Elf

Im Anflug auf Delta Pavonis

2564


Sie rannten von der Lichtung durch einen gewundenen Korridor zum nächsten radial verlaufenden Fahrstuhlschacht.

»Was heißt das?«, schrie Khouri über das Sirenengeheul hinweg. »Was meinen Sie mit ›sie macht sich scharf‹?«

Volyova hob sich die Antwort auf, bis sie die wartende Kabine erreichten und sie ihr befohlen hatte, sie schnellstens und ohne Rücksicht auf die üblichen Geschwindigkeitsbeschränkungen zum nächsten achsenparallelen Fahrstuhlschacht zu bringen. Die Kabine fuhr so ruckartig an, dass die beiden Insassen heftig mit dem Rücken gegen die Glaswand geschleudert wurden und nach Luft rangen. Die Innenbeleuchtung pulsierte rot; Volyova spürte, wie sich auch ihr Herzschlag beschleunigte. Aber sie zwang sich zum Sprechen.

»Genau was ich sagte. Jedes Geschütz wird von Überwachungssystemen kontrolliert — und eines dieser Systeme hat soeben einen Energieanstieg in seiner Waffe entdeckt.«

Volyova verschwieg, dass sie die Systeme erst installiert hatte, als sie den Eindruck hatte, eines der Geschütze hätte sich bewegt. Seither hatte sie sich an die Hoffnung geklammert, sie hätte sich die Bewegung nur eingebildet — die lange Wache, während alle anderen schliefen, hätte Halluzinationen ausgelöst —, aber jetzt wusste sie, dass davon nicht die Rede sein konnte.

»Wie kann sie sich selbst scharf machen?«

Eine vernünftige Frage. Die Volyova leider nicht so ohne weiteres beantworten konnte.

»Ich hoffe, dass es nur eine Störung in den Überwachungssystemen ist«, sagte sie, um überhaupt etwas zu sagen. »Nicht das Geschütz selbst.«

»Warum sollte es sich scharf machen?«

»Keine Ahnung! Vielleicht haben Sie schon bemerkt, dass mich die Sache nicht unbedingt kalt lässt?«

Der Axiallift bremste unvermittelt ab und fuhr so heftig schaukelnd, dass einem übel werden konnte, in den Hauptschacht ein. Dann sackte er so schnell in die Tiefe, dass sie sich fast schwerelos fühlten.

»Wo fahren wir hin?«

»Zum Geschützpark natürlich.« Volyova funkelte ihren Waffenoffizier gereizt an. »Ich weiß nicht, was hier los ist, Khouri, aber auf jeden Fall möchte ich es mit eigenen Augen sehen. Ich möchte mich selbst davon überzeugen, was die verdammten Maschinen dort treiben.«

»Das Geschütz macht sich also scharf. Was kann es sonst noch anstellen?«

»Ich weiß es nicht«, sagte Volyova so ruhig wie möglich. »Ich habe alle Abschaltroutinen durchprobiert — nichts. Mit einer solchen Situation konnte ich eigentlich nicht rechnen.«

»Aber es kann sich doch wohl nicht selbst abschießen? Oder könnte es sich tatsächlich ein Ziel suchen und einfach drauflosfeuern?«

Volyova warf einen Blick auf ihr Armband. Vielleicht spielte die Anzeige verrückt; vielleicht waren tatsächlich die Überwachungssysteme gestört. Sie konnte es nur hoffen, denn was das Armband ihr jetzt mitteilte, war eine Katastrophe.

Das Geschütz hatte sich in Bewegung gesetzt.

Falkender hielt Wort: die Operationen, die er an Sylvestes Augen durchführte, waren selten angenehm, häufig das Gegenteil, und gelegentlich arteten sie in regelrechte Höllenqualen aus. Seit Tagen lotete Slukas Arzt nun schon die Grenzen seiner Fähigkeiten aus. Er hatte versprochen, so grundlegende organische Funktionen wie Farbensinn, Tiefenwahrnehmung und das Verfolgen fließender Bewegungen wiederherzustellen, konnte aber Sylveste nicht restlos überzeugen, dass er über die dazu nötigen Mittel und das erforderliche Können verfügte. Sylveste hatte ihm erklärt, die Augen hätten noch nie perfekt funktioniert. Calvin hatte nur über ein beschränktes Instrumentarium verfügt. Aber jetzt hätte er selbst das rudimentäre Sehvermögen, das ihm die Simulation hatte verschaffen können, der faden, flackernden Parodie einer Welt vorgezogen, die ihn umgab. Sylveste hatte nicht zum ersten Mal Zweifel, ob das Ergebnis wohl die Qualen rechtfertigen würde, die er bei der Reparatur zu erdulden hatte.

»Vielleicht sollten Sie aufgeben?«

»Ich habe Sluka zusammengeflickt.« Falkender tanzte als bläulich fahle, flache, aus vielen Schichten zusammengesetzte Menschenform durch Sylvestes Blickfeld. »Dagegen ist das hier eine Kleinigkeit.«

»Und selbst wenn Sie mir das Augenlicht zurückgeben, was habe ich davon? Ich kann meine Frau nicht sehen, weil Sluka uns nicht zusammenkommen lässt. Und eine Zellenwand bleibt eine Zellenwand, auch wenn man sie noch so deutlich sieht.« Er hielt inne. Schmerzwellen brandeten gegen seine Schläfen. »Ich bin nicht einmal sicher, ob es nicht besser ist, blind zu sein und nicht jedes Mal die Realität gegen den Sehnerv gerammt zu bekommen, wenn man die Augen aufschlägt.«

»Sie haben keine Augen, Dr. Sylveste.« Falkender verdrehte etwas und jagte damit rosa Schmerzrosetten durch Sylvestes Blickfeld. »Also hören Sie bitte auf, sich selbst zu bemitleiden; das passt nicht zu Ihnen. Außerdem könnte es sein, das Sie diese Mauern nicht mehr allzu lange anzustarren brauchen.«

Sylveste horchte auf.

