Neununddreißig

Im Inneren von Cerberus,

letzter Raum

2567


Der Edelstein erstrahlte jetzt in einem eindeutig bläulichen Licht, als halte ihn Sylvestes Nähe von seinen Wanderungen durch das Spektrum ab und zwinge ihn zu einer Phase der Ruhe. Sylveste hielt es immer noch für gefährlich, sich ihm zu nähern, aber jetzt trieb ihn seine Neugier weiter — und das Gefühl, sein Schicksal erfüllen zu müssen. Das Gefühl mochte den tiefsten Schichten seines Gehirns entspringen. Der gleiche Instinkt, sich einer Gefahr stellen zu müssen, um sie zu zähmen, hatte wohl einst die Menschen bewogen, zum ersten Mal ins Feuer zu greifen, vor Schmerz zurückzuzucken und daraus zu lernen.

Vor ihm entfaltete sich der Edelstein und durchlief geometrische Transformationen, denen er nicht allzu viel Aufmerksamkeit zu schenken wagte, aus Angst, sie zu verstehen und damit an ähnlichen Schwachstellen seines Bewusstseins Risse zu erzeugen.

»Hältst du das wirklich für klug?«, fragte Calvin. Seine Kommentare waren mehr denn je Bestandteil von Sylvestes innerem Dialog geworden.

»Für eine Umkehr ist es jetzt zu spät«, sagte eine Stimme.

Sie gehörte weder Calvin noch Sylveste, aber sie klang so vertraut, als sei sie seit langem ein wenn auch stummer Teil von ihnen.

»Du bist Sonnendieb, nicht wahr?«

»Er ist schon die ganze Zeit bei uns«, sagte Calvin. »Nicht wahr?«

»Länger, als du denkst. Seit du von Lascailles Schleier zurückgekehrt bist, Dan.«

»Dann hatte Khouri vollkommen Recht«, sagte Sylveste, obwohl er das längst erkannt hatte. Wenn Sajakis leerer Anzug als Bestätigung noch nicht genügt hätte, dann hatten die Erkenntnisse, die ihm im weißen Licht zuteil geworden waren, seine letzten Zweifel ausgeräumt.

»Was willst du von mir?«

»Nur, dass du den — Edelstein — betrittst, wie du ihn nennst.« Die Stimme des Wesens — und Sylveste hörte jetzt nichts anderes mehr — war ein drohendes Zischen. »Du hast nichts zu befürchten. Er wird dir nicht schaden, und nichts wird dich hindern, diese Welt zu verlassen.«

»Das würdest du immer sagen, nicht wahr?«

»Es ist die Wahrheit.«

»Was ist mit dem Brückenkopf?«

»Die Anlage ist noch in Funktion. Und so wird es bleiben, bis du Cerberus verlassen hast.«

»Man kann nie wissen«, bemerkte Calvin. »Jedes Wort von ihm könnte eine Lüge sein. Er hat uns auf Schritt und Tritt getäuscht und manipuliert, nur um dich hierher zu locken. Warum sollte er ausgerechnet jetzt anfangen, die Wahrheit zu sagen?«

»Weil es keine Rolle mehr spielt«, sagte Sonnendieb. »Nachdem ihr so weit gekommen seid, sind eure eigenen Wünsche ohne Belang.«

Sylveste spürte, wie der Anzug mit einem Satz in den geöffneten Edelstein hineinsprang. Ein flimmernder Korridor mit vielen Facetten führte in die Tiefen des Objekts.

»Was…?«, begann Calvin.

»Ich tue gar nichts«, sagte Sylveste. »Der Dreckskerl kontrolliert wahrscheinlich meinen Anzug.«

»Logisch. Er konnte schließlich auch Sajakis Anzug steuern. Wahrscheinlich hat sich der Faulpelz bisher nur zurückgelehnt und dir die Arbeit überlassen.«

»Ich glaube nicht«, sagte Sylveste, »dass du mit Beleidigungen jetzt noch viel ausrichten kannst.«

»Hast du eine bessere Idee?«

»Im Grunde genommen…«

Er befand sich tief in einem leuchtenden luftröhrenähnlichen Tunnel mit so vielen Windungen und Kehren, dass man kaum glaubte, sich noch im Innern des Edelsteins zu befinden. Aber schließlich hatte er dessen wahre Größe nie mit Sicherheit festgestellt — sein Durchmesser konnte irgendwo zwischen ein paar hundert Metern und dreißig bis vierzig Kilometern liegen. Die wechselnde Form machte eine genaue Messung unmöglich, vielleicht gab es auch keine sinnvolle Lösung. Auch das Volumen eines fraktalen Festkörpers konnte man schließlich nicht bestimmen.

»Äh… was sagtest du?«

»Ich sagte…« Sylveste brach ab. »Sonnendieb, hörst du mir zu?«

»Wie immer.«

»Ich verstehe nicht, warum du mich hierher gelotst hast. Wenn du Sajakis Anzug steuern konntest — und den meinen die ganze Zeit über unter Kontrolle hattest — warum musste ich dann überhaupt mitkommen? Wenn du in diesem Ding etwas zu erledigen hast, wenn du etwas herausholen willst, konntest du das doch auch ohne mich tun.«

»Die Anlage reagiert nur auf organische Lebensformen. Einen leeren Anzug hätte sie als Maschinenbewusstsein gedeutet.«

»Das — Ding — ist eine technische Anlage? Wolltest du das damit sagen?«

»Eine Anlage der Unterdrücker.«

Im ersten Moment waren das nur leere Worte, aber gleich darauf verbanden sie sich — zunächst noch lose — mit gewissen Erinnerungen aus der Zeit im weißen Licht; dem Portal zur Hades-Matrix. Diese Erinnerungen verknüpften sich wiederum mit anderen, bis eine endlose Assoziationskette entstanden war.

Und die verhalf ihm zu einem gewissen Verständnis.

Mehr denn je war ihm klar, dass er nicht weitergehen sollte; wenn er ins Innerste dieses Edelsteins — der Unterdrückeranlage — vordrang, musste er mit dem Schlimmsten rechnen. Die Vorstellungskraft reichte nicht aus, um sich eine Katastrophe noch größeren Ausmaßes auszumalen.

