpunkt fiel. Aber sein Gehirn war mit winzigen Maschinen durchsetzt und bei weniger als einem halben Kelvin über dem absoluten Nullpunkt dachten eigentlich nur noch diese Maschinen.

»Eine gute Frage«, sagte sie. Etwas störte sie, irgendeine Kleinigkeit, die nicht nur mit diesem Gespräch zusammenhing. »Der Grund, weshalb wir Yellowstone anfliegen…«

»Ja?«

»Sajaki glaubt, dort gäbe es einen Mann, der Ihnen helfen kann.«

Der Captain überlegte. Sie hatte auf ihrem Armband eine Karte seines Gehirns: ein Getümmel von Farben, als stießen Soldaten auf einem Schlachtfeld aufeinander. »Der Mann muss Calvin Sylveste sein«, sagte der Captain.

»Calvin Sylveste ist tot.«

»Dann der andere. Dan Sylveste. Ist das der Mann, den Sajaki sucht?«

»Ich wüsste nicht, wer es sonst sein könnte.«

»Er wird nicht freiwillig kommen. Genauso wenig wie beim letzten Mal.« Schweigen trat ein; eine Schwankung in der Quantentemperatur hatte den Captain unter die Bewusstseinsschwelle zurückgestoßen. »Das muss auch Sajaki klar sein«, sagte er, als er wieder zu sich kam.

»Ich bin überzeugt, dass Sajaki alle Möglichkeiten in Erwägung gezogen hat.« Volyovas Tonfall verriet ganz deutlich, wie wenig sie davon tatsächlich überzeugt war. Aber sie würde sich hüten, ausdrücklich etwas gegen den anderen Triumvir zu sagen. Sajaki war immer der engste Vertraute des Captains gewesen — als Volyova zur Besatzung gestoßen war, hatten sich die beiden schon seit Ewigkeiten gekannt. Soweit sie wusste, sprach niemand außer ihr jemals mit dem Captain — auch Sajaki nicht. Die anderen wussten nicht einmal, dass es diese Möglichkeit gab. Aber wozu ein unnötiges Risiko eingehen — auch wenn der Captain ein notorisch schlechtes Gedächtnis hatte.

»Irgendetwas bedrückt Sie, Ilia. Sie können sich mir ruhig anvertrauen. Ist es Sylveste?«

»Ein eher häusliches Problem.«

»Also etwas an Bord?«

Volyova wusste, dass sie sich nie ganz an diese Visiten gewöhnen würde, aber in den letzten Wochen hatten sie doch einen Anflug von Normalität bekommen. Als wäre es nur eine unangenehme, aber unvermeidliche Pflicht, einen kryogekühlten Leichnam zu besuchen, das Opfer einer in ihrer Ausbreitung gebremsten, aber irgendwann alles verzehrenden Seuche; ein Aspekt des Lebens, der keinem Menschen ganz erspart blieb. Doch jetzt trieb sie die Beziehung noch einen Schritt weiter — gleich würde sie genau das Risiko eingehen, das sie gehindert hatte, ihre Bedenken bezüglich Sajakis zu äußern.

»Es geht um den Feuerleitstand«, sagte sie. »Sie erinnern sich doch, nicht wahr? Der Raum, von dem aus die Waffen im Geschützpark gesteuert werden.«

»Ich denke schon, ja. Was ist damit?«

»Ich hatte einen neuen Mann zum Waffenoffizier ausgebildet; er sollte den Kampfsitz einnehmen und über seine Neuralimplantate mit den Waffen im Geschützpark in Verbindung treten.«

»Wer war dieser neue Mann?«

»Er hieß Boris Nagorny. Nein; sie kennen ihn nicht — er kam erst vor kurzem an Bord, und ich habe ihn von den anderen so weit wie möglich ferngehalten. Und natürlich konnte ich ihn auch nicht mit hierher bringen.« Die Seuche des Captains hätte schließlich auf Nagornys Implantate übergreifen können, wenn sich die beiden zu nahe gekommen wären. Volyova seufzte. Sie näherte sich dem kritischen Punkt ihres Geständnisses. »Nagorny war immer etwas labil, Captain. Ein Borderline-Psychopath war für mich in vieler Hinsicht nützlicher als ein geistig völlig normaler Mensch — jedenfalls dachte ich das damals. Aber ich hatte Nagornys Psychose unterschätzt.«

»Hat sich sein Zustand verschlimmert?«

»Bald nachdem ich ihm die Implantate eingesetzt und ihm erstmals erlaubt hatte, die Verbindung zum Leitstand herzustellen, fing er an, über Albträume zu klagen. Schwere Albträume.«

»Der arme Junge ist zu bedauern.«

Volyova verstand. Verglichen mit dem, was der Captain durchgemacht hatte — und immer noch durchmachte —, mussten ihm die Albträume der meisten Menschen wie sanfte Phantasmagorien vorkommen. Man konnte darüber streiten, ob er Schmerzen empfand oder nicht, aber was bedeuteten schon Schmerzen, wenn man wusste, dass man bei lebendigem Leibe von etwas unbeschreiblich Fremdartigem aufgefressen — und zugleich verwandelt wurde?

»Ich habe keine Ahnung, wovon die Albträume handelten«, sagte Volyova. »Ich weiß nur, dass sie für Nagorny — in dessen Kopf ohnehin schon mehr Gespenster ihr Unwesen trieben, als die meisten von uns verkraftet hätten — zu viel waren.«

»Und was haben Sie dagegen getan?«

»Ich habe alles ausgetauscht — das gesamte Interface-System für den Leitstand und sogar die Implantate in seinem Kopf. Aber es half nichts. Die Albträume blieben.«

»Sie sind sicher, dass sie mit dem Leitstand zu tun hatten?«

»Ich wollte es zunächst nicht wahrhaben, aber es gab eine klare Übereinstimmung zu den Perioden im Kampfsitz.« Sie zündete sich die nächste Zigarette an. Die Glut an der Spitze war das Einzige, was in der Umgebung des Captain Wärme verbreitete. Die Entdeckung einer neuen Schachtel Zigaretten war einer der wenigen Glücksmomente in den letzten Wochen gewesen. »Also habe ich das System noch einmal umgestellt, aber auch das half nichts. Es ging ihm höchstens noch schlechter.« Sie hielt inne. »Daraufhin habe ich Sajaki von meinen Problemen erzählt.«

»Und wie hat Sajaki reagiert?«

»Ich sollte die Experimente zumindest bis zu unserer Ankunft vor Yellowstone unterbrechen. Nagorny sollte ein paar Jahre im Kälteschlaf verbringen, vielleicht würde ihn das von seiner Psychose heilen. Ich dürfte gerne weiter am Leitstand herumbasteln, aber ohne Nagorny noch einmal auf den Sitz zu lassen.«

»Klingt sehr vernünftig. Aber Sie haben den Rat natürlich nicht befolgt.«

Volyova nickte. Es war absurd, aber sie war erleichtert, dass der Captain ihr Verbrechen erraten hatte, ohne dass sie ihm selbst davon erzählen musste.

»Ich bin ein Jahr vor den anderen aufgewacht«, sagte sie. »Ich wollte die Zeit nützen, um das System zu überwachen und mich um Sie zu kümmern. Damit war ich einige Monate lang auch beschäftigt. Dann beschloss ich, Nagorny zu wecken.«

»Für weitere Experimente?«

»Ja. Bis gestern.« Sie zog gierig an ihrer Zigarette.

»Das ist wie beim Zahnarzt, Ilia. Was ist gestern passiert?«

»Nagorny ist verschwunden.« Jetzt war es heraus. »Er hatte einen besonders schlimmen Anfall und ging auf mich los. Ich setzte mich zur Wehr, aber er konnte entkommen. Er muss irgendwo auf dem Schiff sein. Ich habe keine Ahnung, wo.«

Der Captain überlegte lange. Sie konnte sich vorstellen, was er dachte. Das Schiff war groß, und es gab viele Bereiche, die nicht überwacht werden konnten, weil die Sensoren ausgefallen waren. Wenn sich jemand gezielt versteckte, wäre er noch schwerer zu finden.

»Sie werden ihn suchen müssen«, sagte der Captain endlich. »Wenn Sajaki und die anderen aufwachen, darf er nicht mehr frei herumlaufen.«

»Und wenn ich ihn finde?«

»Dann müssen Sie ihn wahrscheinlich töten. Wenn Sie sauber arbeiten, können Sie die Leiche in den Kälteschlaftank zurücklegen und eine Panne arrangieren.«

»Ich soll also einen Unfall vortäuschen?«

»Ja.« Der Teil des Gesichts, den sie durch das Helmfenster sehen konnte, war wie immer völlig ausdruckslos. Die Züge des Captains waren starr wie bei einer Statue.

Der Rat war gut — sie hätte auch selbst darauf kommen können, aber das Problem hatte sie völlig in Anspruch genommen. Bis jetzt war sie jeder Konfrontation mit Nagorny aus dem Weg gegangen, aus Angst, in eine Situation zu kommen, in der sie ihn töten musste. Das hatte sie für untragbar gehalten — aber ob eine Lösung tragbar war oder nicht, hing immer davon ab, aus welchem Blickwinkel man sie betrachtete.

»Danke, Captain«, sagte Volyova. »Sie haben mir sehr geholfen. Wenn Sie gestatten, werde ich Sie jetzt wieder herunterkühlen.«

»Sie kommen doch wieder, Ilia? Unsere kleinen Unterhaltungen bedeuten mir sehr viel.«

»Auch ich möchte nicht mehr darauf verzichten«, sagte sie. Dann befahl sie ihrem Armband, seine Hirntemperatur um fünfzig Millikelvin abzusenken; das genügte für einen tiefen, traumlosen Schlaf. Hoffentlich.