»Das heißt?«

»Das heißt, dass bald einiges in Bewegung gerät, wenn das, was ich gehört habe, nur halbwegs der Wahrheit entspricht.«

»Sehr aufschlussreich.«

»Ich habe gehört, dass wir bald Besuch bekommen«, sagte Falkender und unterstrich die Bemerkung mit einer neuen Schmerzwelle.

»Hören Sie auf, in Rätseln zu sprechen. Wenn Sie ›wir‹ sagen, welche Partei meinen Sie dann? Und was sind das für Besucher?«

»Ich kenne nur Gerüchte, Dr. Sylveste. Sluka wird Ihnen sicher bald Näheres erzählen.«

»Darauf möchte ich mich nicht verlassen«, sagte Sylveste. Er bildete sich nicht ein, für Sluka besonders wichtig zu sein. Seit seiner Ankunft in Mantell war er notgedrungen zu dem Schluss gekommen, dass Sluka ihn nur am Leben ließ, weil er ihr eine gewisse Abwechslung bot; er war eine gefangene Bestie, ein neues Spielzeug, mit dem man allerdings wenig anfangen konnte. Daher war es ganz und gar nicht selbstverständlich, dass sie ihn jemals in einer Angelegenheit ins Vertrauen ziehen würde, die wirklich von Bedeutung war — und selbst wenn, dann nur aus zwei Gründen: entweder, weil sie es leid war, nur mit der Wand zu reden, oder weil ihr das eine neue Handhabe bot, ihn zu quälen. Mehr als einmal hatte sie davon gesprochen, ihn in Kälteschlaf zu versetzen, bis sie Verwendung für ihn fände. »Es war richtig, Sie gefangen zu nehmen«, pflegte sie zu erklären. »Ich behaupte auch nicht, dass Sie zu gar nichts taugen — ich sehe nur im Moment nichts, wozu ich Sie gebrauchen könnte. Aber ich sehe auch nicht ein, warum es jemand anderem gestattet werden sollte, Sie auszubeuten.« Mit dieser Einstellung, das hatte Sylveste bald erkannt, machte es für Sluka keinen großen Unterschied, ob er lebte oder tot war. Als Lebender hatte er einen gewissen Unterhaltungswert — außerdem konnte er ihr in der Zukunft durchaus noch nützlich werden, falls sich die Machtverhältnisse in der Kolonie verschieben sollten. Andererseits konnte sie ihn ohne größere Bedenken auch sofort töten lassen. Auf diese Weise wurde er nie zur Belastung und konnte sich nie gegen sie stellen.

Endlich hatten die gut gemeinten Bemühungen und die damit verbundenen Qualen ein Ende und ruhigeres Licht und fast überzeugende Farben hielten Einzug. Sylveste hielt sich die Hand vor die Augen, drehte sie langsam hin und her und bestaunte ihre Festigkeit. Seine Haut wies Linien und Furchen auf, die er fast vergessen hatte, dabei konnten nicht mehr als drei, höchstens vier Wochen vergangen sein, seit er im Tunnelsystem der Amarantin-Stadt geblendet worden war.

»So gut wie neu«, sagte Falkender und legte seine Instrumente in den hölzernen Autoklaven zurück. Der seltsame Handschuh mit den eingebauten Instrumenten verschwand als Letztes. Als Falkender ihn von seinen zarten Frauenfingern schälte, zuckte und zappelte er wie eine gestrandete Qualle.


»Etwas Licht bitte«, sagte Volyova in ihr Armband, als der Fahrstuhl in den Geschützpark einfuhr.

Die Kabine kam zum Stehen, die Schwerkraft kehrte schlagartig zurück. Gleich darauf ging die Beleuchtung an und erhellte die Gerüste mit den riesigen Weltraumgeschützen. Die beiden Frauen kniffen die Augen zusammen.

»Wo ist es?«, fragte Khouri.

»Warten Sie«, sagte Volyova. »Ich muss mich erst orientieren.«

»Ich sehe nichts, was sich bewegt.«

»Ich auch nicht… noch nicht.«

Volyova drückte sich flach gegen die Glaswand des Fahrstuhls und spähte vorsichtig an einer Ecke des größten Geschützes vorbei. Sie fluchte inbrünstig, dann ließ sie den Fahrstuhl mit einem Fluch um weitere zwanzig oder dreißig Meter nach unten sinken und gab den Befehl, das pulsierende rote Licht und die Innensirene abzuschalten.

»Schauen Sie«, sagte Khouri, als halbwegs Ruhe eingekehrt war. »Ist es vielleicht das dort?«

»Wo?«

Sie zeigte fast senkrecht nach unten. Volyova kniff die Augen zusammen, dann sprach sie wieder in ihr Armband. »Zusatzbeleuchtung — Geschützpark Quadrant fünf.« Und zu Khouri: »Mal sehen, was das Svinoi vorhat.«

»Das war nicht wirklich ernst gemeint, oder?«

»Was?«

»Das mit der Störung in den Überwachungssystemen.«

»Eigentlich nicht«, gab Volyova zu und kniff die Augen noch fester zusammen, als die Zusatzscheinwerfer angingen und einen Teil des Raumes weit unter ihren Füßen anstrahlten. »So etwas nennt man Optimismus — aber ich verlerne es ziemlich schnell.«

Das fragliche Geschütz, sagte Volyova, sei einer von den Planetenkillern. Sie wusste nicht genau, wie es funktionierte, und erst recht nicht, wozu es fähig war. Aber sie hatte gewisse Vermutungen. Sie hatte seine Zerstörungswirkung Jahre zuvor auf der untersten Stufe getestet… an einem kleinen Mond. Wenn man extrapolierte — und das konnte sie ganz ausgezeichnet —, wäre es für die Waffe kein Problem, selbst aus Hunderten von AE Entfernung einen Planeten zu zerlegen. Im Innern befanden sich ein Gebilde mit der Gravitationssignatur eines schwarzen Loches, das aber unbegreiflicherweise nicht verdampfen wollte. Irgendwie ließ die Waffe ein Soliton — eine stehende Welle — in der geodätischen Struktur der Raumzeit entstehen.