»Wir dürfen nicht weitergehen«, sagte Calvin. »Ich weiß jetzt, was das ist.«

»Ich auch, aber es ist zu spät.«

Die Anlage war von den Unterdrückern zurückgelassen worden. Sie hatten sie gleich neben dem flimmernden weißen Portal, das noch älter war als sie, in eine Umlaufbahn um Hades gebracht. Es störte sie nicht, dass sie nicht ganz verstanden, wozu das Portal diente, und eigentlich auch keine Ahnung hatten, wer es dort aufgestellt hatte, neben dem Neutronenstern, mit dem — es gab da einige verdächtige Hinweise, denen sie nicht weiter nachgegangen waren — nicht alles so war, wie es sein sollte. Abgesehen von seiner ungewissen Herkunft passte es bestens in ihre Pläne. Ihre eigenen Anlagen waren so konstruiert, dass sie intelligente Lebewesen anlockten, und wenn man eine dieser Anlagen neben eine noch fremdartigere Entität stellte, waren Besucher garantiert. Diese Strategie verfolgten sie in der gesamten Galaxis: stets bauten sie ihre Unterdrückeranlagen neben Objekten von astrophysikalischem Interesse oder in der Nähe von Ruinen untergegangener Kulturen auf. An Stellen also, die von sich aus Aufmerksamkeit erregten.

Und die Amarantin waren gekommen, hatten an der Anlage herumgespielt und sich damit bemerkbar gemacht. Die Anlage hatte sie studiert und ihre Schwächen festgestellt.

Und sie hatte sie ausgelöscht — bis auf die kleine Schar von Abkömmlingen der Verbannten. Die hatten zwei Wege gefunden, um der gnadenlosen Verfolgung durch die Unterdrücker zu entgehen. Einige hatten sich durch das Portal begeben und in die Krustenmatrix integriert, um dort, konserviert im undurchdringlichen Bernstein nuklearer Masse, die man zur Rechenmaschine versklavt hatte, als Simulationen fortzubestehen.

Von Leben konnte dabei kaum die Rede sein, dachte Sylveste, aber zumindest hatte etwas von ihnen überdauert.

Und dann gab es die anderen: sie hatten einen zweiten Weg gefunden, den Unterdrückern zu entkommen. Eine nicht weniger drastische, ebenso unwiderrufliche Fluchtmöglichkeit…

»Sie wurden zu den Schleierwebern, nicht wahr?« Jetzt sprach Calvin — oder verlieh nur Sylveste seinen eigenen Gedanken Ausdruck, wie er es manchmal im Eifer des Gefechts zu tun pflegte? Er hätte es nicht sagen können, und es interessierte ihn auch nicht weiter. »Das war in den letzten Tagen; Resurgam war bereits zerstört und die meisten Raumfahrer waren aufgespürt und vernichtet worden. Eine Gruppe ging in der Hades-Matrix auf. Eine zweite lernte, wahrscheinlich aus den Transformationen im Umfeld des Portals, bis zu einem gewissen Grad die Raumzeit zu manipulieren. Diese Gruppe fand eine Lösung; eine Methode, um sich vor den Waffen der Unterdrücker zu schützen. Sie wickelten die Raumzeit um sich wie einen Mantel; ließen sie gerinnen, verfestigten sie zu einer undurchdringlichen Hülle. Und hinter solche Hüllen zogen sie sich zurück und dichteten sie ab für die Ewigkeit.«

»Es war immerhin besser als der Tod.«

Für einen Moment sah er ganz klar. Die hinter den Schleiern hatten gewartet und gewartet, hatten vom Universum ringsum kaum Notiz genommen und konnten auch kaum damit in Verbindung treten. Allzu sicher waren die Mauern, mit denen sie sich umschlossen hatten.

Sie hatten geduldig gewartet.

Schon als sie sich in die Klausur begaben, hatten sie gewusst, dass die Anlagen der Unterdrücker allmählich versagten und zusehends unfähiger wurden, Intelligenz zu unterdrücken. Für sie selbst kam die Entwicklung spät — doch nachdem sie eine Million Jahre in ihrer Raumzeitblase gesessen hatten, tauchte die Frage auf, ob die Gefahr womöglich vorüber sei.

Sie konnten die Schleier nicht einfach öffnen und hinausschauen — das wäre zu riskant gewesen, denn die Geduld der Unterdrücker-Maschinen war schier unerschöpflich. Ihre scheinbare Passivität konnte eine Falle sein, ein Spiel, um die Amarantin — die Schleierweber — aus ihrem Versteck auf das Schlachtfeld des offenen Weltalls zu locken, wo sie mit Leichtigkeit zu zerstören waren. Damit wäre nach einer Million Jahre die Säuberungsaktion beendet und diese Spezies vollends ausgerottet gewesen.

Doch nach und nach tauchten andere auf.

Vielleicht hatte dieser Abschnitt der Galaxis etwas an sich, das die Evolution von Wirbeltieren begünstigte, vielleicht war es auch nur Zufall, doch die Schleierweber sahen in den Menschen, die soeben die Raumfahrt entdeckt hatten, einen Abglanz dessen, was sie einst gewesen waren. Auch ihre psychischen Schwächen fanden sie wieder: den Drang nach Einsamkeit und den Wunsch nach Kameradschaft; die Sehnsucht nach den Tröstungen einer Gesellschaft und nach den leeren Weiten des Alls; die innere Zerrissenheit, die sie immer weiter nach draußen trieb.

Philip Lascaille war als Erster zu ihnen gekommen, vor dem Schleier, der jetzt seinen Namen trug.

Die Verwerfungen der Raumzeit im Umkreis des Schleiers hatten sein Bewusstsein aufgerissen, alles durcheinander geworfen und neu zusammengesetzt. Entstanden war ein sabberndes Zerrbild des einstigen Lascaille. Aber dieses Zerrbild zeigte Züge von Genialität. Die Schleierweber hatten ihm etwas eingepflanzt: das nötige Wissen, um jemand anderen sehr viel näher heranzuholen… und die Lüge, um diesem anderen das Abenteuer schmackhaft zu machen.

Kurz vor seinem Tod hatte sich Lascaille dem jungen Dan Sylveste anvertraut.

Gehen Sie zu den Schiebern, hatte er gesagt.

Denn auch die Amarantin hatten einst die Schieber aufgesucht und dem Schieber-Ozean ihre Neuralstrukturen aufgeprägt. Mit diesen Strukturen ließ sich die Raumzeit um den Schleier stabilisieren; sie ermöglichten es, in die immer dichter werdenden Falten vorzudringen, ohne von den Spannungen zerrissen zu werden. Nachdem Sylveste das Schieber-Transform in sich aufgenommen hatte, konnte er auf den Stürmen in die Tiefen des Schleiers reiten.

Und konnte ihn lebend wieder verlassen.

Aber er war verändert.

Er hatte etwas mitgebracht, ein Etwas, das sich Sonnendieb nannte, aber das war nur ein mythischer Name. Was seither in ihm lebte, war eher eine Kollage; eine künstliche Persönlichkeit, untrennbar mit dem Schleier verwoben, eingepflanzt von Wesen, die Sylveste als Abgesandten benützten und durch ihn Einfluss auf den Raum außerhalb des undurchdringlichen Raumzeitvorhangs zu gewinnen suchten.