Volyova rauchte schweigend ihre Zigarette zu Ende, dann wandte sie sich ab und schaute den langen, schwarzen Korridor entlang. Irgendwo da draußen — in irgendeinem Teil des Schiffes — lauerte Nagorny. Sie wusste, dass er einen tiefen Groll auf sie hegte. Auch er war jetzt krank; krank im Kopf.

Wie ein Hund, den man einschläfern musste.


»Ich glaube, ich weiß, was das ist«, sagte Sylveste, als der letzte Stein der Sarkophagverkleidung entfernt war und die oberen zwei Meter des Obelisken frei lagen.

»Nämlich?«

»Eine Karte des Pavonis-Systems.«

»Wie komme ich nur darauf, dass Sie das schon vorher erraten hatten?«, fragte Pascale und schielte durch ihre Schutzbrille auf das komplizierte Motiv, zwei leicht gegeneinander verschobene Scharen konzentrischer Kreise. Stereoskopisch verschmolzen, fielen sie zu einer Schar zusammen, die in einigem Abstand über dem Obsidian schwebte. Kein Zweifel, es waren Planetenbahnen. Im Zentrum befand sich die Sonne Delta Pavonis, erkennbar an der entsprechenden Amarantin-Glyphe — einem fünfzackigen Stern, der stark an das menschliche Sternensymbol erinnerte. Dann folgten maßstabsgetreu die fünf Bahnen aller größeren Himmelskörper im System, wobei Resurgam mit dem Amarantin-Symbol für ›Welt‹ bezeichnet war. Auch die Monde der größeren Planeten waren präzise eingetragen, und damit war zweifelsfrei erwiesen, dass es sich nicht um eine zufällig entstandene Figur handelte.

»Ich hatte einen Verdacht«, sagte Sylveste. Er war erschöpft, aber die durchwachte Nacht — und das Risiko — hatten sich gelohnt. Sie hatten viel länger gebraucht, um den zweiten Meter des Obelisken freizulegen, und manchmal hatte der Sturm geheult wie ein ganzes Hexengeschwader vor dem tödlichen Angriff. Aber — nicht zum ersten und sicher auch nicht zum letzten Mal — er hatte nicht ganz die Stärke erreicht, die Cuvier vorhergesagt hatte. Jetzt war das Schlimmste überstanden. Zwar wehten immer noch schwarze Staubwolken über den Himmel, aber das erste Morgenrot vertrieb die Finsternis. Sie waren wohl doch mit dem Leben davongekommen.

»Aber das ändert nichts«, sagte Pascale. »Wir wussten immer, dass sie etwas von Astronomie verstanden; das Diagramm beweist nur, dass sie irgendwann das heliozentrische Universum entdeckt hatten.«

»Es beweist noch mehr«, widersprach Sylveste vorsichtig. »Nicht alle von diesen Planeten sind mit bloßem Auge erkennbar, selbst wenn man die Physiologie der Amarantin berücksichtigt.«

»Dann haben sie eben Teleskope verwendet.«

»Vor kurzem haben Sie noch von steinzeitlichen Aliens gesprochen. Und jetzt trauen Sie ihnen zu, dass sie Teleskope herstellen konnten?«

Er glaubte, sie lächeln zu sehen, obwohl die Atemmaske ihr Gesicht verdeckte. Doch dann schaute sie zum Himmel auf. Unterhalb der Staubschicht war eine helle Raute über die Wälle geglitten.

»Ich glaube, da kommt jemand«, sagte sie.

Rasch kletterten sie die Leiter hinauf und kamen atemlos oben an. Der Wind wehte zwar nicht mehr mit Spitzengeschwindigkeiten wie vor einigen Stunden, aber auf der Oberfläche war immer noch jeder Schritt eine Strapaze. Die Ausgrabungsstätte war verwüstet, Scheinwerfer und Gravitationsscanner waren umgefallen, überall lagen Instrumente verstreut.

Über ihnen zog das Flugzeug seine Bahnen und suchte nach einem Landeplatz. Sylveste sah sofort, dass es aus Cuvier kommen musste; Mantell hatte keine Maschinen dieser Größe. Flugzeuge waren auf Resurgam Mangelware, denn nur mit ihnen konnte man Entfernungen über mehrere hundert Kilometer zurücklegen. Alle noch im Einsatz befindlichen Flugzeuge waren in den ersten Tagen nach Gründung der Kolonie von Servomaten aus heimischen Materialien hergestellt worden. Aber bei der Meuterei waren die Produktionsmaschinen zerstört oder gestohlen worden, folglich war alles, was sie hinterlassen hatten, für die Kolonie unersetzlich. Kleinere Unfallschäden konnten die Flugzeuge selbst regenerieren, und sie brauchten auch keine Wartung — aber durch Sabotage oder Unvorsichtigkeit konnten sie dennoch zerstört werden. Im Lauf der Jahre war der Bestand der Kolonie immer weiter geschrumpft.

Wenn Sylveste die Raute ansah, taten ihm die Augen weh. Die Unterseite der Flügel war mit Tausenden von weißglühenden Heizelementen besetzt, die mit ihrer Wärme für Auftrieb sorgten. Der Kontrast überforderte Calvins Algorithmen.

»Wer ist das?«, fragte einer der Studenten.

»Wenn ich das wüsste«, sagte Sylveste. Doch die Erkenntnis, dass die Maschine aus Cuvier stammte, war keineswegs ermutigend. Er sah, wie sie tiefer ging und schwarze Schatten auf den Boden warf, dann erlosch der Schein der Heizelemente, und sie setzte auf ihren Kufen auf. Eine Rampe wurde ausgefahren, und eine Reihe von Gestalten kam aus der Luke. Calvins Augen schalteten auf Infrarot — jetzt konnte Sylveste die Gestalten auch dann noch deutlich sehen, als sie sich vom Flugzeug entfernten und auf ihn zukamen. Sie waren dunkel gekleidet, trugen Atemmasken und Helme und hatten Harnische mit dem blitzblanken Emblem der Regierung umgeschnallt: eine richtige Miliz, jedenfalls für die Verhältnisse der Kolonie. Die Soldaten kamen nicht mit leeren Händen — die langen Gewehre mit den Doppelgriffen und der Taschenlampe unter dem Lauf sahen bedrohlich aus.

»Das gefällt mir gar nicht«, bemerkte Pascale sehr treffend.

Der Trupp hielt wenige Meter vor ihnen an. »Dr. Sylveste?«, ließ sich eine schwache Stimme durch den immer noch heftigen Wind vernehmen. »Wir haben leider schlechte Nachrichten für Sie.«

Er hatte nichts anderes erwartet. »Worum geht es?«

»Der andere Schlepper, Sir — der schon am Abend abfuhr…«

»Was ist damit?«

»Er hat Mantell nicht erreicht, Sir. Wir haben ihn gefunden. Er wurde unter einem Erdrutsch begraben — auf dem Höhenzug hatten sich große Staubmengen angesammelt. Die Leute hatten keine Chance, Sir.«

»Sluka?«

»Sie sind alle tot, Sir.« Der Regierungsvertreter sah mit seiner schweren Atemmaske wie ein Elefantengott aus. »Es tut mir sehr Leid. Ein Glück, dass Sie nicht alle gleichzeitig losgefahren sind.«

»Das war nicht nur Glück«, sagte Sylveste.

»Sir? Da ist noch etwas.« Der Soldat fasste sein Gewehr fester, mehr, um seine Autorität zu demonstrieren, als um Sylveste damit zu bedrohen. »Ich stelle Sie hiermit unter Arrest, Sir.«


K. C. Ngs Stimme krächzte durch das Cockpit der Seilbahngondel wie das Summen einer gefangenen Wespe. »Findest du schon allmählich Geschmack daran? An unserer schönen Stadt, meine ich.«

»Was verstehst du schon davon?«, fragte Khouri. »Ich meine, wann hast du zum letzten Mal einen Fuß aus diesem verdammten Kasten gesetzt, Kiste? Wahrscheinlich kannst du dich selbst nicht mehr daran erinnern.«

Er war natürlich nicht bei ihr — sein Palankin hätte in der Gondel unmöglich Platz gefunden. Die Gondel musste klein sein; so dicht vor dem Abschluss eines Auftrags durfte man keine Aufmerksamkeit erregen. So lange das Gefährt oben auf dem Dach parkte, hatte es ausgesehen wie ein schwanzloser Helikopter mit teilweise eingerollten Rotoren. Doch an Stelle von Rotorblättern hatte die Gondel schmale Teleskopausleger mit Haken am Ende, die so stark gekrümmt waren wie die Klauen eines Faultiers.

Khouri hatte die Gondel bestiegen, die Tür war zugefallen und hatte den Regen und die Dauergeräusche der Stadt ausgesperrt. Sie hatte ihr Ziel genannt, das in den Tiefen des Mulch gelegene Denkmal für die Achtzig, und der Wagen hatte kurz innegehalten, um unter Berücksichtigung der aktuellen Verkehrslage und der immer neuen Varianten in der Seilbahnführung die optimale Route zu berechnen. Das Computergehirn dieser Gondeln war nicht besonders schlau und brauchte dafür seine Zeit.