Diese Waffe war jetzt ohne Volyovas Zutun zum Leben erwacht und glitt auf dem Schienennetz, das sie irgendwann ins All befördern würde, durch den Raum wie ein Wolkenkratzer durch eine Stadt.

»Können wir nichts tun?«

»Ich bin für Vorschläge offen. Was hatten Sie sich denn vorgestellt?«

»Sie müssen bedenken, dass ich mich nicht seit Jahren mit dem Problem beschäftige…«

»Heraus damit, Khouri.«

»Wir könnten versuchen, das Ding aufzuhalten.« Khouri hatte die Stirn in tiefe Falten gelegt, als hätte sie neben allem anderen noch mit einem plötzlichen Migräneanfall zu kämpfen. »Auf dem Schiff gibt es doch Shuttles, oder?«

»Schon, aber…«

»Dann blockieren Sie mit einem davon den Ausgang. Oder ist Ihnen das zu primitiv?«

»Den Ausdruck ›zu primitiv‹ habe ich vorerst aus meinem Wortschatz gestrichen.«

Volyova warf einen Blick auf ihr Armband. Währenddessen glitt das Geschütz an der Wand entlang wie eine gepanzerte Schnecke auf ihrer Schleimspur. Am anderen Ende öffnete sich eine riesige Irisblende; die Schienen führten durch die Öffnung in einen dunklen Raum darunter. Das Geschütz war fast auf gleicher Höhe mit dem Ausgang.

»Ich könnte eins von den Shuttles herzitieren… aber es dauert zu lange, bis es das Schiff verlassen kann. Ich glaube nicht, dass wir rechtzeitig…«

»Tun Sie’s!«, sagte Khouri. Jeder Muskel in ihrem Gesicht war zum Zerreißen gespannt. »Wenn Sie noch lange herumscheißen, ist selbst diese Chance vertan!«

Volyova nickte und warf ihrem Waffenoffizier einen argwöhnischen Blick zu. Wieso wusste Khouri so gut Bescheid? Sie wirkte weniger verstört als Volyova, zugleich war sie sehr viel aufgeregter, als man erwartet hätte. Aber sie hatte Recht; die Idee mit dem Shuttle war einen Versuch wert, auch wenn sie wahrscheinlich keinen Erfolg haben würde.

Volyova rief die Unterpersönlichkeit der Shuttle-Steuerung auf. »Wir brauchen noch etwas anderes«, sagte sie.

Das Geschütz hatte die Irisblende bereits zur Hälfte passiert und war auf dem Weg in den zweiten Raum.

»Noch etwas?«

»Falls das nicht funktioniert. Das Problem liegt im Leitstand, Khouri — und vielleicht sollten wir es von dort aus angehen.«

Khouri erbleichte. »Was?«

»Ich möchte Sie im Sitz haben.«

Während sie mit so hoher Beschleunigung auf den Feuerleitstand zurasten, dass der Fußboden zur Decke wurde — und Khouri das Gefühl hatte, als habe sich auch ihr Magen umgedreht — flüsterte Volyova hektisch und atemlos Befehle in ihr Armband. Erst nach aufreibenden Sekunden hatte sie die richtige Unterpersönlichkeit aktiviert, weitere Sekunden verstrichen, während sie die Sicherheitsvorkehrungen umging, die Unbefugte daran hindern sollten, die Shuttles fernzusteuern. Dann mussten die Triebwerke eines Shuttles aufgewärmt und das Fahrzeug aus den Andockhalterungen gelöst und aus der Parkbucht hinaus ins All dirigiert werden. Das verdammte Ding flog sich — wie Volyova sich ausdrückte — als sei es noch nicht richtig wach. Das Lichtschiff stand unter Schub, das machte das Manöver besonders heikel.

»Ich frage mich«, sagte Khouri, »was das Geschütz eigentlich vorhat, wenn es erst draußen ist. Gibt es irgendetwas in seiner Reichweite?«

»Resurgam wäre denkbar.« Volyova blickte von ihrem Armband auf. »Aber vielleicht bekommt es ja gar keine Chance mehr.«

Diesen Augenblick wählte die Mademoiselle, um zu manifestieren. Irgendwie gelang es ihr, sich in den Fahrstuhl zu drängen, ohne Khouri und dem Triumvir den Platz streitig zu machen. »Sie irrt sich. Es wird nicht funktionieren. Ich habe nicht nur das Geschütz unter meiner Kontrolle.«

»Sie geben es also zu?«

»Wozu sollte ich es abstreiten?« Die Mademoiselle lächelte stolz. »Sie erinnern sich, dass ich einen Avatar von mir in den Feuerleitstand heruntergeladen hatte? Nun, dieser Avatar kontrolliert jetzt den Geschützstand. Nichts, was ich tue, kann ihn oder vielmehr sie beeinflussen. Sie ist für mich ebenso unerreichbar wie ich für mein ursprüngliches Ich auf Yellowstone.«

Der Fahrstuhl wurde langsamer. Volyova war ganz in die komplexen kleinen Anzeigen vertieft, die über ihr Armband huschten. Auf einer Schemazeichnung war das Shuttle zu sehen. Es glitt am Rumpf des Lichtschiffes entlang wie ein winziger Schildfisch an der glatten Flanke eines sich sonnenden Haies.

»Aber Sie haben ihr die Befehle gegeben«, sagte Khouri. »Sie wissen verdammt genau, was sie vorhat, oder etwa nicht?«

»Oh, die Befehle waren ganz einfach. Wenn sie eine Möglichkeit fände, über den Leitstand auf Systeme zuzugreifen, mit denen sich der Abschluss der Mission beschleunigen ließe, sollte sie nichts unversucht lassen, um dieses Ziel zu erreichen.«

Khouri schüttelte entsetzt und ungläubig den Kopf.