Was sie von ihm wollten, war im Rückblick ganz einfach zu erklären.

Er sollte nach Resurgam reisen, wo die Gebeine ihrer leiblichen Vorfahren begraben waren.

Er sollte die Anlage der Unterdrücker finden.

Er sollte sich ihr so weit nähern, dass die Anlage, falls sie noch funktionierte, zum Leben erwachte und ihn als Angehörigen einer neu erstandenen, intelligenten Spezies identifizierte.

Wenn die Unterdrücker noch aktiv waren, hätten sie damit ein neues Opfer für ihren Vernichtungsfeldzug gefunden: die Menschheit.

Wenn nicht, konnten sich die Schleierweber gefahrlos nach draußen wagen.


Das bläuliche Licht, das ihn umgab, wirkte jetzt böse auf ihn; unbeschreiblich böse. Womöglich war er einfach dadurch, dass er diesen Planeten betrat, schon zu weit gegangen; hatte zu viel Intelligenz gezeigt und die Unterdrücker-Anlage überzeugt, dass er einer Spezies angehörte, die ausgerottet werden musste.

Sylveste verabscheute das, wozu die Amarantin geworden waren, und er hasste sich selbst dafür, dass er der Beschäftigung mit ihnen so große Teile seines Lebens geopfert hatte. Aber was konnte er daran jetzt noch ändern? Für solche Bedenken war es viel zu spät.

Der Tunnel war breiter geworden, und er befand sich — immer noch ohne seinen Anzug bewusst steuern zu können — in einem Raum mit vielfach geschliffenen Wänden, der ebenfalls in diesen faulig blauen Schein getaucht war. Überall hingen seltsame Gebilde, die ihn an Rekonstruktionen vom Innern einer menschlichen Zelle erinnerten. Geradlinige Formen herrschten vor, mehrfach ineinander verschlungene Rechtecke, Quadrate und Parallelogramme bildeten Hängeskulpturen, die keiner bekannten ästhetischen Richtung zuzuordnen waren.

»Was ist das?«, flüsterte er.

»Sieh sie als Puzzles«, sagte Sonnendieb. »Sie sollen in einem intelligenten Forschungsreisenden den Drang wecken, sie zu vervollständigen, aus den Formen die geometrischen Konfigurationen zu bilden, die in den Teilen angelegt sind.«

Sylveste verstand, was Sonnendieb meinte. Gleich bei der nächsten Figur ließen sich zum Beispiel die Formen mit wenigen Handgriffen zu einem Tesserakt zusammensetzen… es juckte ihn fast in den Fingern…

»Ich werde es nicht tun«, sagte er.

»Das brauchst du auch nicht.« Zum Beweis ließ Sonnendieb die Gliedmaßen von Sylvestes Anzug nach der Figur greifen. Sie war ihm viel näher, als er zunächst geschätzt hatte. Die Finger fassten das erste Stück und drehten es mühelos in die richtige Stellung. »Es gibt noch andere Tests in anderen Räumen«, sagte das Alien. »Deine geistigen Prozesse und — später — auch deine Biologie werden einer gründlichen Prüfung unterzogen. Die biologische Untersuchung wird vermutlich nicht angenehm sein. Aber sie ist auch nicht tödlich. Das würde andere Vertreter deiner Art abschrecken, aus denen sich ein umfassenderes Bild des Feindes gewinnen ließe.« Das klang fast schon humorvoll; als habe sich das Wesen lange genug in menschlicher Gesellschaft befunden, um etwas von den Verhaltensweisen der Menschen anzunehmen. »Leider bist du der einzige Vertreter der Menschheit, der diese Anlage jemals betreten wird. Aber du wirst ein ausgezeichnetes Versuchsobjekt abgeben, das kann ich dir versichern.«

»Da irrst du dich«, sagte Sylveste.

Eine Spur von Unruhe schlich sich in Sonnendiebs unerbittliche Geiststimme. »Bitte erkläre mir das.«

Sylveste ging nicht sofort auf den Wunsch ein. »Calvin«, sagte er. »Ich muss dir etwas sagen.« Noch während er sprach, war er sich nicht sicher, warum er das tat und an wen er sich eigentlich wandte. »Als wir im weißen Licht waren — als wir in der Hades-Matrix alles miteinander teilten —, da erkannte ich etwas, das ich schon vor Jahren hätte erfahren sollen.«

»Du meinst über dich.«

»Ja, über mich. Ich habe erkannt, was ich bin.« Sylveste hätte am liebsten geweint, er wusste, dass dies seine letzte Chance dazu war, aber seine Augen gestatteten ihm keine Tränen, das hatten sie von Anfang an nicht getan. »Und warum ich dich nicht hassen kann, wenn ich nicht auch mich selbst hassen will. Falls ich tatsächlich jemals Hass auf dich verspürt haben sollte.«

»Es war eigentlich ein Fehlschlag, nicht wahr? Was ich aus dir gemacht habe. Ich hatte dich nicht so geplant. Aber ich muss gestehen, dass ich mit deiner Entwicklung gar nicht unzufrieden bin.« Er verbesserte sich. »Ich meine natürlich mit meiner Entwicklung.«

»Ich bin froh, dass ich es erfahren habe — wenn auch erst so spät.«

»Was willst du jetzt tun?«

»Das weißt du doch schon. Haben wir nicht alles miteinander geteilt?« Sylveste lachte. »Seither kennst du auch meine Geheimnisse.«

»Aha. Du beziehst dich auf ein ganz bestimmtes kleines Geheimnis?«

»Was?«, zischte Sonnendieb. Seine Stimme knisterte wie die Radiogeräusche ferner Quasare.

Sylveste wandte sich wieder an das Alien. »Du hast doch sicher die Gespräche auf dem Schiff mit angehört. Als ich zuließ, dass alle meine Drohung für einen Bluff hielten.«

»Welche Drohung?«, fragte Sonnendieb. »Womit hast du geblufft?«

»Mit dem heißen Staub in meinen Augen«, sagte Sylveste.

Diesmal lachte er noch lauter. Und dann gab er eine Serie von Neuralbefehlen, die er sich schon vor langer Zeit eingeprägt hatte. Sie initiierten einen ganzen Wasserfall von Ereignissen in den Schaltungen seiner Augen und — ganz zuletzt — in den winzigen geschützten Antimaterie-Stäubchen, die darin eingebettet waren.

Ein Licht strahlte auf, reiner noch als in dem Portal, durch das man nach Hades gelangte.

Und dann war da nichts mehr.


Volyova sah es zuerst.