Dann hatte sich der Schwerpunkt der Gondel leicht verlagert. Durch das obere Fenster der Knickflügeltür konnte Khouri beobachten, wie einer der drei Arme auf mehr als das Doppelte seiner ursprünglichen Länge ausgefahren wurde, bis die Klaue am Ende eines der Kabel über dem Dach des Gebäudes zu fassen bekam. Ein zweiter Arm hakte sich in ein benachbartes Kabel ein, sie spürte einen jähen Stoß, und dann schwebten sie. Nur wenige Sekunden glitt die Gondel an beiden Kabeln entlang, dann entfernte sich das zweite so weit, dass der Arm es nicht mehr erreichen konnte und mit einem kaum merklichen Ruck losließ. Bevor er jedoch herunterfallen konnte, schoss der dritte Arm heraus und fing ein neues Kabel ein, das zufällig ihre Richtung kreuzte. Wieder glitten sie eine Sekunde dahin, dann begann das Absacken und wieder Aufsteigen von neuem, bis Khouri ein vertrautes Unbehagen im Magen spürte. Es machte die Sache auch nicht besser, dass die Schaukelei offenbar keinerlei Regeln unterworfen war. Die Gondel schien sich die Route im Fahren zusammenzustellen und zum Glück immer dann ein Kabel zu finden, wenn sie eins brauchte. Khouri suchte die Übelkeit mit Atemübungen zu bekämpfen und bewegte nervös die Finger in den schwarzen Lederhandschuhen.

»Zugegeben«, sagte Kiste, »ich habe mich den städtischen Wohlgerüchen schon seit längerem nicht mehr ausgesetzt. Aber du solltest die Luft nicht kritisieren. Sie ist nicht ganz so schmutzig, wie es scheint. Die Filteranlagen gehörten zu den wenigen technischen Geräten, die auch nach der Seuche noch funktionierten.«

Nachdem sich die Gondel an den eng zusammengedrängten Gebäuden der unmittelbaren Umgebung vorbei geschaukelt hatte, kam langsam ein größerer Bereich von Chasm City in Sicht. Man konnte sich kaum vorstellen, dass dieser Wald aus grotesk verkrüppelten Bauwerken einmal die wohlhabendste Stadt in der Geschichte der Menschheit gewesen sein sollte; der Ort, an dem — fast zwei Jahrhunderte lang — der Strom von neuen künstlerischen und wissenschaftlichen Errungenschaften nie versiegt war. Inzwischen gaben sogar die Einheimischen zu, dass ihre Stadt bessere Tage gesehen hatte. Sie nannten sie ›die Stadt, die nie erwacht‹, und das war nicht unbedingt ironisch gemeint. Tausende von ehemals reichen Bürgern lagen in Kryo-Krypten, um in der Hoffnung, diese Epoche sei nur ein Irrweg des Schicksals, im Kälteschlaf Jahrhunderte zu überspringen.

Ganz Chasm City lag in einem natürlichen Krater mit einem Durchmesser von sechzig Kilometern. Innerhalb des Kraterrandes umschloss die Stadt wie ein Ring eine tiefe Spalte — den ›Abgrund‹, nach dem sie benannt war. Geschützt wurde sie von achtzehn Kuppeln, die alles von der Kraterwand bis zum Rand des Abgrunds bedeckten. Die an den Rändern miteinander verbundenen und hier und dort von Türmchen gestützten Kuppeln erinnerten frappant an die Tücher, mit denen man nach dem Tod eines Wohnungseigentümers die Möbel abdeckte. In Chasm City hießen sie das Moskitonetz, aber es gab dafür noch mindestens ein Dutzend weiterer Bezeichnungen in ebenso vielen Sprachen. Die Kuppeln waren lebenswichtig für die Stadt, Yellowstones Atmosphäre — ein eiskaltes Gebräu aus Stickstoff und Methan, mit langen Kohlenstoffketten gewürzt — wäre sofort tödlich gewesen. Zum Glück schützte der Krater die Stadt vor den schlimmsten Stürmen und den Springfluten aus flüssigem Methan. Die heiße Gasbrühe, die der Abgrund ausrülpste, ließ sich mit relativ billigen und einfachen Cracking-Anlagen zur Atmosphäretransformation in atembare Luft verwandeln. Außer Chasm City gab es auf Yellowstone noch eine Hand voll anderer, wesentlich kleinerer Ansiedlungen, doch die hatten allesamt viel mehr Mühe, ihre Biosphäre aufrechtzuerhalten.

In der ersten Zeit auf Yellowstone hatte Khouri die Einheimischen immer wieder gefragt, warum man denn einen so unwirtlichen Planeten überhaupt besiedelt habe. Auf Sky’s Edge mochten unaufhörlich Kriege toben, aber wenigstens konnte man dort ohne Kuppeln leben und brauchte die Atmosphäre nicht aufzubereiten. Aber sie hatte bald gelernt, auch dann keine sinnvolle Antwort zu erwarten, wenn die Frage nicht als Unverschämtheit einer aufdringlichen Fremden aufgefasst wurde. Immerhin lag eines auf der Hand: zunächst hatte der Abgrund die Forscher angezogen, dann war ein fester Außenposten entstanden, und der hatte sich zu einem Siedlerstädtchen entwickelt. Wilde Gerüchte über Reichtümer, die in den Tiefen des Abgrunds schlummern sollten, hatten Scharen von Verrückten, Glücksrittern und Träumern mit leuchtenden Augen angelockt. Einige waren enttäuscht wieder abgezogen. Andere waren im heißen, giftigen Atem des Abgrunds ums Leben gekommen. Doch einige wenige waren geblieben, weil die aufstrebende Stadt an diesem gefährlichen Ort sie irgendwie fesselte. Ging man im schnellen Vorlauf zweihundert Jahre weiter, dann wurde aus der Hand voll Hütten… eine Großstadt.

Ein dichter Wald aus buckligen, ineinander verfilzten Gebäuden erstreckte sich nach allen Seiten, so weit das Auge reichte, und verlor sich schließlich im Nebel. Die ältesten Bauwerke waren noch mehr oder weniger intakt. Den rechteckigen Kästen hatte auch die Seuche nichts anhaben können, weil sie keinerlei Systeme zur Autoreparatur oder Umgestaltung besaßen. Dagegen muteten die modernen Bauten wie bizarre, auf den Kopf gestellte Holztrümmer oder wie verkrümmte alte Bäume im letzten Stadium der Fäulnis an. Ursprünglich waren es symmetrische Wolkenkratzer gewesen, die senkrecht in den Himmel ragten, doch dann hatte sie die Seuche zu ungezügeltem Wachstum angeregt, sie entwickelten knollenförmige Geschwülste und krankhafte Wucherungen, die sich zu einem heillosen Wirrwarr verschlangen. Jetzt waren sie alle tot, in Formen erstarrt, die es geradezu darauf anlegten, Unbehagen zu verbreiten. Ringsum waren Elendsviertel entstanden, die unteren Etagen verschwanden in einem Gewirr von windschiefen Baracken und baufälligen Läden, in denen offene Feuer flackerten. Dazwischen bewegten sich winzige Gestalten. Fußgänger und Rikschafahrer gingen auf Straßen, die man willkürlich über die Ruinen gelegt hatte, ihren zwielichtigen Geschäften nach. Kraftfahrzeuge gab es kaum, und was Khouri an Maschinen sah, wurde offenbar noch mit Dampf betrieben.

Die Slums krochen nie weiter als bis zum zehnten Stockwerk an einem Gebäude hinauf, dann brachen sie unter ihrem eigenen Gewicht zusammen. Darüber zeigten sich die Mauern der Hochhäuser zwei- bis dreihundert Meter weit glatt und vergleichsweise frei von krankhaften Verformungen. In diesem Mittelbereich war die Stadt allem Anschein nach unbewohnt. Erst ganz oben hatten die Menschen wieder ihre Spuren hinterlassen: zwischen knorrigen Gebäudeästen klebten terrassenförmige Gebilde wie Storchennester. Erleuchtete Wohnungsfenster und Neonreklamen verkündeten protzig den Reichtum und die Macht der Bewohner. Auf den Dächern montierte Scheinwerfer suchten die Umgebung ab und erfassten hin und wieder winzige Seilbahngondeln auf ihrer Fahrt zwischen den Stadtteilen. Die Gondeln suchten sich ihren Weg durch ein Netz aus feinsten Ästen, das die Gebäude wie mit synaptischen Fäden umspann. Die Einheimischen hatten auch für diese Stadt über der Stadt einen Namen: sie hieß der Baldachin.

Khouri hatte festgestellt, dass es in Chasm City niemals richtig Tag wurde. Die Stadt war in einer ewigen Dämmerung gefangen, in der man sich nie richtig wach fühlte.