»Ich dachte, ich sollte Sylveste töten.«

»Vielleicht lässt sich das mit dieser Waffe schneller erledigen, als ich dachte.«

»Nein«, sagte Khouri, nachdem sie die Bemerkung der Mademoiselle in ihrer vollen Tragweite erfasst hatte. »Sie würden nicht einen ganzen Planeten auslöschen, nur um einen Menschen zu töten.«

»Wir haben doch nicht plötzlich unser Gewissen entdeckt?« Die Mademoiselle schüttelte den Kopf und kräuselte spöttisch die Lippen. »Sie hatten Sylvestes wegen keinerlei Skrupel. Warum sollte Sie dann der Tod der anderen so sehr belasten? Oder ist es einfach eine Frage der Größenordnung?«

»Es ist einfach…« Khouri zögerte, denn sie wusste, dass ihr Einwand die Mademoiselle nicht beeindrucken würde. »Unmenschlich. Aber ich erwarte nicht, dass Sie das verstehen.«

Der Fahrstuhl hielt an, die Tür ging auf. Vor ihnen lag, halb überflutet, der Zugang zum Feuerleitstand. Khouri musste sich erst orientieren. Seit sie den Fahrstuhl bestiegen hatten, litt sie unter mörderischen Kopfschmerzen. Jetzt ließen sie allmählich nach, aber sie wollte lieber nicht darüber nachdenken, wodurch sie ausgelöst worden waren.

»Rasch«, sagte Volyova und eilte hinaus.

»Sie können nicht begreifen«, sagte die Mademoiselle, »warum ich es auf mich nehmen würde, eine ganze Kolonie zu zerstören, um den Tod eines einzigen Mannes sicherzustellen.«

Khouri folgte Volyova. Das Wasser reichte ihr bis an die Knie.

»Ganz recht, das begreife ich nicht. Aber ich würde in jedem Fall versuchen, Sie daran zu hindern, auch wenn mir die Gründe bekannt wären.«

»Nicht, wenn Sie alles wüssten, Khouri. Dann würden Sie mich sogar noch anfeuern.«

»Dann ist es Ihre eigene Schuld, wenn Sie mich nicht aufklären.«

Sie zwängten sich durch abgedichtete Schotts. Jedes Mal, wenn sich der Wasserspiegel egalisierte, wurden tote Pförtnerratten aus den Ritzen geschwemmt, in die sie sich zum Sterben verkrochen hatten, und trieben vorbei.

»Wo ist das Shuttle?«, rief Khouri.

»Es parkt drüben am Außenschott«, sagte Volyova. Dann drehte sie sich um und sah Khouri fest an. »Das Geschütz ist noch nicht aufgetaucht.«

»Heißt das, wir haben gewonnen?«

»Es heißt, wir haben noch nicht verloren. Ich will Sie immer noch im Leitstand haben.«

Die Mademoiselle war verschwunden, aber ihre körperlose Stimme hing immer noch seltsam dumpf in dem engen Gang.

»Es nützt Ihnen nichts. Im Feuerleitstand gibt es kein System, das ich nicht übersteuern kann. Sie könnten nichts ausrichten.«

»Warum geben Sie sich dann so offensichtlich Mühe, mich zurückzuhalten?«

Die Mademoiselle antwortete nicht.

Zwei Schotts weiter erreichten sie die Deckenluke, die zum Leitstand führte. Sie waren inzwischen in Laufschritt gefallen, und so dauerte es eine Weile, bis das Wasser nicht mehr an den schrägen Korridorseiten emporschwappte.

Als es sich vollends beruhigt hatte, runzelte Volyova die Stirn.

»Da stimmt etwas nicht«, sagte sie.

»Was?«

»Hören Sie nicht? Da ist ein Geräusch.« Sie legte den Kopf in den Nacken. »Scheint direkt aus dem Feuerleitstand zu kommen.«

Jetzt hörte es auch Khouri. Ein schrilles metallisches Kreischen wie von einem durchdrehenden antiken Antriebsmotor.

»Was ist das?«

»Ich weiß es nicht.« Volyova hielt inne. »Jedenfalls hoffe ich, dass ich es nicht weiß. Gehen wir rein.«

Volyova streckte sich und zog an der Klappe der Deckenluke, bis sie sich öffnen ließ. Eingetrockneter Schiffsschleim löste sich von den Dichtungen und regnete ihnen auf die Schultern. Die Metall-Leiter wurde ausgefahren, das Kreischen wurde lauter. Es kam eindeutig aus dem Feuerleitstand. Die helle Innenbeleuchtung war eingeschaltet, aber sie flackerte, als ob sich da oben etwas bewegte und die Lichtbahnen durchbräche. Was immer es war, es war auch noch schnell.

»Ilia«, sagte Khouri. »Das ist mir nicht geheuer.«

»Willkommen im Club.«

Volyovas Armband meldete sich und sie beugte sich darüber. Im gleichen Augenblick durchlief ein gewaltiges Zittern das ganze Schiff. Die beiden Frauen wurden gegen die glitschigen Seitenwände geschleudert und fielen ins Wasser. Bevor Khouri sich aufrappeln konnte, zog ihr eine kleine Flutwelle aus zähflüssigem Schlamm die Beine weg. Sie stürzte aufs Deck. Etwas von dem Schleim geriet ihr in den Mund. Seit ihrer Militärzeit hatte sie nichts mehr gegessen, was so sehr nach Scheiße schmeckte. Volyova packte sie an den Ellbogen und zog sie hoch. Khouri würgte und spuckte den Schlamm aus, aber der abscheuliche Geschmack blieb.

Volyovas Armband schrillte jetzt ununterbrochen.