Sie beobachtete unverwandt den gewaltigen Konus der Unendlichkeit, während sie darauf wartete, von ihr erledigt zu werden. Das Schiff war schwarz wie die Nacht, sie konnte es nur sehen, weil es die Sterne verdeckte. Bedächtig wie ein Hai kam es näher. Irgendwo in seinem riesigen Leib grübelten Systeme darüber nach, wie man Volyova auf die interessanteste Weise vom Leben zum Tode befördern könnte. Nur so konnte sie sich erklären, warum es noch nicht zugeschlagen hatte. Schließlich befand sie sich in Reichweite sämtlicher Bordwaffen. Vielleicht hatte Sonnendiebs Anwesenheit dem Schiff einen etwas abartigen Sinn für Humor verliehen, vielleicht spürte es den Wunsch, sie mit sadistischer Langsamkeit zu Tode zu quälen, vielleicht war dieses tödliche Warten die erste Phase des Prozesses. Ihre Phantasie war jetzt ihr ärgster Feind. Sie erinnerte sich in allen Einzelheiten an sämtliche Systeme, die Sonnendiebs Zwecken dienen könnten. Da gab es Defensivwaffen, die imstande waren, sie (mit Lasern, die jede Wunde sofort kauterisierten) stundenlang zu schmoren oder in ihre Einzelteile zu zerlegen, ohne sie sofort zu töten. Man könnte sie auch von einem Trupp externer Servomaten zermalmen lassen. O ja, ihre Phantasie arbeitete grandios. Genau dieser fruchtbaren Erfindungsgabe hatte die Welt schon so viele Todesarten zu verdanken.

In diesem Moment sah sie es.

Auf Cerberus’ Oberfläche entzündete sich ein Funke und erhellte kurz die Stelle mit dem Brückenkopf. Für einen Sekundenbruchteil schien im Innern der Welt ein gewaltiges Licht aufgeflammt und sofort wieder erloschen zu sein.

Vielleicht war es auch eine gewaltige Explosion.

Dann sah sie, wie Gestein und verbrannte Maschinenteile ins All geschleudert wurden.


Khouri musste sich erst damit vertraut machen, dass sie noch immer nicht tot war, obwohl sie das für unvermeidlich gehalten hatte. Zumindest hatte sie erwartet, noch einmal für wenige Augenblicke unter Schmerzen zu erwachen und bei vollem Bewusstsein zu erleben, wie Hades sie in Stücke riss; wie Körper und Seele von den Krallen der Schwerkraft im Umkreis des Neutronensterns grausam zerfetzt wurden. Gerechnet hatte sie außerdem mit den schlimmsten Kopfschmerzen, seit die Mademoiselle die tief vergrabenen Erinnerungen an den Morgenkrieg beschworen hatte. Nur wären die Kopfschmerzen diesmal ausschließlich chemischen Ursprungs gewesen.

Sie hatten den Barschrank im Spinnenraum gefunden.

Und hatten ihn leer getrunken.

Aber ihr Kopf war geradezu erschütternd klar, so sauber wie ein frisch geputztes Fenster. Auch war sie rasch zu Bewusstsein gekommen, ohne jede Benommenheit, als habe sie erst mit dem Öffnen der Augen zu existieren begonnen. Aber sie befand sich nicht im Spinnenraum. Wenn sie genauer darüber nachdachte, konnte sie sich sogar erinnern, einmal aufgewacht zu sein. Die schrecklichen Schwerkraftschwankungen hatten gerade eingesetzt. Sie war mit Pascale in die Mitte des Spinnenraums gekrochen, um vor den Wirbeln zu flüchten. Aber das hatte nichts genutzt, und in diesem Augenblick hatten sie erkannt, dass es kein Überleben gab; allenfalls konnten sie versuchen, den Schmerz zu verringern…

Wo, zum Teufel, war sie nur?

Sie lag mit dem Rücken auf einer harten Fläche, die so unnachgiebig war wie Beton. Über ihr kreisten die Sterne mit wahnwitziger Geschwindigkeit über den Himmel, aber sie waren so verschwommen, als befänden sie sich hinter einer dicken Linse, die sich von Horizont zu Horizont erstreckte. Khouri stellte fest, dass sie sich bewegen konnte, rappelte sich auf und wäre fast hintenüber gefallen.

Sie trug einen Raumanzug.

Im Spinnenraum hatte sie noch keinen getragen. Es war ein Anzug des gleichen Typs, wie sie ihn beim Einsatz auf Resurgam benutzt und wie ihn wohl auch Sylveste mit nach Cerberus genommen hatte. Wie war das möglich? Wenn sie das alles träumte, dann war es ein Traum, wie sie ihn noch nie erlebt hatte, denn sie konnte die Widersprüche hinterfragen, ohne damit das ganze Gebäude zum Einsturz zu bringen.

Sie befand sich auf einer Ebene. Der Boden leuchtete wie flüssiges Metall, das gerade so weit abgekühlt war, dass es nicht mehr in den Augen schmerzte, und war so flach wie ein Strand bei Ebbe. Bei genauerem Hinsehen erkannte sie Strukturen; nicht irgendwelche Muster, sondern systematisch verschlungene Linien wie auf einem Perserteppich. Zwischen den einzelnen Musterbereichen befanden sich andere Muster, bis sich die Ordnung in mikroskopisch kleine Einheiten aufspaltete, ein Prozess, der sich wahrscheinlich bis auf die subatomare und die Quantenebene hinunter fortsetzte. Und alles war in Bewegung, alles verschwamm und wurde wieder scharf, blieb keinen Augenblick lang stabil. Irgendwann wurde Khouri fast übel von dem Anblick, und sie richtete ihre Augen auf den Horizont.

Der schien ganz nahe zu sein.

Sie machte sich auf den Weg. Der flimmernde Boden knirschte unter ihren Schritten. Die Muster veränderten sich, glatte Trittsteine entstanden, auf die sie ihre Füße setzen konnte.

Etwas lag vor ihr, überragte den gewölbten Horizont.

Vor der wilden Sternenszenerie zeichnete sich ein kleiner Hügel ab, ein Sockel. Als sie näher heranging, bemerkte sie eine Bewegung. Der Sockel sah aus wie der Eingang zu einer Untergrundbahn, drei niedrige Mauern umschlossen eine Reihe von Stufen, die nach unten führten, hinein in die Tiefen der Welt.

Was sich bewegte, war eine Gestalt. Eine Frau tauchte aus den Tiefen auf, schleppte sich mit großem Kraftaufwand und viel Geduld die Stufen herauf, als wollte sie zum ersten Mal Morgenluft atmen. Sie trug keinen Raumanzug, sondern war genauso gekleidet wie beim letzten Mal, als Khouri mit ihr zusammen gewesen war.