»Kiste, wann kratzen sie denn nun endlich den Dreck vom Moskitonetz ab?«

Ng lachte leise, es klang, als würden Kieselsteine in einem Eimer umgerührt. »Wahrscheinlich nie. Es sei denn, jemand hätte eine Idee, wie man den Dreck zu Geld machen könnte.«

»Und wer zieht jetzt über die Stadt her?«

»Wir können uns das leisten. Wenn wir unseren Auftrag hier erledigt haben, kehren wir schleunigst auf die Karusselle mit ihren vielen schönen Menschen zurück.«

»Die sich in Kästen verkriechen. Tut mir Leid, Kiste, aber diese Party schenke ich mir. Die Aufregung könnte mich töten.« Die Gondel fuhr jetzt dicht am abfallenden Innenrand der ringförmigen Kuppel entlang, so dass sie in den Abgrund sehen konnte, ein tiefes Loch im Muttergestein. Die verwitterten Seitenwände wölbten sich zunächst nur kaum merklich abwärts, um dann senkrecht in die Tiefe zu stürzen. Viele Rohre führten in die brodelnde Gasküche hinab. Dort befand sich die Atmosphäretransformationsanlage, die die Stadt mit Wärme und Luft versorgte. »Wenn wir schon beim Thema sind… beim Thema Töten, meine ich — was sollte das mit der Waffe?«

»Glaubst du, du kommst damit zurecht?«

»Du zahlst und ich komme zurecht. Aber ich wüsste gerne, womit ich es zu tun habe.«

»Wenn du Bedenken hast, solltest du mit Taraschi reden.«

»Er hat das Ding verlangt?«

»Bis in die kleinsten Einzelheiten.«

Die Gondel befand sich jetzt über dem Denkmal für die Achtzig. Khouri hatte es noch nie aus diesem Blickwinkel gesehen. Von der Straße aus strahlte es würdevolle Erhabenheit aus, aber von oben wirkte es stark verwittert, ein eher trauriger Anblick. Von der Form her war es eine vierseitige Pyramide, die man mit schmalen Simsen zum Stufentempel aufgerüstet hatte. Der untere Teil verschwand hinter einem Ekzem aus Baracken und Armierungen. Unterhalb der Spitze waren Buntglasscheiben in die Marmorverkleidung eingelassen, aber das Glas war zum Teil zerbrochen und durch Blech ersetzt. Von der Straße aus waren die Schäden nicht zu sehen. Hier also sollte der Abschuss stattfinden. Es war ungewöhnlich, den Schauplatz im Voraus zu kennen, aber vielleicht hatte dieser Taraschi auch das in seinem Kontrakt ausdrücklich vermerkt. Im Allgemeinen unterschrieb man einen Kontrakt mit den Schatten nur dann, wenn man sich gute Chancen ausrechnete, ihrem Attentäter über die vertraglich festgelegte Zeitspanne hinaus entkommen zu können. Auf diese Weise bekämpften die praktisch unsterblichen Reichen die Langeweile, zwangen sich selbst, die eingefahrenen Geleise zu verlassen — und hatten etwas, womit sie prahlen konnten, wenn sie, was meistens der Fall war, den Kontrakt überlebten.

Khouri konnte ihre Verbindung zu den Schatten sehr genau datieren. Sie war an dem Tag in die Organisation eingetreten, als sie im Orbit um Yellowstone in einem vom Eisbettelorden betriebenen Karussell reanimiert wurde. Obwohl es um Sky’s Edge keine Vertreter dieses Ordens gegeben hatte, hatte sie schon von ihm und seiner Funktion gehört. Es handelte sich um eine religiös geprägte Gemeinschaft von Freiwilligen, die es übernommen hatten, all jene zu betreuen, die bei der Durchquerung des interstellaren Raumes ein irgendwie geartetes Trauma erlitten hatten. Die Reanimations-Amnesie, eine häufige Nebenwirkung des Kälteschlafs, war ein solches Trauma.

Darunter zu leiden wäre an sich schon schlimm genug gewesen. Manchmal war der Gedächtnisverlust so schwer, dass Jahre des früheren Lebens wie ausgelöscht waren. Khouri wusste nicht einmal mehr, dass sie einen Interstellarflug angetreten hatte. Doch ihre letzten Erinnerungen waren sogar recht detailliert. Sie hatte auf Sky’s Edge in einem Sanitätszelt neben Fazil, ihrem Mann, in einem Bett gelegen. Beide waren bei einem Feuerwehreinsatz verletzt worden; ihr Zustand war nicht lebensbedrohend, aber ihre Brandwunden ließen sich am besten in einem der Orbithospitäler behandeln. Ein Pfleger war gekommen und hatte ihnen erklärt, sie seien für einen kurzen Kälteschlaf eingeteilt. Man wolle sie herunterkühlen, mit einem Shuttle in den Orbit bringen und dort in einem Kälteschlaftank so lange Zwischenlagern, bis auf dem Operationsplan des Hospitals ein Platz frei würde. Das könne Monate dauern, aber der Pfleger versicherte ihnen lächelnd, aller Voraussicht nach sei der Krieg noch nicht zu Ende, wenn sie wieder einsatzfähig wären. Khouri und Fazil hatten ihm vertraut. Schließlich waren sie beide Berufssoldaten.

Als Khouri nach der Reanimation erwachte, lag sie nicht auf der Genesungsstation des Orbithospitals. Stattdessen sah sie sich mit Angehörigen des Eisbettelordens konfrontiert, die mit Yellowstone-Akzent auf sie einredeten. Nein, erklärten sie. Sie leide nicht unter Gedächtnisschwund. Und sie habe auch keine anderen Kälteschlafschäden erlitten. Es sei wesentlich schlimmer.

Es war, um mit den Worten des obersten Bruders zu sprechen, zu einer Verwechslung gekommen. Unweit von Sky’s Edge war die Kryo-Anlage von einer Rakete getroffen worden. Khouri und Fazil gehörten zu den wenigen Glücklichen, die mit dem Leben davonkamen, aber bei dem Angriff waren alle Datenspeicher der Anlage zerstört worden. Das Personal hatte sein Möglichstes getan, um die Eingefrorenen zu identifizieren, aber dabei waren Fehler nicht zu vermeiden gewesen. Khouri hatte man für eine Demarchistin gehalten, die als Kriegsbeobachterin nach Sky’s Edge gekommen war und sich auf der Heimreise nach Yellowstone befand, als sie in den Raketenangriff geriet. Man hatte sie im Schnellverfahren zuerst auf den Operationstisch und dann auf ein Raumschiff gebracht, das unmittelbar darauf startete. Leider hatte man bei Fazil nicht den gleichen Fehler gemacht. Während Khouri im Schlaf auf dem Weg nach Epsilon Eridani Lichtjahre zurücklegte, wurde Fazil mit jedem Jahr ihres Fluges ein Jahr älter. Natürlich, sagten die Angehörigen des Bettelordens, sei die Verwechslung rasch entdeckt worden — aber da war es schon viel zu spät. Selbst wenn Khouri sofort nach Sky’s Edge zurückgeflogen wäre (was wiederum unmöglich war, weil alle derzeit um Yellowstone parkenden Schiffe andere Zielhäfen angegeben hatten), wären fast vierzig Jahre vergangen, bis sie Fazil wiedergesehen hätte. Und Fazil hätte den größten Teil dieser Zeit nicht gewusst, dass sie auf dem Heimweg war; nichts konnte ihn hindern, die Scherben seines Lebens aufzusammeln, eine neue Ehe zu schließen und Kinder zu zeugen. Bis sie käme, hätte er womöglich schon Enkel, und sie wäre nur ein Geist aus einem früheren Leben, das er inzwischen fast vergessen hätte. Immer vorausgesetzt natürlich, er wäre nicht sofort nach seiner Rückkehr im Kampf gefallen.

Bis zu dem Augenblick, als ihr der Bruder die Situation erklärte, hatte sich Khouri eigentlich nie klar gemacht, wie langsam sich das Licht bewegte. Zwar gab es im ganzen Universum nichts Schnelleres… aber jetzt begriff sie, dass es verglichen mit der Geschwindigkeit, die sie gebraucht hätte, um ihre Liebe am Leben zu erhalten, so träge war wie ein Gletscher. In diesem grausamen Augenblick der Erkenntnis begriff sie, dass nichts Geringeres als die Naturgesetze, die Grundlagen des Universums, sich verschworen hatten, um ihr diesen entsetzlichen Verlust zu bereiten. Eine endgültige Todesnachricht wäre so unendlich viel einfacher zu bewältigen gewesen als diese schreckliche Trennung, diese unüberbrückbare Kluft in Raum und Zeit. Der Zorn wühlte in ihr wie ein Messer, er musste heraus, sollte er sie nicht von innen zerfleischen.

Als noch am gleichen Tag der Mann kam und ihr eine Stellung als Vertragskiller anbot, fiel es ihr überraschend leicht, die Stellung anzunehmen.

Der Mann hieß Tanner Mirabel und war ebenfalls Soldat auf Sky’s Edge gewesen. Nun suchte er als Kopfjäger nach talentierten Attentätern. Sein Agentennetz hatte ihm ihre soldatischen Verdienste gemeldet, sobald sie aus der Kryo-Kammer kam. Mirabel vermittelte sie an einen Kontaktmann, einen prominenten Hermetiker namens Ng. Bald schon wurde sie zum Vorstellungsgespräch bei Mr. Ng eingeladen, dann folgte eine Reihe von psychometrischen Tests. Attentäter mussten offenbar die vernünftigsten und nüchternsten Menschen auf dem ganzen Planeten sein. Sie mussten genau unterscheiden können, wann ein Abschuss rechtens war — und wann sie die manchmal recht unscharfe Grenze zum Mord überschritten und damit die Aktien eines Unternehmens in die tiefsten Tiefen des Mulch stürzten.

Sie bestand alle Tests mit Leichtigkeit.

Es gab auch Prüfungen anderer Art. Manchmal verlangten Vertragspartner ganz ausgefallene Hinrichtungsmethoden, obwohl sie insgeheim überzeugt waren, es würde nie so weit kommen, und sich für klug und geschickt genug hielten, einen Attentäter selbst über Wochen und Monate an der Nase herumzuführen. Khouri musste sich mit den unterschiedlichsten Waffen vertraut machen und legte dabei eine Begabung an den Tag, die sie niemals in sich vermutet hätte.

Aber eine Waffe, wie die Zahnfee sie hinterlegt hatte, war ihr noch nie untergekommen.

Schon nach einer Minute hatte sie herausgefunden, wie die Teile zusammengesetzt werden mussten. Im Ganzen sah die Waffe aus wie ein Scharfschützengewehr mit einem lächerlich dicken, perforierten Lauf. Im Patronengurt steckten eine Reihe von pfeilförmigen Projektilen, die aussahen wie schwarze Schwertfische und durch ein winziges Symbol dicht unter der Spitze als Biowaffen gekennzeichnet waren. Der holografische Totenschädel hatte ihr Misstrauen geweckt. Sie hatte noch nie Giftstoffe gegen ein Opfer eingesetzt.