»Was zur Hölle…?«

»Das Shuttle«, sagte Volyova. »Wir haben es eben verloren.«

»Was?«

»Ich meine, es wurde gesprengt.« Volyova hustete. Ihr Gesicht war nass. Sie musste selbst einen ordentlichen Schluck von dem Zeug erwischt haben. »Soweit ich feststellen kann, brauchte das Geschütz dazu nicht einmal bis nach draußen zu fahren. Kleinere Waffen haben ihm die Arbeit abgenommen — sie haben das Shuttle angegriffen.«

Von oben aus dem Leitstand drangen Furcht erregende Geräusche.

»Und da soll ich jetzt hinauf?«

Volyova nickte. »Wir müssen Sie in den Kampfsitz kriegen, das ist im Moment unsere letzte Chance. Aber keine Sorge. Ich bin dicht hinter ihnen.«

»Hören Sie sich das an«, meldete sich plötzlich die Mademoiselle. »Sie hat keine Hemmungen, Sie vorzuschicken, obwohl sie selbst den Mumm dazu nicht hat.«

»Oder die Implantate«, schrie Khouri laut.

»Wie bitte?«, fragte Volyova.

»Nichts.« Khouri setzte den Fuß auf die unterste Leitersprosse. »Ich sage nur einer alten Freundin, sie kann mich mal.« Sie rutschte von dem schleimverklebten Metalltritt ab. Beim nächsten Versuch fand sie einigermaßen Halt und zog den zweiten Fuß nach. Nun befand sie sich mit dem Kopf in dem kleinen Schacht, der nicht mehr als zwei Meter über ihnen in den Leitstand mündete.

»Sie kommen nicht rein«, sagte die Mademoiselle. »Ich steuere den Sitz. Sobald Sie den Kopf in den Raum stecken, haben Sie ihn verloren.«

»Wenn das passiert, möchte ich gern Ihr Gesicht sehen.«

»Khouri, haben Sie denn noch nicht begriffen? Der Verlust Ihres Kopfs wäre nur die Unannehmlichkeit.«

Jetzt war sie dicht unter dem Eingang. Der kardanisch aufgehängte Sitz peitschte in wilden Bögen durch den ganzen Raum. Für derart akrobatische Kunststücke war er nicht gebaut; Khouri roch das Ozon, das die überhitzten Motoren in die Luft abgaben. »Volyova«, schrie sie über den Lärm hinweg. »Sie haben die Anlage eingerichtet. Können Sie dem Sitz von unten die Energiezufuhr abschneiden?«

»Den Strom abstellen? Natürlich — aber was hätten wir davon? Sie müssen sich über das Interface mit dem Leitstand verbinden.«

»Nicht alles — nur so viel, dass das Drecksding nicht mehr durch die Gegend rasen kann.«

Eine kurze Pause trat ein. Vermutlich rief sich Volyova die alten Schaltpläne in Erinnerung, dachte Khouri. Die Frau hatte den Leitstand selbst geplant — aber das mochte vor vielen Jahrzehnten subjektiver Zeit gewesen sein, und seitdem war es wohl nicht nötig gewesen, eine so primitive Einrichtung wie die Stromversorgung zu modernisieren.

»Schön«, sagte Volyova endlich. »Es gibt hier eine Hauptleitung — die könnte ich vermutlich kappen…«

Sie verschwand rasch aus Khouris Blickfeld. Es hörte sich ganz einfach an: die Hauptleitung kappen. Aber vielleicht brauchte Volyova dazu einen Spezialschneider, den sie erst holen musste. Und dafür war sicher nicht genug Zeit. Nein; Volyova hatte ein Werkzeug. Den kleinen Laser, mit dem sie Proben von Captain Brannigan zu nehmen pflegte, trug sie immer bei sich. Qualvolle Sekunden vergingen. Im Geiste sah Khouri vor sich, wie sich das Geschütz langsam durch den Schiffsrumpf ins All hinaus schob. Jetzt peilte es sein Ziel an — Resurgam — und ging auf volle Leistung, um ihm den gravitationellen Todesstoß zu versetzen.

Über ihr verstummte das Kreischen.

Alles war still, das Licht schwankte nicht mehr. Der Sitz hing reglos wie ein Thron in seinem elegant geschwungenen Käfig. Die schmalen Kardanringe aus Metall wirkten schärfer als zuvor. Rasch duckte sie sich durch die Zuleitungen und schlüpfte zwischen den Ringen durch. Der Sitz stand immer noch still, aber je näher sie kam, desto weniger Spielraum bliebe ihr, sollte er sich wieder in Bewegung setzen. Wenn es jetzt passierte, dachte sie, hätten die Wände im Handumdrehen ein rotes Muster aus klebrigem, langsam gerinnendem Blut.

Und dann saß sie drin und schnallte sich an. Sobald die Schließe einrastete, schoss der Sitz winselnd nach vorne. Er rollte an den Kardanringen vor und zurück und schleuderte sie kopfüber nach unten und zur Seite, bis sie jede Orientierung verlor. Alles vollzog sich mit halsbrecherischer Geschwindigkeit. Bei jeder scharfen Wendung traten Khouri die Augen aus den Höhlen — dennoch waren die Bewegungen etwas gemäßigter als zuvor.

Sie will mir Angst einjagen, dachte Khouri, aber sie will mich nicht töten… noch nicht.

»Wagen Sie es nicht, die Verbindung herzustellen«, warnte die Mademoiselle.

»Weil ich damit Ihren schönen Plan durchkreuzen könnte?«

»Keineswegs. Darf ich Sie an Sonnendieb erinnern? Er lauert dort drin.«

Der Sitz bockte noch immer, aber nicht mehr ganz so wild. Khouri konnte wieder klar denken.