Die Frau war Pascale Sylveste.

»Ich warte schon so lange«, schallte ihre Stimme durch den schwarzen, luftleeren Raum.

»Pascale?«

»Ja«, bestätigte sie und schränkte sofort ein: »Gewissermaßen jedenfalls. Du meine Güte; das ist nicht so leicht zu erklären — und dabei hatte ich so viel Zeit zum Proben…«

»Was ist geschehen, Pascale?« Khouri wollte nicht fragen, warum sie keinen Raumanzug trug, warum sie nicht tot war, das wäre taktlos gewesen. »Wo sind wir?«

»Hast du es noch nicht erraten?«

»Ich muss dich leider enttäuschen.«

Pascale lächelte. »Du bist auf Hades. Erinnerst du dich? Der Neutronenstern, der uns angezogen hat. Nun, es war keiner. Kein Neutronenstern, meine ich.«

»Wir sind auf Hades?«

»Ganz richtig. Das hättest du wohl nicht erwartet?«

»Nein, das kann man wohl sagen.«

»Ich bin ebenso lange hier wie du«, sagte Pascale. »Das heißt, nur ein paar Stunden. Aber ich habe die Zeit unter der Kruste verbracht und dort geht alles etwas schneller.

Deshalb scheint es mir, als wäre sehr viel mehr Zeit vergangen als nur ein paar Stunden.«

»Wie viel mehr?«

»Ein paar Jahrzehnte vielleicht — obwohl in gewisser Hinsicht die Zeit da unten eigentlich gar nicht vergeht.«

Khouri nickte, als leuchte ihr das vollkommen ein. »Pascale… ich glaube, du musst mir erklären…«

»Gute Idee. Das machen wir auf dem Weg nach unten.«

»Auf dem Weg wohin?«

Pascale deutete auf die Treppe, die unter die kirschrote Ebene führte, und winkte einladend, als bitte sie eine Nachbarin auf einen Cocktail in ihre Wohnung.

»Ins Innere«, sagte Pascale. »In die Matrix.«


Der Tod ließ noch immer auf sich warten.

Im Lauf der nächsten Stunde beobachtete Volyova mit dem Zoom-Overlay ihres Raumanzugs, wie der Brückenkopf in sich zusammensank wie ein Gefäß aus zu weichem Ton und allmählich in der Kruste versickerte. Er hatte den Kampf gegen Cerberus schließlich doch verloren und wurde nun verdaut.

Zu früh; zu früh.

Das Unrecht nagte an ihr. Auch wenn sie selbst dem Tod geweiht sein mochte, sie wollte nicht zusehen müssen, wie eines ihrer Geschöpfe versagte, noch dazu — verdammt — bevor seine Zeit gekommen war.

Irgendwann konnte sie es nicht mehr ertragen. Sie wandte sich dem Schiff zu, das wie ein Dolch auf sie zielte, und breitete die Arme weit aus. Und dann sprach sie, ohne zu wissen, ob das Schiff die akustische Übertragung überhaupt verstehen konnte.

»Nun komm schon. Mach ein Ende. Ich habe genug. Ich will nichts mehr sehen. Bringen wir es hinter uns.«

Im konischen Rumpf des Schiffes öffnete sich eine Luke, ein rötlichgelber Lichtschein fiel aus dem Innern. Volyova erwartete schon ein besonders zerstörerisches Geschütz, an das sie sich nur undeutlich erinnerte; vielleicht hatte sie es in einem Anfall von Kreativität sogar selbst zusammengebastelt.

Stattdessen löste sich ein Shuttle aus der Öffnung und steuerte langsam auf sie zu.


Wenn Pascales Erklärung zutraf, war Hades in Wirklichkeit gar kein Neutronenstern. Vielleicht war es einmal ein solcher gewesen oder wäre dazu geworden — aber dann hatte eine dritte Partei eingegriffen, über die sich Pascale nicht weiter äußern wollte. Im Grunde war es ganz einfach. Der geheimnisvolle Dritte hatte den Neutronenstern zu einem riesengroßen und unglaublich schnellen Computer umgebaut — der obendrein auf unbegreifliche Weise mit seinem früheren und seinem künftigen Ich kommunizieren konnte.

»Was soll ich hier?«, fragte Khouri, als sie die Treppe hinunterstiegen. »Nein, anders gefragt: Was sollen wir hier. Und wieso weißt du plötzlich so viel mehr als ich?«

»Wie gesagt: ich war länger in der Matrix.« Pascale blieb auf einer Stufe stehen. »Hör zu, Khouri, was ich dir jetzt sage, mag dir nicht gefallen. Aber du bist tot — jedenfalls bis auf weiteres.«

Khouri war weniger überrascht als erwartet. Sie hatte fast damit gerechnet.

»Wir sind in den Gravitationswirbeln umgekommen«, sagte Pascale sachlich. »Wir kamen Hades zu nahe und wurden von den Spannungen zerrissen. Es war nicht sehr angenehm — aber du hast kaum eine Erinnerung daran, denn es wurde so gut wie nichts gespeichert.«

»Gespeichert?«

»Nach den Naturgesetzen hätten wir bis auf die Atome zermalmt werden müssen. Und in einer Hinsicht ist das auch geschehen. Aber die Information, die uns definierte, wurde im Gravitonenfluss zwischen unseren Überresten und Hades bewahrt. Die Kraft, die uns tötete, hat uns zugleich aufgezeichnet und die Information an die Kruste weitergegeben…«

»Schön«, sagte Khouri langsam und entschloss sich, dies vorerst als gegeben hinzunehmen. »Und nachdem wir in die Kruste übertragen worden waren?«

»Wurden wir… hm… ins Leben zurück simuliert. Natürlich laufen alle Berechnungen in der Kruste viel schneller ab als in Echtzeit — deshalb habe ich mehrere Jahrzehnte subjektiver Zeit dort verbracht.«

Das klang fast wie eine Entschuldigung.

»Ich kann mich nicht erinnern, irgendwo mehrere Jahrzehnte verbracht zu haben.«

»Das hast du auch nicht. Du wurdest zwar wiederbelebt, wolltest aber nicht hier bleiben. Du hast das alles vergessen, weil du dich nicht daran erinnern wolltest. Es gab nichts, was dich gehalten hätte.«

»Heißt das, für dich hätte es etwas gegeben?«

»O ja«, sagte Pascale staunend. »O ja. Aber dazu kommen wir noch.«

Sie waren jetzt am Fuß der Treppe angelangt und standen vor einem Korridor, der im Schein flackernder Irrlichter erstrahlte. Wenn sie die Wände ansah, waberten dort ähnliche Computermuster wie auf der Oberfläche. Man hatte den Eindruck, als arbeiteten gleich dahinter komplexe Rechenmaschinen auf Hochtouren.