Und was hatte der Treffpunkt am Denkmal zu bedeuten?

»Kiste«, sagte Khouri, »da ist noch etwas…«

Doch in diesem Moment setzte die Gondel auf der Straße auf und die Rikscha-Fahrer spritzten hektisch strampelnd auseinander. Der Fahrpreis erstrahlte auf ihrer Netzhaut. Sie zog den kleinen Finger durch den Kreditschlitz und belastete ein sicheres Baldachin-Konto, das nicht nach Omega Point zurückverfolgt werden konnte. Das war von größter Wichtigkeit, sonst hätte jede Zielperson mit guten Beziehungen die Bewegungen ihres Attentäters an Hand der Wellen verfolgen können, die dieser im maroden Finanzsystem des Planeten schlug. Ohne Tarnung und falsche Fährten konnte man in diesem Beruf nicht arbeiten.

Khouri stieß die Knickflügeltür auf und sprang hinaus. Es regnete leicht, wie immer hier unten. Innenregen nannte man das. Sofort stieg ihr der Geruch des Mulch in die Nase, eine Mischung aus Kloake und Schweiß, Küchendüften, Ozon und Rauch. Ebenso allgegenwärtig war der Lärm. Das Rollen der Rikschas, das Läuten und Tuten, mit dem sie sich bemerkbar machten, bildeten zusammen mit dem Geschrei von Verkäufern und von eingesperrten Tieren, den Darbietungen von Straßensängern und den Stimmen von Hologrammen, die sich in so unterschiedlichen Sprachen wie Neu-Norte und Canasisch artikulierten, eine feste akustische Kulisse.

Sie setzte sich einen breitkrempigen Hut auf den Kopf, knöpfte ihren knielangen Mantel zu und stellte den Kragen auf. Die Gondel hob sich vom Boden, griff nach einem durchhängenden Kabel und war bald zwischen den anderen Flecken verschwunden, die sich durch die bräunlichen Weiten des überdachten Himmels schwangen.

»Kiste«, sagte sie. »Jetzt kommt dein großer Moment.« Sie hörte seine Stimme im Kopf. »Vertrau mir. Diesmal habe ich ein sehr gutes Gefühl.«


Der Rat des Captains war ausgezeichnet, dachte Ilia Volyova. Nagorny zu töten war immer die einzig gangbare Möglichkeit gewesen. Und Nagorny hatte ihr die Entscheidung sehr erleichtert, indem er seinerseits als Erster einen Anschlag auf sie verübte und ihr damit alle moralischen Bedenken abnahm.

Das war schon vor etlichen Monaten Schiffszeit geschehen. Sie hatte die unangenehme Pflicht nur immer wieder aufgeschoben. Doch jetzt würde das Schiff in Kürze in die Umlaufbahn um Yellowstone einschwenken und die anderen würden aus dem Kälteschlaf erwachen. Das würde sie in ihren Möglichkeiten sehr beschränken. Sie musste ja den Anschein wahren, als sei Nagorny im Kälteschlaf an einer dafür geeigneten Störung seines Kryo-Tanks gestorben.

Also musste sie rasch handeln. Sie saß ruhig in ihrem Labor und sammelte Kräfte, um zu tun, was nötig war. Volyovas Kabine war für die Verhältnisse der Sehnsucht nach Unendlichkeit eher bescheiden; dabei hätte sie sich auch eine feudale Suite zuweisen können. Aber wozu? In ihren wachen Stunden war sie fast ausschließlich mit Waffensystemen beschäftigt. Und wenn sie schlief, träumte sie von Waffensystemen. Sie genehmigte sich — genießen wäre ein zu starker Ausdruck gewesen — einige wenige Freuden, für die sie Zeit fand, und dafür war Platz genug. Sie hatte ein Bett und ein paar nach rein praktischen Gesichtspunkten gestaltete Möbelstücke, obwohl das Schiff ihre Kabine in jedem nur denkbaren Stil hätte ausstatten können. In einem Nebenraum hatte sie sich ein kleines Labor eingerichtet und hier hatte sie der Einrichtung größere Aufmerksamkeit gewidmet. In diesem Labor experimentierte sie mit Therapien für den Captain, mit verschiedenen Arten der Seuchenbekämpfung, die aber noch zu abstrakt waren, um der übrigen Mannschaft davon zu berichten. Sie wollte keine falschen Hoffnungen wecken.

Und seit sie Nagorny getötet hatte, bewahrte sie hier auch seinen Kopf auf.

Er war natürlich eingefroren. Er steckte in einem alten Raumhelm-Modell, das sofort auf Kryo-Konservierung umgeschaltet hatte, als es entdeckte, dass sein Insasse nicht mehr am Leben war. Volyova hatte auch von Helmen gehört, in deren Halsteil rasiermesserscharfe Iriden eingebaut waren, die den Kopf im Fall einer Katastrophe rasch und sauber vom Rumpf trennten — das war hier nicht der Fall gewesen.

Immerhin hatte der Mann einen interessanten Tod gehabt.

Volyova hatte den Captain geweckt, um ihm die Situation zu schildern. Der Waffenoffizier hatte — offenbar durch ihre Experimente — den Verstand verloren. Sie beschrieb die Probleme, auf die sie gestoßen war, als sie Nagorny über die Implantate, die sie selbst ihm eingesetzt hatte, an den Leitstand anschließen wollte. Sie erwähnte flüchtig, dass Nagorny von ständig wiederkehrenden Albträumen geplagt wurde, doch dann kam sie schnell zum Hauptpunkt: der Rekrut hatte sie angegriffen und war anschließend in den Tiefen des Schiffes verschwunden. Der Captain war auf die Albträume nicht weiter eingegangen und darüber war Volyova zunächst sehr froh gewesen. Sie sprach nicht gern über diese Träume und schon gar nicht wollte sie sich mit ihrem Inhalt auseinandersetzen.

Hinterher hatte sich das Thema jedoch nicht mehr so leicht beiseite schieben lassen. Das lag daran, dass es sich nicht einfach um irgendwelche Albträume handelte, was an sich schon beunruhigend gewesen wäre. Nein, nach allem, was sie in Erfahrung bringen konnte, war Nagorny von immergleichen, ungemein realistischen Traumbildern gequält worden, in denen zumeist ein Wesen namens Sonnendieb die Hauptrolle spielte. Dieser Sonnendieb war Nagornys persönlicher Peiniger. In welcher Gestalt er dem Kranken erschien, ließ sich nicht genau beschreiben, doch er verbreitete ohne jeden Zweifel eine überwältigende Atmosphäre des Bösen. Volyova hatte etwas davon in den Skizzen gespürt, die sie in Nagornys Unterkunft gefunden hatte: grässliche Vogelgestalten, mit hektischen Bleistiftstrichen aufs Papier geworfen, Gerippe mit leeren Augenhöhlen. Wenn das ein Blick in Nagornys krankes Hirn war, dann hatte sie mehr als genug gesehen. Aber in welcher Beziehung standen diese Wahngebilde zu den Trainingsperioden im Feuerleitstand? Durch welchen unbekannten Defekt in ihrem neuralen Interface wurden Ströme in jenen Teil des Bewusstseins geleitet, der Schreckensbilder erzeugte? Im Rückblick war ihr klar, dass sie den Mann zu hart angepackt, zu sehr zur Eile gedrängt hatte. Aber sie hatte ihrerseits nur Sajakis Anweisung befolgt, für die Einsatzbereitschaft des Waffenarsenals zu sorgen.

Nagorny war also übergeschnappt und hatte sich in Teile des Schiffs geflüchtet, die nicht überwacht wurden. Die Empfehlung des Captains, den Mann zu verfolgen und zu töten, hatte nur bestätigt, was auch ihre eigenen Instinkte ihr rieten. Aber die Suche hatte etliche Tage gedauert. Volyova musste in möglichst vielen Korridoren Sensorennetze auslegen und jedem Hinweis ihrer Ratten auf Nagornys Verbleib nachgehen. Sie hatte die Hoffnung schon fast aufgegeben. Nagorny würde immer noch auf freiem Fuß sein, wenn das Schiff im Yellowstone-System eintraf und die übrige Besatzung geweckt wurde…

Doch dann hatte Nagorny in seinem Wahn zwei Fehler begangen, die allem die Krone aufsetzten. Zuerst war er in ihre Kabine eingebrochen und hatte mit seinem eigenen Blut eine Botschaft an die Wand geschrieben. Es war eine sehr einfache Botschaft. Volyova hätte sich denken können, welches Wort ihr Nagorny hinterlassen würde.


SONNENDIEB.


Anschließend hatte er, eine fast schon vernünftige Handlungsweise, ihren Raumhelm gestohlen, den Rest des Anzugs aber zurückgelassen. Der Einbruch hatte Volyova in ihre Kabine gelockt, und dort war sie von Nagorny überrumpelt worden, obwohl sie sich vorgesehen hatte. Er hatte ihr die Waffe abgenommen, die Arme auf den Rücken gedreht und sie zum nächsten Fahrstuhlschacht geschoben. Volyova hatte sich gewehrt, aber Nagorny hatte die Kräfte eines Wahnsinnigen und hielt sie wie in einem Schraubstock. Dennoch rechnete sie damit, dass sich eine Fluchtmöglichkeit ergeben würde, wenn erst der Fahrstuhl eintraf und Nagorny sie an den Ort seiner Wahl brachte.

Aber Nagorny dachte nicht daran, auf den Fahrstuhl zu warten. Er brach mit ihrer Waffe die Tür auf. Vor ihren Füßen gähnten die leeren Tiefen des Schachts. Unsanft und ohne ein Wort des Abschieds stieß der Irre Volyova in das Loch.