»Vielleicht existiert er gar nicht«, bemerkte sie in Gedanken. »Vielleicht haben Sie ihn nur erfunden, um mich besser unter Druck setzen zu können.«

»Dann machen Sie doch weiter.«

Khouri ließ den Helm herunter. Sobald sie ihn über dem Kopf hatte, nahm sie die rasende Drehung des Raumes nicht mehr wahr. Sie legte die Hand auf den Interface-Schalter. Ein leichter Druck, und die Verbindung wäre hergestellt; sobald sich der Schaltkreis schloss, würde ihre Psyche von der abstrakten militärischen Datensphäre namens Waffenraum eingesaugt.

»Sie schaffen es nicht, wie? Weil Sie mir nämlich glauben. Wenn Sie die Verbindung hergestellt haben, gibt es kein Zurück mehr.«

Khouri verstärkte den Druck und spürte ein leichtes Nachgeben, als sich der Kreis zu schließen drohte. Dann hatte sie — mit einer unbewussten neuro-muskulären Zuckung oder weil etwas in ihr einsah, dass es getan werden musste — die Verbindung hergestellt. Der Leitstand nahm sie in sich auf wie in tausend taktischen Simulationen zuvor. Zuerst kam die räumliche Verschmelzung: sie nahm ihren eigenen Körper nur noch undeutlich wahr, das Lichtschiff und seine unmittelbare Umgebung traten an seine Stelle, dann vermittelten ihr eine Reihe von hierarchischen Overlays, die ständig aktualisiert, überprüft und mit hektischen Simulationen in Realzeit extrapoliert wurden, die taktisch/strategische Situation.

Die Assimilation war vollkommen.

Das Geschütz hatte mehrere hundert Meter vom Schiffsrumpf entfernt Stellung bezogen. Seine Spitze zeigte in die Flugrichtung, genau auf Resurgam — wobei es, wie Khouri wusste, auch die winzigen relativistischen Lichtbeugungsverzerrungen berücksichtigte, die bei ihrer mäßigen Geschwindigkeit entstanden. Neben der Außenluke, durch die das Geschütz hinausgelangt war, hatte das Shuttle am Rumpf einen schwarzen Strich hinterlassen. Hier gab es Beschädigungen; Khouri spürte sie wie Nadelstiche, und sie spürte auch, wie sie betäubt wurden, als sich die Autoreparatursysteme zuschalteten. Schwerkraftsensoren erfassten die Wellen, die von der Waffe ausgingen; periodische Luftströmungen strichen — mit wachsender Beschleunigung — über Khouri hinweg. Die schwarzen Löcher im Innern der Waffe kamen wohl in Fahrt und kreisten immer schneller um den Torus.

Dann wurde sie, nicht von außen, sondern von innerhalb des Leitstandes entdeckt.

»Sonnendieb hat Ihren Eintritt in den Datenraum registriert«, konstatierte die Mademoiselle.

»Kein Problem.« Khouri schob virtuelle Hände in cybernetisch realisierte Manipulatoren und streckte sie in den Waffenraum. »Ich greife jetzt auf die Verteidigungsanlagen zu. Ein paar Sekunden genügen mir.«

Doch irgendetwas stimmte nicht. Die Waffen fühlten sich anders an als bei den Simulationen; sie widersetzten sich ihren Wünschen. Khouri begriff schnell: sie waren umkämpft, und sie selbst hatte soeben in den Kampf eingegriffen.

Die Mademoiselle — oder vielmehr ihr Avatar — versuchte, die Verteidigungswaffen am Rumpf zu blockieren, um zu verhindern, dass sie gegen das Weltraumgeschütz gerichtet wurden. Das Geschütz selbst war von zahlreichen Firewalls abgeschirmt und für Khouri unerreichbar. Aber wer — oder was — widersetzte sich der Mademoiselle und bemühte sich, die Waffen zum Einsatz zu bringen? Sonnendieb natürlich. Jetzt spürte sie seine Gegenwart. Groß und mächtig, aber dennoch darauf bedacht, unsichtbar aus dem Hinterhalt zu operieren, tarnte er sich geschickt hinter routinemäßigen Datenbewegungen. Jahrelang hatte das funktioniert, ohne dass Volyova etwas von seiner Existenz ahnte. Doch jetzt wurde Sonnendieb aus der Reserve gelockt und hastete von einem Versteck zum anderen wie eine Krabbe vor der anrollenden Flut. Khouri spürte nichts Menschliches; keinen Hinweis darauf, dass diese dritte Präsenz im Leitstand ganz einfach eine heruntergeladene Persönlichkeitssimulation sein könnte; Sonnendieb fühlte sich an wie reiner Geist, als wäre er nie etwas anderes gewesen als eine Datensimulation und könnte auch nie etwas anderes sein.

Er fühlte sich an wie das absolute Nichts — aber ein Nichts, das einen erschreckend hohen Organisationsgrad erreicht hatte.

Konnte sie wirklich ernsthaft daran denken, sich mit einem solchen Wesen zu verbünden?

Vielleicht. Wenn sich auf diese Weise die Mademoiselle stoppen ließe.

»Noch können sie zurück«, sagte die Frau. »Er ist im Moment beschäftigt — hat nicht genügend freie Energie, um in Sie einzudringen. Aber das wird sich gleich ändern.«

Jetzt hatte Khouri zumindest die Zielsuchsysteme unter Kontrolle, obwohl sie nur träge reagierten. Sie erfasste das Weltraumgeschütz, umgab es in seiner Gesamtheit mit einer Sphäre potenzieller Vernichtung. Jetzt brauchte die Mademoiselle nur noch für eine Mikrosekunde die Kontrolle über die Waffen abzugeben, das würde genügen, um zu zielen, zu feuern, zu vernichten.

Sie spürte, wie der Widerstand nachließ. Sie — oder vielmehr sie und Sonnendieb — sollten offenbar Sieger bleiben.