»Was bin ich?«, fragte Khouri. »Was bist du? Du sagst, ich bin tot. Ich fühle mich nicht so. Und ich fühle mich auch nicht wie eine Simulation in irgendeiner Matrix. Ich war draußen auf der Oberfläche, nicht wahr?«

»Du bist aus Fleisch und Blut«, sagte Pascale. »Du warst tot und wurdest wieder zum Leben erweckt. Dein Körper wurde aus den chemischen Elementen rekonstruiert, die in der Außenkruste der Matrix vorhanden waren, dann wurdest du reanimiert und ins Bewusstsein zurückgeholt. Der Anzug, den du trägst — auch er stammt aus der Matrix.«

»Heißt das, jemand in einem Raumanzug kam der Matrix so nahe, dass er von den Gravitationswirbeln getötet wurde?«

»Nein…«, sagte Pascale nachdenklich. »Nein; es gibt noch einen anderen Weg in die Matrix. Einen sehr viel einfacheren Weg — jedenfalls gab es ihn früher einmal.«

»Ich sollte immer noch tot sein. Auf einem Neutronenstern ist kein Leben möglich. In seinem Innern ebenso wenig.«

»Ich sage dir doch, Hades ist kein Neutronenstern.« Und dann erklärte sie, wie es zu alledem gekommen war. Die Matrix selbst schuf mit ungeheuren Mengen entarteter Materie, die in der Kruste zirkulierten, eine Gravitationsblase, in der Khouri überleben konnte. Diese Materie mochte ein Nebenprodukt der Rechenvorgänge sein, aber das war nicht gesichert. Jedenfalls lenkte der Fluss wie eine Streulinse die Schwerkraft von ihr ab, während zugleich ebenso gewaltige Kräfte die Wände stützten und verhinderten, dass sie mit einer Wucht knapp unter Lichtgeschwindigkeit in sich zusammenstürzten.

»Was ist mit dir?«

»Ich bin anders als du«, sagte Pascale. »Mein Körper ist nur ein Körper, ähnlich wie eine Marionette. Er besteht aus der gleichen nuklearen Materie wie die Kruste. Die Neutronen werden von Strange Quarks zusammengehalten, nur deshalb explodiere ich nicht unter meinem eigenen Quantendruck.« Sie fasste sich an die Stirn. »Aber ich denke nicht selbst. Das spielt sich nur um dich herum ab, innerhalb der Matrix. Du musst entschuldigen — ich will dir wirklich nicht zu nahe treten —, aber ich würde mich zu Tode langweilen, wenn ich nur mit dir sprechen müsste, ohne irgendetwas anderes zu tun. Wie gesagt, der Unterschied zwischen unseren Rechengeschwindigkeiten ist enorm. Du nimmst mir die Bemerkung nicht übel, oder? Sie ist nicht persönlich gemeint, das begreifst du hoffentlich.«

»Schon gut«, sagte Khouri. »Mir ginge es sicher genauso.«

Der Gang weitete sich und mündete in ein vollständig eingerichtetes Büro, das Arbeitszimmer eines Wissenschaftlers. Das Mobiliar war in irgendeinem Stil der letzten fünf- bis sechshundert Jahre gehalten. Die vorherrschende Farbe war Braun, Altersbraun: braun waren die Holzregale an den Wänden und die Rücken der antiken Papierbücher, die darin standen, braun war auch der Mahagonischreibtisch, und goldbraun glänzten die uralten wissenschaftlichen Instrumente am Rand der polierten Platte. Wo keine Regale die Wände bedeckten, standen Holzvitrinen mit vergilbten Skeletten; Alien-Skeletten, die man auf den ersten Blick auch für Fossilien von Flugsauriern oder großen, ausgestorbenen Urvögeln halten konnte, falls man nicht zu sehr auf die Größe des Schädels achtete, der einst ein sehr viel größeres Gehirn beherbergt haben musste.

Auch zeitgemäße Gerätschaften waren vorhanden; Scanner, hochmoderne Schneideinstrumente, Ständer mit Eidetika und holografischen Speichertäfelchen. In einer Ecke stand ein neuerer Servomat, untätig und mit leicht gesenktem Kopf, wie ein treuer Diener, der im Stehen ein Nickerchen hielt.

An einer Wand sah man durch mehrere Sprossenfenster auf eine Wüstenlandschaft mit Tafelbergen und bizarren Felsformationen hinaus, durch die der Wind pfiff. Alles lag im rötlichen Schein einer Abendsonne, die bereits im Begriff war, hinter dem bizarren Horizont zu verschwinden.

Am Schreibtisch saß Sylveste. Bei ihrem Eintreten erhob er sich und sah sie an, als hätten sie ihn aus tiefer Konzentration gerissen.

Khouri sah ihm zum ersten Mal persönlich — oder was man hier darunter zu verstehen hatte — in die Augen. Es waren menschliche Augen.

Im ersten Moment schien er verärgert über die Störung, doch dann wurden seine Züge weicher, und ein leichtes Lächeln spielte über sein Gesicht. »Wie schön, dass Sie sich die Zeit für einen Besuch bei uns genommen haben«, sagte er. »Ich hoffe, Pascale hat Ihnen alles erklärt, was Sie wissen wollten.«

»Das meiste.« Khouri ging ein paar Schritte weiter. Die Kopie des Arbeitszimmers beeindruckte durch ihre Präzision. Eine Simulation von dieser Qualität hatte sie noch nie gesehen. Und doch — der Gedanke war ebenso beeindruckend wie beängstigend — bestand jedes einzelne Objekt in diesem Raum aus nuklearer Materie von so hoher Dichte, dass unter normalen Umständen schon der kleinste Briefbeschwerer auf diesem Schreibtisch über den halben Raum hinweg einen tödlichen Schwerkraftsog hätte ausüben müssen. »Aber nicht alles. Wie kommen Sie hierher?«

»Pascale hat sicher erwähnt, dass es noch einen zweiten Zugang zur Matrix gibt.« Er streckte ihr die flachen Hände entgegen. »Diesen Weg habe ich gefunden. Das ist alles. Und ich bin ihn gegangen.«

»Und was wurde aus Ihrem…«

»Meinem wahren Ich?« Das Lächeln hatte jetzt eine gewisse Selbstironie, als amüsiere er sich über einen Witz, der zu subtil war, um ihn mit jemandem zu teilen. »Es dürfte nicht überlebt haben. Aber das kümmert mich wenig, wenn ich ehrlich bin. Mein wahres Ich steht jetzt vor Ihnen. Ein anderes hat es nie gegeben.«

»Was geschah im Innern von Cerberus?«

»Das ist eine sehr lange Geschichte, Khouri.«

Und dann erzählte er, wie er ins Innere der Welt gelangt war, nur um dort erkennen zu müssen, dass Sajakis Anzug leer war; wie diese Feststellung ihn bestärkt hatte, noch weiter vorzudringen, und was er schließlich im letzten Raum erlebt hatte. Wie er in die Matrix eingegangen war — und wie sich seine Erinnerungen von diesem Moment an von denen seines zweiten Ichs getrennt hatten. Doch als er erklärte, dieses zweite Ich sei tot, da klang das so überzeugt, dass Khouri sich fragte, ob er das nicht auch auf einem anderen Weg feststellen konnte. Waren sie nicht vielleicht doch bis zum Ende durch ein unsichtbares Band verbunden gewesen?