Das war ein schwerer Fehler.

Der Schacht durchlief das Schiff vom Bug bis zum Heck; sie hatte kilometerweit zu fallen, bevor sie unten aufschlug. Im ersten Schreck hatte sie zunächst auch angenommen, dass es dazu kommen würde. Sie würde stürzen, bis sie unten ankam — und ob das nur wenige Sekunden oder fast eine Minute dauerte, war vollkommen bedeutungslos. Die Schachtwände waren spiegelglatt, sie boten nirgends Halt, und es gab nichts, was den Sturz hätte bremsen können.

Doch dann hatte sich ihr Verstand eingeschaltet und das Problem noch einmal analysiert — mit einer Gelassenheit, die sie später schockierend fand. Sie hatte sich selbst von außen gesehen, aber sie stürzte nicht durch das Schiff, sondern verharrte im Nichts, schwebte völlig reglos vor den Sternen. In Bewegung war vielmehr das Schiff: es raste an ihr vorbei nach oben. Sie selbst stand nicht unter Beschleunigung — und das Schiff wurde nur durch die Triebwerke beschleunigt.

Und die konnte sie über ihr Armband steuern.

Volyova blieb keine Zeit, über Einzelheiten nachzudenken. Sie hatte eine Idee — zündend wie eine Explosion — und wenn sie die nicht sofort ausführte, musste sie sich wohl oder übel in ihr Schicksal ergeben. Sie konnte ihren Sturz — ihren scheinbaren Sturz — bremsen, indem sie den Schub des Schiffs so lange umkehrte, wie es erforderlich war, um die gewünschte Wirkung zu erzielen. Derzeit betrug der Nominalschub 1 Ge, deshalb hatte Nagorny das Schiff auch ohne weiteres mit einem hohen Gebäude verwechselt. Sie war vielleicht zehn Sekunden gefallen, bis ihr Verstand die Lage so weit erfasst hatte. Was also brauchte sie? Zehn Sekunden Retroschub mit 1 Ge? Nein, das war zu konservativ gedacht. Womöglich war der Schacht unter ihr nicht lang genug. Da war es schon besser, für eine Sekunde auf zehn Ge zu gehen — die Triebwerke konnten das schaffen. Die übrige Besatzung lag sicher in ihren Kälteschlaftanks und würde keinen Schaden nehmen. Auch ihr selbst würde nichts passieren — sie konnte nur beobachten, wie die vorbeirasenden Schachtwände schlagartig langsamer wurden.

Nagorny war allerdings nicht so gut geschützt.

Es war nicht einfach gewesen — ihre Stimme ging fast unter im Rauschen der Luft, als sie die entsprechenden Anweisungen in das Armband schrie. Erst nach quälenden Augenblicken der Unsicherheit hatte das Schiff endlich Notiz von ihr genommen.

Doch dann hatte es — wie es sich gehörte — ihren Befehl befolgt.

Später hatte sie Nagorny gefunden. Eine Sekunde bei zehn Ge wäre unter normalen Umständen nicht tödlich gewesen. Aber Volyova hatte ihre eigene Geschwindigkeit nicht sofort auf Null reduziert. Sie hatte mehrere Versuche dazu gebraucht und Nagorny war mit jeder Schubumkehr zwischen Boden und Decke hin und her geschleudert worden.

Auch sie selbst hatte einiges abbekommen; beim Sturz war sie mehrfach gegen die Schachtwand geprallt und hatte sich ein Bein gebrochen, aber das war jetzt verheilt und sie hatte nur noch eine schwache Erinnerung an den Schmerz.

Sie hatte sogar daran gedacht, Nagornys Kopf mit der Laserkürette abzutrennen. Sie musste ihm den Schädel öffnen, um die hochspezialisierten Implantate aus seinem Gehirn entfernen zu können. Die Implantate waren sehr empfindlich. Sie hatte sie mit komplizierten molekularen Interventionsverfahren selbst gezüchtet und wollte möglichst vermeiden, sie kopieren zu müssen.

Jetzt war es an der Zeit, mit der Operation zu beginnen.

Sie nahm den Kopf aus dem Helm und legte ihn in ein Bad aus flüssigem Stickstoff. Dann fuhr sie in zwei motorisierte Handschuhe, die in einer Halterung über der Werkbank schwebten. Blanke chirurgische Instrumente in Miniaturausführung erwachten mit leisem Schwirren zum Leben und senkten sich herab, um Teile aus der Schädeldecke zu schneiden, die sich hinterher mit absoluter Präzision wieder einpassen ließen. Doch bevor Volyova den Kopf wieder zusammensetzte, wollte sie Ersatzimplantate einpflanzen, damit sich — sollte er jemals untersucht werden — nicht sofort feststellen ließe, dass sie etwas herausgenommen hatte. Sie musste ihn auch wieder am Körper befestigen — aber das war wohl kein allzu großes Problem. Wenn die anderen erfuhren, was mit Nagorny geschehen war — wenn sie ihnen ihre Version der Geschichte glaubhaft machen konnte — würden sie wohl nicht auf einer allzu gründlichen Untersuchung bestehen. Nur Sudjic könnte Schwierigkeiten machen — sie und Nagorny waren ein Liebespaar gewesen, bevor Nagorny den Verstand verlor.

Doch diese Brücke wollte Ilia Volyova erst überschreiten, wenn die Zeit dafür gekommen war — so hatte sie es immer gehalten.

Während sie tief in Nagornys Gehirn eindrang, um sich zurückzuholen, was ihr gehörte, machte sie sich erstmals Gedanken darüber, wer ihn ersetzen sollte.

Sicher niemand aus der derzeitigen Mannschaft.

Aber vielleicht fand sich vor Yellowstone ein geeigneter Kandidat.

»Kiste, wird es allmählich heiß?«

Die Stimme drang schrill und verzerrt von oben durch die Gebäudemassen. »So heiß, dass wir uns gleich die Finger verbrennen, liebes Kind. Halt durch und gib Acht, dass du keine Giftpfeile verschwendest.«

»Kiste, darüber wollte ich noch…«

Khouri sprang zur Seite, als drei Neue Komuso-Mönche mit korbähnlichen Weidenhelmen auf dem Kopf an ihr vorbeimarschierten und ihre Bambusflöten — Shakuhachi genannt — so zackig schwangen wie die Majoretten ihre Taktstöcke. Eine Horde Kapuzineräffchen stob auseinander und verschwand in den Schatten. »Ich meine«, fuhr sie fort, »wenn ich nun einen unbeteiligten Zuschauer treffe?«

»Ausgeschlossen«, sagte Ng. »Das Gift ist genau auf Taraschis Biochemie abgestimmt. Wenn du einen anderen Menschen auf diesem Planeten triffst, hat er hinterher nur eine hässliche Stichwunde.«

»Gilt das auch für Taraschis Klon?«

»Hältst du für möglich, dass er einen hat?«

»Ich frage ja nur.« Kiste war heute ungewöhnlich nervös.

»Selbst wenn Taraschi einen Klon hätte und wir ihn versehentlich töteten, wäre das immer noch Taraschis und nicht unser Problem. Das steht alles im Kleingedruckten. Solltest du mal lesen.«

»Bevor ich vor Langeweile umkomme«, sagte Khouri, »mache ich das vielleicht.«

Dann erstarrte sie, denn mit einem Schlag hatte sich alles verändert. Ng war verstummt, und statt seiner Stimme hörte sie einen klaren, pulsierenden Ton, leise und unheimlich wie das Impulsecho bei der Anpeilung eines großen Raubtiers. Sie hatte diesen Ton in den letzten sechs Monaten ein Dutzend Mal gehört, jedes Mal hatte er sie darauf hingewiesen, dass sie sich in unmittelbarer Nähe ihres Zielobjekts befand. Das bedeutete, dass Taraschi nicht mehr als fünfhundert Meter entfernt war. Sie durfte also getrost davon ausgehen, dass er sie im Innern des Denkmals erwartete.

Bei den letzten Zügen des Spiels war die Öffentlichkeit zugelassen. Das wusste sicher auch Taraschi, denn ein identisches Implantat — eingesetzt in einer geheimen Klinik des Baldachins — erzeugte in seinem Kopf die gleichen Impulse. Überall in Chasm City schickten in diesem Moment die verschiedenen Nachrichtensender, die sich für die Schatten interessierten, ihre Außenteams quer durch die Stadt zum Schauplatz. Ein paar Glückliche waren sicher bereits in der Nähe.

Die Töne beschleunigten sich nur mäßig, als sie auf der Promenade unter dem Denkmal weiterging. Taraschi war wohl genau über ihr — im Innern des Denkmals so dass sich die relative Entfernung zwischen ihnen nur langsam veränderte.

Die Promenade zeigte tiefe Risse. Sie lag gefährlich dicht am Abgrund und der Untergrund hatte sich gesenkt. Ursprünglich hatte sich darunter ein Einkaufszentrum befunden, aber das hatte der Mulch erobert. Die untersten Etagen waren überschwemmt. Aus dem karamellbraunen Wasser ragten stellenweise noch die Gehwege hervor. Das tetraederförmige Denkmal stand hoch über der Promenade und dem überfluteten Einkaufszentrum auf einer kleineren, auf die Spitze gestellten Pyramide, die tief im Felsboden verankert war. Es gab nur einen Eingang. Das bedeutete, Taraschi war schon so gut wie tot, wenn sie ihn im Innern erwischte. Doch um zum Eingang zu kommen, musste sie eine Brücke über das Einkaufszentrum überqueren, und dabei konnte er sie von innen beobachten. Welche Urgefühle mochten ihn in diesem Moment bewegen? Khouri träumte oft davon, wie sie von einem unerbittlichen Verfolger durch eine halb verlassene Stadt gejagt wurde, doch für Taraschi war dieser Albtraum Wirklichkeit. Der Verfolger in ihren Träumen brauchte sich nie zu beeilen, fiel ihr plötzlich ein. Nicht zuletzt deshalb waren sie so unheimlich. Sie rannte aus Leibeskräften, die Luft war zäh wie Gummi, und ihre Beine waren schwer wie Blei, aber der Verfolger bewegte sich mit einer Ruhe, die von unendlicher Geduld und Weisheit zeugte.