»Tun Sie es nicht, Khouri. Sie wissen nicht, was auf dem Spiel steht…«

»Dann klären Sie mich auf, verdammt. Was ist so wichtig? Sagen Sie es mir!«

Das Weltraumgeschütz entfernte sich weiter, ein sicheres Zeichen dafür, dass die Mademoiselle um seine Sicherheit fürchtete. Aber die Gravitationsstrahlung verstärkte sich, die Wellen kamen jetzt so schnell, dass sie kaum noch auseinander zu halten waren. Niemand wusste, wie lange es noch dauerte, bis das Geschütz feuerte, aber Khouri vermutete, dass es sich nur noch um Sekunden handeln konnte.

»Hören Sie, Khouri!«, sagte die Mademoiselle. »Sie wollen die Wahrheit wissen?«

»Ja, verdammt noch mal!«

»Dann machen Sie sich auf etwas gefasst. Gleich kommt die geballte Ladung.«

Und dann — kaum dass sie sich an die Umgebung des Waffenraums gewöhnt hatte — wurde sie in eine ganz andere Realität gerissen. Seltsam war, dass es sich dabei um einen Teil ihrer selbst handelte, den sie bis zu diesem Augenblick vollkommen übersehen hatte.

Sie waren auf einem Schlachtfeld, auf dem Gelände eines Nothospitals oder eines vorgeschobenen Kommandopostens, umgeben von aufblasbaren Chamäleo-Zelten und provisorischen Umzäunungen. Über dem Lager spannte sich ein azurblauer Himmel mit weißen Wolken, zwischen die sich schmutzige Qualmstreifen mischten, als spritze ein weltumspannender Oktopus seine Tinte in die Stratosphäre. Zahlreiche Düsenflugzeuge mit gepfeilten Flügeln erzeugten die Kondensstreifen und tauchten unter ihnen hindurch. Weiter unten schwebten Drohnenluftschiffe und noch tiefer jagten bullige Transporthubschrauber mit Kippflügeln und Tandemfahrwerk am Rand des Lagers entlang. Sie gingen gelegentlich zu Boden, um Schützenpanzer oder Fußtruppen, Krankenwagen oder gepanzerte Servomaten auszuspucken. Vor einer Seite des Lagers erstreckte sich ein verbrannter Grasstreifen, das Vorfeld. Dort standen sechs fensterlose Deltaflügler, Senkrechtstarter mit ausgefahrenen Kufen, die ihre Farbe exakt dem sonnengebleichten Boden angepasst hatten. Ihre Irisblenden waren zur Inspektion geöffnet.

Khouri stolperte und fiel ins Gras. Sie trug einen Chamäleo-Anzug, der zurzeit in verschiedenen Khakitönen gefleckt war. In den Händen hielt sie eine leichte Projektilwaffe. Der Metallgriff schmiegte sich wie selbstverständlich gegen ihre Handflächen. Auf dem Kopf hatte sie einen Helm, von dessen Rand ein 2-D-Monokel hing. Es zeigte eine Falschfarbenkarte der Kampfzone, die nach den Telemetriedaten von einem der Luftschiffe erstellt wurde.

»Hier entlang, bitte.«

Ein Weißhelm führte sie in eines der Zelte. Drinnen nahm ihr eine Ordonnanz die Waffe ab, kennzeichnete sie mit einem Ident-Chip und stellte sie zu acht anderen — von Projektilwaffen wie ihrer eigenen über Schießprügel mittlerer Leistung bis zu einer verheerenden Schulterwaffe, die mit beschleunigten Antimaterie-Impulsen arbeitete und besser erst eingesetzt wurde, wenn sich der Gegner nicht mehr auf dem gleichen Kontinent befand — in einen Ständer. Die Luftschiffdaten wurden unscharf und erloschen. Das Überwachungsschutzfeld um das Zelt hatte sie gelöscht. Khouri hob die frei gewordene Hand, warf das Monokel über den Helmrand nach hinten und strich sich mit der gleichen Bewegung eine verschwitzte Haarsträhne aus dem Gesicht.

»Hier herein, Khouri.«

Man führte sie vorbei an Stockbetten, Verletzten und leise summenden Sanitäts-Servomaten, die wie grüne Schwäne ihre langen Hälse über die Patienten reckten, in einen abgeteilten Bereich an der Rückseite des Zelts. Draußen war das schrille Pfeifen von Düsenjägern zu hören, dann eine Reihe von Einschlägen, aber im Zelt nahm davon niemand Notiz.

Endlich stand sie in einem kleinen, quadratischen Raum mit einem einzigen Schreibtisch. An den Wänden hingen die transnationalen Fahnen der Nord-Koalition, und in einer Ecke des Schreibtischs stand auf einem Bronzesockel ein großer Globus von Sky’s Edge. Der Globus war auf geografische Darstellung geschaltet und zeigte nur die vielfältigen Landmassen und Geländetypen des Planeten, nicht die heiß umkämpften politischen Grenzen. Aber Khouri streifte ihn lediglich mit einem flüchtigen Blick, denn der Mann hinter dem Schreibtisch nahm ihre Aufmerksamkeit sofort gefangen. Er trug Paradeuniform: einen olivgrünen, zweireihig geknöpften Waffenrock mit goldenen Schulterstücken und einer beeindruckenden Kollektion von Orden und Medaillen der Nord-Koalition auf der Brust. Das glänzend schwarze Haar war glatt nach hinten gekämmt.

»Es tut mir Leid«, sagte Fazil, »dass es so kommen musste. Aber nachdem du jetzt hier bist…« Er streckte die Hand aus. »Nimm doch Platz; wir müssen miteinander reden. Ziemlich dringend sogar.«

In Khouri regte sich eine schwache Erinnerung. Sie sah einen Raum vor sich, einen Raum mit Metallwänden und einem Sitz. Die Erinnerung machte sie nervös — so als wäre jede Sekunde kostbar. Aber verglichen mit der Gegenwart, mit diesem Zelt mutete sie unwirklich an. Fazil schlug sie völlig in seinen Bann. Er sah noch fast genauso aus wie damals (Wo sollte das gewesen sein?), nur war seine Wange von einer Narbe gezeichnet, die ihr unbekannt war, und er hatte sich einen Schnurrbart zugelegt. Zumindest (sie war nicht ganz sicher) hatte er den Bart, den er bei ihrer letzten Begegnung getragen hatte, irgendwie verändert; entweder trug er ihn jetzt dichter, oder er hatte die schwarzen Borsten so lang wachsen lassen, bis sich zu beiden Seiten seiner Oberlippe die ersten Ansätze verwegener Spitzen zeigten.