Khouri spürte, dass auch Sylveste das Geschehen nicht bis ins Letzte begriff. Er war kein Gott geworden — oder höchstens für jenen kurzen Moment, den er im Portal verbracht hatte. Hatte er sich anschließend dagegen entschieden? Eine gute Frage. Wenn er von der Matrix simuliert wurde und die Rechenkapazität der Matrix theoretisch unbegrenzt war… wie konnte er dann an Grenzen stoßen, für die er sich nicht bewusst entschieden hatte?

Noch etwas erfuhr sie: Carine Lefevre war von einem Teil des Schleiers am Leben erhalten worden und das war kein Zufall gewesen.

»Es gab offenbar zwei Parteien.« Sylveste spielte mit einem der Messingmikroskope auf seinem Schreibtisch. Er drehte den kleinen Spiegel hin und her, als wolle er die letzten Strahlen der untergehenden Sonne einfangen. »Die eine wollte mich einsetzen, um herauszufinden, ob die Unterdrücker noch aktiv waren und für die Schleierweber nach wie vor eine Gefahr darstellten. Der zweiten Partei lag, denke ich, nicht mehr an der Menschheit als der ersten. Aber sie war vorsichtiger. Sie suchte nach einem besseren Verfahren. Sie wollte der Unterdrücker-Anlage nicht einfach einen Köder schicken, um zu sehen, ob sie noch reagierte.«

»Aber was wird jetzt aus uns? Wer hat eigentlich gesiegt? Sonnendieb oder die Mademoiselle?«

»Keiner«, sagte Sylveste und stellte das Mikroskop zurück. Es gab einen dumpfen Ton, als der samtüberzogene Fuß den Schreibtisch berührte. »Das ist jedenfalls der Eindruck, den ich habe. Ich glaube, dass wir — dass ich — kurz davor standen, die Anlage zu aktivieren, ihr den Stimulus zu geben, den sie brauchte, um die anderen Anlagen zu wecken und den Krieg gegen die Menschheit zu beginnen.« Er lachte. »Wobei das Wort Krieg unterstellt, dass es zwei Seiten hätte geben können. Aber daran glaube ich nicht.«

»Und Sie meinen, es wäre nicht so weit gekommen?«

»Ich kann nur hoffen und beten.« Er zuckte die Achseln. »Natürlich könnte ich mich auch irren. Früher sagte ich immer, ich würde mich niemals irren, aber diese Lektion habe ich inzwischen gelernt.«

»Und was ist mit den Amarantin, den Schleierwebern?«

»Das wird man abwarten müssen.«

»Mehr können Sie dazu nicht sagen?«

»Ich habe nicht auf alles eine Antwort, Khouri.« Er sah sich um, musterte die Bände auf den Regalen, als wolle er sich vergewissern, dass sie noch da seien. »Nicht einmal hier.«

»Du musst jetzt gehen«, sagte Pascale. Sie stand plötzlich mit einem Glas mit einer klaren Flüssigkeit — Wodka vielleicht — an der Seite ihres Mannes. Nun stellte sie das Glas neben einen blanken pergamentfarbenen Schädel auf den Schreibtisch.

»Wohin?«

»Ins All zurück, Khouri. Das wolltest du doch? Oder willst du etwa den Rest der Ewigkeit hier verbringen?«

»Was soll ich denn im All?«, fragte Khouri. »Du müsstest doch wissen, dass es keine Zuflucht mehr gibt. Das Schiff war gegen uns; der Spinnenraum ist zerstört; Ilia ist tot…«

»Sie hat es geschafft, Khouri. Sie ist nicht umgekommen, als das Shuttle zerstört wurde.«

Sie hatte also einen Raumanzug gefunden — aber was hatte sie davon? Khouri wollte noch weiter fragen, doch dann wurde ihr klar, dass Pascale ihr wahrscheinlich die Wahrheit gesagt hatte, so unglaublich sie sich auch anhörte — so nutzlos sie auch war und so wenig sie noch ändern konnte.

»Was habt ihr beiden jetzt vor?«

Sylveste griff nach dem Wodkaglas und nahm einen kleinen Schluck. »Haben Sie das noch nicht erraten? Dieser Raum ist nicht nur Ihretwegen hier. Wir bewohnen ihn auch, allerdings in einer simulierten Version in der Matrix. Dort existiert nicht nur dieses Zimmer, sondern auch der Rest der Forschungsstation. Alles ist so, wie es war — nur dass wir es jetzt ganz für uns allein haben.«

»Ist das alles?«

»Nein… nicht ganz.«

Pascale trat an seine Seite, er legte ihr den Arm um die Taille, und beide wandten sich dem Sprossenfenster zu, der blutroten, fremden Abendsonne, der leblosen Wüstenlandschaft von Resurgam.

Dann trat die Veränderung ein.

Es begann am Horizont: eine riesige Transformationswelle raste schnell wie der anbrechende Tag auf sie zu. Am Himmel türmten sich Wolken so groß wie Imperien; der Himmel selbst war blauer geworden, obwohl die Sonne immer noch der Abenddämmerung entgegensank. Und die Landschaft war nicht mehr wüstentrocken, sondern verschwand unter einer Welle von üppig grüner Vegetation. Khouri sah Seen und Bäume, fremdartige Bäume. Straßen wanden sich zwischen eiförmigen Häusern dahin, die Häuser fanden sich zu Dörfern zusammen und am Horizont scharte sich eine größere Gemeinde um einen einzelnen, schlanken Turm. Sie starrte wie gebannt in die Ferne, das gewaltige Schauspiel verschlug ihr die Sprache. Eine ganze Welt erwachte zum Leben und dann — vielleicht war es Illusion, das sollte sie nie erfahren — glaubte sie zwischen den Häusern Gestalten zu sehen, die sich so flink wie Vögel bewegten, aber nie den Boden verließen, sich niemals in die Lüfte schwangen.