Die Töne wurden schneller, als sie die Brücke überquerte. Der Boden war nass und rau. Manchmal verlangsamte sich das Signal und beschleunigte wieder, ein Zeichen dafür, dass Taraschi im Innern des Gebäudes umherging. An Flucht brauchte er jetzt freilich nicht mehr zu denken. Er konnte es vielleicht einrichten, dass sie auf dem Dach des Denkmals zusammentrafen, aber ein Flugzeug durfte er nicht benutzen, wollte er nicht gegen die Bedingungen des Kontrakts verstoßen. Und mit dieser Schande in die Salons des Baldachins zurückzukehren wäre schlimmer als der Tod.

Sie betrat das Atrium im Innern der Stützpyramide. Drinnen war es dunkel, und sie wartete, bis ihre Augen sich darauf eingestellt hatten. Dann zog sie das Giftgewehr aus dem Mantel und warf einen prüfenden Blick zum Ausgang, für den Fall, dass Taraschi auf die Idee käme, sich davonzustehlen. Sie war nicht überrascht, dass er nicht da war. Das Atrium war fast leer, Plünderer hatten hier gehaust. Der Regen trommelte auf Metall. Sie blickte auf. Eine Schar rostiger, verbogener Skulpturen hing an Kupferdrähten von der Decke. Einige waren auf den Zementboden gefallen. Metallene Vogelflügel waren darin stecken geblieben. Sie waren mit weißem Staub überpudert, die Deckfedern wie mit Mörtel verklebt.

Sie schaute nach oben.

»Taraschi?«, rief sie. »Hören Sie mich schon? Ich komme.«

Sie wunderte sich, dass die Leute vom Fernsehen noch nicht eingetroffen waren. So kurz vor einem Abschuss standen sie sonst unweigerlich mit Scharen von anderen Zuschauern dicht gedrängt um sie herum und kläfften wie die Bluthunde.

Er hatte nicht geantwortet. Aber sie wusste, dass er sich irgendwo über dieser Decke befand. Sie durchquerte das Atrium und stieg rasch die Wendeltreppe hinauf, die nach oben führte. Dann sah sie sich nach Gegenständen um, die sich noch bewegen ließen, aber groß genug waren, um Taraschi den Fluchtweg zu versperren. An beschädigten Exponaten und Möbeln herrschte kein Mangel. Sie begann, vor der Treppe einen Trümmerberg aufzuschichten. Er würde Taraschi den Ausgang zwar nicht völlig versperren, aber er wäre ein Hindernis und das genügte.

Als sie die Hälfte geschafft hatte, schwitzte sie und hatte Rückenschmerzen. Sie legte eine kurze Pause ein, um sich zu sammeln und sich umzusehen; das Dauerarpeggio in ihrem Kopf bestätigte ihr, dass Taraschi sich nach wie vor in der Nähe befand.

Der obere Teil der Pyramide war dem Andenken an einzelne Angehörige der Achtzig gewidmet. Zu diesem Zweck hatte man Trennwände aus prächtigem schwarzem Marmor aufgestellt, die nicht ganz bis zur Decke des Schwindel erregend hohen Raumes reichten und mit Nischen versehen waren. Jede Nische wurde von Säulen umrahmt, die mit Figuren in anzüglichen Posen geschmückt waren. Die Wände waren durch offene Rundbögen miteinander verbunden, versperrten aber nach allen Seiten auf etwa zwanzig Meter die Sicht. Durch etliche Löcher in der dreieckigen Decke fiel sepiabraunes Licht in den Raum. Breitere Risse ließen den Regen einströmen. Khouri sah, dass viele Nischen leer waren. Entweder waren die Schreine geplündert worden, oder die Angehörigen der berühmten Opfer hatten die Andenken rechtzeitig in Sicherheit gebracht. Nur etwa die Hälfte war noch besetzt. Zwei Drittel davon glichen sich auffallend — sie enthielten in konventioneller Anordnung Bilder der Verstorbenen, Biografien und verschiedene Erinnerungsstücke. Es gab auch ausgefallenere Exponate wie Hologramme oder Büsten. In einigen der Nischen waren gar die einbalsamierten Leichen der berühmten Persönlichkeiten zur Schau gestellt, ein grausiger Anblick, auch wenn ein geschickter Präparator sicher die schlimmsten Verwüstungen durch den Tod beseitigt hatte.

Sie ließ die gepflegten Schreine in Ruhe und plünderte nur die offensichtlich verwahrlosten. Dennoch war ihr nicht wohl bei der Sache. Die Büsten waren besonders gut zu gebrauchen — sie konnte sie gerade noch heben, wenn sie beide Hände unter den Fuß schob. Sie machte sich nicht die Mühe, sie an der Treppe ordentlich aufzustapeln, sondern ließ sie einfach fallen. Den meisten hatte man ohnehin schon die Edelsteinaugen herausgebrochen. Die lebensgroßen Statuen waren schwerer zu bewegen, sie konnte nur eine davon wegschieben.

Bald war die Barrikade fertig. Im Wesentlichen war es ein Schutthaufen aus abgeschlagenen Steinhäuptern mit würdevollen Gesichtern, die unberührt waren von der erlittenen Schmach. Der Berg war umgeben von Fußangeln aus kleineren Grabbeigaben: Vasen, Bibeln und treuen Servomaten. Selbst wenn Taraschi versuchen sollte, den Haufen abzutragen, um die Treppe zu erreichen, würde sie ihn mit Sicherheit hören und wäre lange bevor er fertig war zur Stelle. Vielleicht sollte sie ihn sogar auf diesem Schädelhaufen töten, er erinnerte ein wenig an Golgatha.

Sie wartete schon die ganze Zeit darauf, dass irgendwo hinter den schwarzen Trennwänden schwere Schritte zu hören waren.

»Taraschi«, rief sie. »Machen Sie es sich doch nicht so schwer. Es gibt kein Entrinnen mehr.«

Seine Stimme klang unerwartet kräftig und selbstbewusst. »Sie irren sich, Ana. Wir sind schließlich hier, um zu entrinnen.«

Verdammt. Woher kannte er ihren Namen?

»Ihr Ausweg ist der Tod, nicht wahr?«

»So ungefähr.« Das klang belustigt.

Es war nicht das erste Mal, dass ein Opfer noch in letzter Minute auftrumpfte, und sie fand diese Haltung bewundernswert. »Ich soll Sie also suchen. Möchten Sie das?«

»Warum nicht? Nachdem wir schon so weit gekommen sind?«

»Ich verstehe. Sie wollen etwas haben für Ihr Geld. Ein Kontrakt mit so vielen Klauseln kann nicht billig gewesen sein.«

»Klauseln?« Der Ton in ihrem Kopf veränderte sich und wurde leicht ekstatisch.

»Die Waffe. Die Tatsache, dass wir allein sind.«

»Ach so«, sagte Taraschi. »Ja, das hatte seinen Preis. Aber ich finde, das Ende sollte sich in persönlicher Atmosphäre abspielen.«

Khouri wurde unruhig. Sie hatte sich noch nie mit einem Zielobjekt unterhalten. Normalerweise hätte die blutrünstige, tobende Menschenmenge, die von einem solchen Ereignis angezogen wurde, jedes Gespräch unmöglich gemacht. Sie brachte das Giftgewehr in Anschlag und ging langsam den Gang zwischen den Wänden entlang. »Warum ohne Zeugen?«, fragte sie. Sie konnte den Kontakt nicht abbrechen.

»Eine Frage der Würde. Ich habe das Spiel gespielt, aber das ist kein Grund, in Schande zu sterben.«

»Sie sind sehr nahe«, sagte Khouri.

»Das ist richtig.«

»Und Sie haben keine Angst?«

»Natürlich habe ich Angst. Aber vor dem Leben, nicht vor dem Sterben. Ich habe Monate gebraucht, um so weit zu kommen.« Die Schritte verstummten. »Wie gefällt Ihnen dieser Ort, Ana?«

»Er könnte etwas mehr Pflege vertragen.«

»Aber ich habe eine gute Wahl getroffen, das müssen Sie zugeben.«

Sie bog um die Ecke. Ihr Zielobjekt stand neben einem der Schreine. Er wirkte unnatürlich ruhig, ruhiger beinahe als die Statue, die die Szene beobachtete. Sein prächtiger, burgunderroter Anzug — neueste Baldachin-Mode — hatte dunkle Flecken vom Innenregen, und das Haar hing ihm in unvorteilhaft nassen Strähnen in die Stirn. Er sah jünger aus als ihre früheren Opfer, entweder weil er wirklich jünger war, oder weil er genügend Geld hatte, um sich die besten Langlebigkeitstherapien leisten zu können. Sie ahnte jedoch, dass die erste Erklärung die richtige war. »Wissen Sie noch, wozu wir hier sind?«, fragte er.

»Das schon, aber ich weiß nicht, ob es mir gefällt.«

»Tun Sie es trotzdem.«

Wie von Zauberhand bewegt, erfasste ihn einer der Lichtstreifen, die von der Decke fielen. Es war nur ein Moment, aber es genügte. Sie hob das Gewehr.