Sie folgte seiner Aufforderung und setzte sich auf einen Klappstuhl.

»Sie — die Mademoiselle — hatte schon befürchtet, dass dieser Fall eintreten könnte«, sagte Fazil. Die Lippen unter dem Schnurrbart bewegten sich kaum. »Deshalb hat sie Vorkehrungen getroffen und dir, als du noch auf Yellowstone warst, eine Reihe von geschlossenen Erinnerungsschleifen implantiert. Sie waren so markiert, dass sie sich nur dann aktivierten — und deinem Bewusstsein öffneten —, wenn sie es für angebracht hielt.« Er beugte sich über den Schreibtisch, stieß den Globus an und ließ ihn ein paar Mal rotieren, um ihn dann jählings anzuhalten. »Tatsächlich hat sie schon vor einiger Zeit damit begonnen, diese Erinnerungen freizusetzen. Erinnerst du dich an deinen leichten Migräneanfall im Fahrstuhl?«

Khouri tastete nach einem Rettungsanker; einer objektiven Realität, der sie vertrauen konnte.

»Wozu soll das gut sein?«

»Es ist ein Hilfsmittel«, sagte Fazil. »Zum Teil besteht es aus vorhandenen Erinnerungsstrukturen, die die Mademoiselle entnommen hatte und als brauchbar erachtete. Dieses Treffen zum Beispiel — zeigt es nicht Anklänge an unsere erste Begegnung, Liebling? Damals in der Einsatzzentrale auf Höhe Achtundsiebzig während des Krieges um die Zentralprovinzen, vor der zweiten Offensive gegen die rote Halbinsel? Man hatte dich zu mir geschickt, weil ich einen Agenten für eine Infiltration brauchte, der sich in den nicht abgeschirmten, vom Sicherheitsrat kontrollierten Sektoren auskannte. Waren wir nicht ein großartiges Team? In mehr als einer Beziehung.« Er strich sich den Schnurrbart, dann wies er wieder auf den Globus. »Natürlich habe ich — oder vielmehr sie — dich nicht nur hierher gebracht, um in Erinnerungen zu schwelgen. Nein, der Tatsache, dass auf diese Erinnerung zugegriffen wurde, entnehme ich, dass die Zeit reif ist für gewisse Offenbarungen. Die Frage ist nur, bist auch du dafür bereit?«

»Natürlich bin ich…« Khouri brach ab. Was Fazil sagte, ergab keinen Sinn, aber die Erinnerung an jenen anderen Ort ließ sie nicht los; an den Raum mit den Metallwänden und dem brutalen Stuhl. Sie hatte das Gefühl, als sei dort noch etwas unerledigt — als stehe die Lösung gar unmittelbar bevor. Wo immer dieser Raum war, sie sollte eigentlich dort sein und sich am Kampf beteiligen, obwohl sie nicht wusste, worum es ging. Sie ahnte nur, dass nicht mehr viel Zeit war, dass sie sich dieses Intermezzo ganz sicher nicht leisten konnte.

»Oh, mach dir deshalb keine Sorgen«, beschwichtigte Fazil. Er konnte offenbar ihre Gedanken lesen. »Unsere Unterhaltung findet nicht in Realzeit statt; nicht einmal in der beschleunigten Realzeit des Leitstandes. Hast du noch nie erlebt, dass du unversehens von jemandem aus einem Traum geweckt wirst, dessen Handlungen schon lange vorher in die Traumgeschichte verwoben waren? Du verstehst, was ich meine: du wachst auf, weil dir dein Hund das Gesicht leckt, und im Traum bist du auf einem Schiff und fällst über Bord ins Meer. Aber auf dem Schiff warst du schon von Anfang des Traumes an.« Er hielt inne. »Eine Erinnerung, Khouri. Eine Erinnerung, die unverzüglich konserviert wird. Der Traum kam dir ganz wirklich vor, aber er entstand in dem Moment, als der Hund anfing, dir das Gesicht zu lecken. Eine Rekonstruktion. Du hast ihn nie wirklich erlebt. Genauso ist es mit diesen Erinnerungen.«

Als Fazil den Leitstand erwähnte, hatte sich das Bild des Raumes verfestigt. Das Gefühl, dort sein und in einen Kampf eingreifen zu müssen, wurde noch stärker. Die Einzelheiten ließen sich immer noch nicht fassen, aber es erschien Khouri sehr wichtig, sofort zurückzukehren.

»Die Mademoiselle«, fuhr Fazil fort, »hätte auch jeden anderen Schauplatz aus deiner Vergangenheit wählen oder eine neue Szenerie erschaffen können. Aber sie fand, es könnte hilfreich sein, dich in eine geistige Verfassung zu bringen, in der dir ein Gespräch über militärische Fragen ganz natürlich vorkäme.«

»Militärische Fragen?«

»Genauer gesagt, über einen Krieg.« Als er lächelte, bogen sich die Spitzen seines Schnurrbarts kurz nach oben, wie um das Prinzip einer freitragenden Brücke zu demonstrieren. »Allerdings über einen Krieg, von dem du wahrscheinlich noch nie gelesen hast. Nein; dafür ist er schon viel zu lange her.« Er stand unvermittelt auf, zog seinen Waffenrock glatt und rückte den Gürtel zurecht. »Vielleicht wäre es sogar ganz nützlich, dazu in den Besprechungsraum zu gehen.«

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