»Alles oder fast alles, was sie jemals waren«, sagte Pascale, »ist in der Matrix gespeichert. Das ist keine archäologische Rekonstruktion, Khouri. Das ist Resurgam, und sie bewohnen es jetzt. Eine ganze Welt wurde allein durch die Willenskraft der Überlebenden wieder zum Leben erweckt. Sie ist echt bis ins kleinste Detail.«

Khouri sah sich um, und dann verstand sie. »Und ihr wollt sie studieren?«

»Nicht nur studieren«, sagte Sylveste und nahm noch einen Schluck Wodka. »Sondern darin leben. Bis sie uns langweilt, was — vermutlich — nicht so bald der Fall sein wird.«

Khouri verließ das Arbeitszimmer. Die beiden blieben allein zurück und konnten sich weiter mit den tiefsinnigen, schweren Themen beschäftigen, deren Erörterung sie nur unterbrochen hatten, um sich ihr zu widmen.

Sie stieg die Treppe wieder hinauf und betrat abermals die Hades-Oberfläche. Die Kruste war immer noch rot glühend, immer noch eifrig mit Rechenvorgängen beschäftigt. Khouri war inzwischen lange genug hier, um sich mit ihren Sinnen auf die Umgebung einzustellen. Nun kam ihr zu Bewusstsein, dass die Kruste die ganze Zeit unter ihren Füßen pulsiert hatte wie ein gewaltiger Motor in einem Keller. Wahrscheinlich war das sogar ein treffender Vergleich. Die Kruste war ja nichts anderes als ein Simulationsmotor.

Sie dachte an Sylveste und Pascale, für die jetzt ein neuer Tag für die Erforschung ihrer wunderbaren neuen Welt begann. Seit sie gegangen war, mochten für die beiden Jahre vergangen sein. Doch das zählte kaum. Sie hatte den Verdacht, dass sie erst dann den Tod wählen würden, wenn nichts anderes sie mehr faszinieren konnte. Und das würde, wie Sylveste selbst gesagt hatte, wohl nicht so bald der Fall sein.

Sie schaltete den Anzugkommunikator ein.

»Ilia… kannst du mich hören? Es klingt albern, aber man sagte mir, du wärst vielleicht noch am Leben.«

Nichts als statisches Rauschen. Enttäuscht sah sie sich auf der glühenden Ebene um. Was sollte sie jetzt wohl als Nächstes tun?

Doch plötzlich: »Khouri, bist du das? Wie kommst du dazu, noch immer am Leben zu sein?«

Die Stimme hörte sich unheimlich an. Sie wechselte ständig das Tempo, als wäre Ilia betrunken, doch dafür waren die Veränderungen nun wieder zu regelmäßig.

»Das Gleiche könnte ich dich fragen. Das Letzte, woran ich mich erinnere, war, dass das Shuttle alle viere von sich streckte. Willst du behaupten, du fliegst noch immer da draußen herum?«

»Viel besser«, sagte Volyova. Ihre Stimme kletterte das ganze Spektrum auf und ab. »Ich bin auf einem Shuttle; hörst du das? Ich bin auf einem Shuttle.«

»Wie, zum…«

»Das Schiff hat es geschickt. Die Unendlichkeit.« Volyova war ganz atemlos vor Aufregung; sie hatte es offenbar kaum noch erwarten können, jemandem davon zu erzählen. »Ich dachte, es sollte mich töten. Der letzte Angriff, das Einzige, was mir noch fehlte. Aber er kam nicht. Stattdessen hat mir das Schiff ein Shuttle geschickt.«

»Das begreife ich nicht. Eigentlich müsste Sonnendieb nach wie vor das Steuer in der Hand haben und versuchen, uns zu erledigen…«

»Nein«, sagte Volyova immer noch mit dieser kindlichen Freude in der Stimme. »Nein, es hat schon alles seine Richtigkeit — immer vorausgesetzt, meine Aktion hat funktioniert, aber das muss wohl der Fall gewesen sein…«

»Was hast du getan, Ilia?«

»Ich… äh… ich habe den Captain erwärmt.«

»Du hast was gemacht?«

»Ja; es war eine ziemlich radikale Lösung. Aber ich dachte mir, wenn ein Parasit versucht, das Schiff unter seine Kontrolle zu bekommen, bekämpft man ihn am wirkungsvollsten mit einem noch stärkeren Parasiten.« Volyova hielt inne, als wartete sie darauf, dass Khouri ihr die Logik ihrer Handlungsweise bestätige. Als keine Antwort kam, fuhr sie fort: »Seither ist kaum ein Tag vergangen — weißt du, was das bedeutet? Die Seuche muss in wenigen Stunden große Teile des Schiffes transformiert haben! Sie muss eine unglaubliche Geschwindigkeit vorgelegt haben; Fortschritte von mehreren Zentimetern pro Sekunde!«

»Hattest du dir das auch gut überlegt?«

»Khouri, ich habe wahrscheinlich in meinem ganzen Leben noch nie so unüberlegt gehandelt. Aber es hat offenbar gewirkt! Zumindest haben wir einen Größenwahnsinnigen gegen einen anderen eingetauscht — und dieser andere scheint nicht ganz so versessen darauf zu sein, uns zu vernichten.«

»Schätze, das ist ein Schritt in die richtige Richtung. Wo bist du jetzt? Warst du schon an Bord?«

»Wohl kaum. Nein, ich habe die letzten Stunden damit verbracht, nach dir zu suchen. Wo, zum Teufel, bist du, Khouri? Ich kann dich nicht richtig anpeilen.«

»Ich glaube, das willst du gar nicht wissen.«

»Wir werden ja sehen. Ich möchte dich jedenfalls so bald wie möglich auf diesem Shuttle sehen. Allein kehre ich nicht auf das Lichtschiff zurück, falls du es ganz genau wissen willst. Ich glaube nicht, dass es dort noch so aussieht, wie wir es in Erinnerung haben. Du… äh… kannst doch zu mir kommen?«

»Ich denke schon.«

Man hatte Khouri gesagt, was sie tun sollte, um die Hades-Oberfläche zu verlassen, und das tat sie nun, auch wenn es ihr nicht sehr sinnvoll erschien. Pascale hatte es ihr eindringlich ans Herz gelegt — die Matrix würde die Botschaft verstehen und die Blase mit schwacher Gravitation ins All projizieren. Sie würde wie in einer Flasche in Sicherheit gebracht.

Also breitete sie die Arme weit aus, als hätte sie Flügel; als könne sie fliegen.

Und schon blieb der rote Untergrund — immer noch wabernd vor Aktivität — unter ihr zurück.

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