Und schoss.

»Gut gemacht«, sagte Taraschi. Sie hörte keinen Schmerz in seiner Stimme. Er streckte eine Hand aus und stützte sich an der Wand ab. Mit der anderen fasste er den Schwertfisch in seiner Brust und zog ihn heraus, als zupfe er sich eine Klette aus den Kleidern. Das Projektil fiel zu Boden, an seiner Spitze hing ein glitzernder Serumtropfen. Khouri wollte das Giftgewehr noch einmal heben, aber Taraschi wehrte mit blutiger Hand ab. »Nicht übertreiben«, sagte er. »Ein Schuss sollte genügen.«

Khouri war übel.

»Müssten Sie jetzt nicht tot sein?«

»Das dauert noch ein wenig. Einige Monate, um genau zu sein. Das Gift wirkt nur sehr langsam. Es lässt mir Zeit, darüber nachzudenken.«

»Worüber nachzudenken?«

Taraschi fuhr sich durch das nasse Haar und wischte sich die staubigen, blutverschmierten Hände an den Hosen ab.

»Ob ich ihr folgen will.«

Der Ton in Khouris Kopf riss so plötzlich ab, dass ihr schwindlig wurde und sie halb ohnmächtig zu Boden sank. Der Kontrakt war erfüllt. Sie hatte gewonnen — wieder einmal. Aber Taraschi war noch am Leben.

»Das war meine Mutter.« Taraschi wies auf den nächsten Schrein, einen der wenigen, die sorgsam gepflegt waren. Die Frauenbüste aus Alabaster war völlig staubfrei, so als habe Taraschi sie kurz vor dem Treffen noch eigenhändig gesäubert. Die Haut war unversehrt, die Juwelenaugen waren noch vorhanden, kein Fleck, keine Schramme entstellte die aristokratischen Züge. »Nadine Wengda Silva Taraschi.«

»Was ist mit ihr geschehen?«

»Sie hat das Scannen nicht überlebt, das liegt doch auf der Hand. Die Zerstörung durch das Mapping war so rasant, dass die eine Hälfte ihres Gehirns in Stücke gerissen wurde, während die andere noch normal weiterarbeitete.«

»Das tut mir Leid — obwohl ich weiß, dass sie sich freiwillig gemeldet hat.«

»Keine Ursache. Sie hatte sogar noch Glück. Kennen Sie die Geschichte, Ana?«

»Ich bin nicht von hier.«

»Nein; das habe ich gehört — Sie waren früher Soldat, und dann ist Ihnen etwas Schreckliches zugestoßen. Nun, ich will nur so viel sagen. Das Scannen war in jedem Fall erfolgreich. Das Problem lag bei der Software, die die gescannten Informationen übertragen sollte; damit sich das Zeit- und Erlebnisbewusstsein der Alphas, ihre Emotionen, ihr Erinnerungsvermögen — eben alles, was uns zu Menschen macht — weiterentwickeln konnte. Alles lief so weit gut, bis die letzten von den Achtzig gescannt worden waren — ein Jahr nach Beginn des Experiments. Dann tauchten bei den ersten Freiwilligen seltsame Krankheitsbilder auf. Sie hatten verheerende Zusammenbrüche oder verfingen sich in Endlosschleifen.«

»Sie sagten, sie hätte Glück gehabt?«

»Einige von den Achtzig laufen noch immer«, sagte Taraschi. »Sie haben sich einhundertfünfzig Jahre lang erhalten. Nicht einmal die Seuche konnte ihnen etwas anhaben — sie waren bereits in sichere Computer im so genannten Rostgürtel emigriert.« Er hielt inne. »Aber sie haben schon seit längerem keinerlei direkten Kontakt zur realen Welt mehr — sie entwickeln sich in zunehmend vollkommeneren simulierten Umgebungen isoliert weiter.«

»Und Ihre Mutter?«

»Hat mir vorgeschlagen, zu ihr zu kommen. Die Scanner sind wesentlich besser geworden; sie bringen einen nicht mehr zwangsläufig um.«

»Wo liegt dann das Problem?«

»Ich wäre nicht mehr ich, oder? Ich wäre nur eine Kopie — und das wüsste auch meine Mutter. Jetzt dagegen…« Wieder betastete er die kleine Wunde. »Jetzt werde ich in der realen Welt unwiderruflich sterben, und die Kopie ist alles, was von mir bleibt. Ich habe Zeit genug, mich scannen zu lassen, bevor das Gift messbare Ausfälle in meinen Neuralstrukturen verursacht.«

»Warum haben Sie es sich nicht einfach spritzen lassen?«

Taraschi lächelte. »Das wäre zu steril gewesen. Immerhin will ich Selbstmord begehen — und das sollte man nicht auf die leichte Schulter nehmen. Indem ich Sie engagierte, konnte ich die Entscheidungsphase verlängern und den Zufall mit ins Spiel bringen. Wenn ich meine Meinung ändern und das Leben wählen wollte, brauchte ich mich nur zur Wehr zu setzen, wobei trotzdem noch die Möglichkeit bestand, dass Sie siegten.«

»Russisches Roulette wäre billiger gewesen.«

»Zu schnell, zu unkontrollierbar und bei weitem nicht so stilvoll.« Er trat auf sie zu, griff — bevor sie zurückweichen konnte — nach ihrer Hand und schüttelte sie. Wie nach einem erfolgreichen Geschäftsabschluss. »Ich danke Ihnen, Ana.«

»Sie danken mir?«

Ohne zu antworten, ging er an ihr vorbei. Es war plötzlich laut geworden. Schritte kamen die Treppe herauf. Die Barrikade gab nach, der Schädelberg stürzte ein, eine Kobaltvase zerbrach. Khouri hörte das leise Surren von Kameradrohnen, doch dann tauchten andere Personen auf, als sie erwartet hatte. Sie waren anständig, aber nicht auffallend gekleidet und gehörten ganz offensichtlich zur alten Aristokratie. Drei älteren Männern in Ponchos, mit breitkrempigen Hüten und Schildpattbrillen zur Steuerung der Kameradrohnen, die über ihnen schwebten wie ergebene Dienstboten, folgten zwei Bronze-Palankine, davon einer so klein wie für ein Kind. Ein Mann in lilafarbenem Torerojäckchen hielt eine kleine Kamera in der Hand. Zwei weibliche Teenager trugen Schirme, die mit Kranichen und chinesischen Piktogrammen bemalt waren. Zwischen den Mädchen stand eine ältere Frau, deren völlig farbloses Gesicht an eine lebensgroße Origami-Figur erinnerte: vielfach gefaltet, weiß und leicht verletzlich. Sie fiel weinend vor Taraschi auf die Knie. Khouri hatte sie noch nie gesehen, aber sie wusste sofort, dass das Taraschis Ehefrau sein musste. Der kleine giftgefüllte Schwertfisch hatte ihr den Gatten geraubt.

Endlich richtete sie ihre klaren, rauchgrauen Augen auf Khouri und sagte ohne den leisesten Groll in der Stimme: »Hoffentlich hat man Sie gut bezahlt.«

»Ich habe nur meine Arbeit getan«, sagte Khouri, aber die Worte blieben ihr fast in der Kehle stecken. Die Leute führten Taraschi die Treppe hinunter und entfernten sich mit ihm. Sie sah ihnen nach. Die Frau drehte sich noch einmal um und sah sie ein letztes Mal vorwurfsvoll an. Khouri hörte die Schritte auf dem Zementboden. Minuten vergingen, dann war sie allein.

Bis sich hinter ihr etwas bewegte. Khouri fuhr herum und brachte automatisch das Giftgewehr in Anschlag. In der Kammer steckte ein neuer Pfeil.

Zwischen zwei Schreinen erschien ein Palankin.

»Kiste?« Sie senkte die Waffe — viel konnte sie damit ohnehin nicht ausrichten, nachdem das Gift so genau auf Taraschis Biochemie abgestimmt war.

Aber das war nicht Kistes Sänfte. Dieser Palankin war einfarbig schwarz, ohne Verzierungen und ohne Aufschrift. Und jetzt öffnete er sich — das hatte sie noch nie erlebt — und entließ einen Mann, der furchtlos auf sie zuging. Er trug ein lilafarbenes Torerojäckchen, keinen Schutzanzug, wie man erwartet hätte, wenn jemand Angst vor der Seuche hatte. In einer Hand hielt er ein modisches Accessoire: eine winzige Kamera.

»Kiste ist abgemeldet«, sagte der Mann. »Sie haben von jetzt an nichts mehr mit ihm zu tun, Khouri.«

»Wer sind Sie — einer von Taraschis Verwandten?«

»Nein — ich kam nur mit, um zu sehen, ob sie wirklich so gut sind, wie alle Welt behauptet.« Der Mann hatte einen weichen Akzent, den sie nicht zuordnen konnte — er gehörte nicht ins System, aber auch nicht nach Sky’s Edge. »Und ich muss leider sagen, Sie werden Ihrem Ruf gerecht. Das heißt, dass wir — von jetzt an — beide für denselben Auftraggeber arbeiten.«

Sie überlegte, ob sie ihm einen Pfeil ins Auge schießen sollte. Er würde ihn zwar nicht töten, könnte aber seinen Übermut ein wenig dämpfen. »Und wer sollte das sein?«

»Die Mademoiselle«, sagte der Mann.

»Nie von ihr gehört.«

Er hob die kleine Kamera. Die Linse öffnete sich wie ein besonders raffiniertes Fabergé-Ei, Hunderte von wertvollen Jadesplittern änderten ihre Position. Khouri schaute plötzlich in die Mündung einer Waffe.

»Nein, aber sie hat von Ihnen gehört.«

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