Cerberus/Hades,
an der Heliopause von Delta Pavonis
2566
Die schwarzen Totenköpfe, Symbol für die Weltraumgeschütze, bewegten sich dem Abschuss entgegen, um ihre schreckliche Zerstörungskraft auf Cerberus loszulassen. Die Welt hatte bisher keine Reaktion gezeigt; nichts wies darauf hin, dass sie anders war, als sie sich darstellte. Die graue Kugel mit den Nahtstellen hing im All wie ein kahler, zum Gebet gesenkter Schädel.
Als es endlich so weit war, meldete sich die Projektionssphäre mit einem leisen Glockenton, der Countdown erreichte die Null und begann den langen Weg nach oben.
Sylveste sprach als Erster. Er wandte sich an Volyova, die sich seit Minuten nicht mehr bewegt hatte. »Müsste nicht etwas geschehen? Oder sind Ihre verdammten Geschütze nicht losgegangen?«
Volyova blickte auf wie in Trance. Sie hatte nur auf das Armband gestarrt.
»Ich habe den Befehl nicht gegeben«, sagte sie so leise, dass man sich anstrengen musste, um die Worte zu hören. »Ich habe die Zündung nicht ausgelöst.«
»Wie bitte?«, fragte Sajaki.
»Sie haben richtig verstanden«, antwortete sie etwas lauter. »Ich habe es nicht getan.«
Wieder bewahrte Sajaki eine Ruhe, die in ihrer Entschlossenheit bedrohlicher wirkte als alle Dramatik. »Noch bleiben uns einige Minuten, um den Angriff nachzuholen«, sagte er. »Nützen Sie die Zeit, bevor nichts mehr zu retten ist.«
»Ich glaube«, sagte Sylveste, »hier ist schon seit längerem nichts mehr zu retten.«
»Das ist eine interne Angelegenheit des Triumvirats«, sagte Hegazi. Seine stählernen Finger lagen blitzend auf den Armlehnen seines Sessels. »Ilia, wenn Sie den Befehl jetzt geben, können wir vielleicht…«
»Ich denke nicht daran«, sagte sie. »Sie können mir Meuterei vorwerfen, wenn Sie wollen, oder auch Verrat; das ist mir egal. Aber ich werde mich an diesem Wahnsinn nicht beteiligen.« Sie sah Sylveste mit unvermuteter Gehässigkeit an. »Sie kennen meine Gründe, also spielen Sie uns nichts vor.«
»Sie hat Recht, Dan.«
Pascale hatte sich eingeschaltet und zog für einen Moment alle Aufmerksamkeit auf sich.
»Du weißt, dass sie die Wahrheit sagt; wir können dieses Risiko einfach nicht eingehen, auch wenn du es dir noch so sehr wünschst.«
»Du hörst also auch auf diese Khouri«, sagte Sylveste. Aber es überraschte ihn kaum, dass seine Frau auf Volyovas Seite übergewechselt war, und er war weniger verbittert als erwartet. Ja, seine Gefühle waren so hoffnungslos durcheinander, dass er sie sogar dafür bewunderte.
»Sie weiß vieles, was wir nicht wissen«, sagte Pascale.
»Was, zum Teufel, hat Khouri mit alledem zu tun?«, fragte Hegazi gereizt und sah zu Sajaki hinüber. »Sie gehört doch nur zum Fußvolk. Muss sie in diesem Gespräch überhaupt vorkommen?«
»Leider ja«, entgegnete Volyova. »Alles, was Sie gehört haben, ist wahr. Jetzt weiterzumachen wäre der schlimmste Fehler, den wir jemals begangen hätten.«
Sajaki schwenkte seinen Sessel von Hegazi weg und auf Volyova zu.
»Wenn Sie den Angriffsbefehl nicht geben wollen, dann übertragen Sie wenigstens mir die Kontrolle über die Geschütze.« Er streckte die Hand aus und bedeutete ihr mit einer Geste, ihm das Armband auszuhändigen.
»Sie tun besser, was er sagt«, mahnte Hegazi. »Sonst könnte es sehr unangenehm für Sie werden.«
»Daran zweifle ich nicht«, sagte Volyova und streifte sich mit einer raschen Bewegung das Armband ab. »Sie können nichts damit anfangen, Sajaki. Die Geschütze gehorchen nur mir und Khouri.«
»Geben Sie mir das Ding.«
»Ich warne Sie. Sie werden es bereuen.«
Trotzdem verweigerte sie es ihm nicht. Sajaki riss es ihr aus der Hand wie einen kostbaren Talisman, betastete es kurz und legte es sich um. Das kleine Display leuchtete wieder auf und füllte sich mit den gleichen Zahlen und Diagrammen, die eben noch an Volyovas Handgelenk geflimmert hatten.
»Hier… Triumvir… Sajaki«, sagte er. Nach jedem Wort fuhr er sich mit der Zunge über die Lippen. Er schwelgte in seiner neu gewonnenen Macht. »Ich weiß nicht genau, wie man in solchen Situationen protokollarisch richtig verfährt, du musst mir also helfen. Als Erstes möchte ich, dass die sechs abgesetzten Weltraumgeschütze anfangen…«
Sajaki brach mitten im Satz ab und schaute auf sein Handgelenk hinab. Tiefe Verwunderung malte sich in seinen Zügen und verwandelte sich Augenblicke später in ebenso tiefes Entsetzen.
»Sie sind doch ein durchtriebenes Stück«, staunte Hegazi. »Ich dachte mir schon, dass Sie noch ein Ass im Ärmel hätten, aber ich hätte nie gedacht, dass Sie das so wörtlich nähmen.«
»Ich bin eben ein prosaischer Mensch«, versetzte Volyova.
Sajakis Gesicht war schmerzverzerrt. Das Armband hatte sich tief in sein Handgelenk eingeschnitten. Die Haut war aufgerissen und die Hand war blutleer und so bleich wie Wachs. Mit der anderen Hand unternahm er den heldenhaften Versuch, sich das Ding abzureißen, aber das war aussichtslos, dafür hatte sie gesorgt. Die Schnalle hatte sich inzwischen fest geschlossen, die Polymerketten des eingebetteten Plastikspeichers zogen sich immer enger zusammen und führten eine langsame, schmerzhafte Quetschamputation durch. Als Sajaki sich das Armband umlegte, hatte es seine DNA mit der ihren verglichen und festgestellt, dass sie nicht identisch waren. Aber mit der Kontraktion hatte es erst begonnen, als er versuchte, ihm einen Befehl zu erteilen. Volyova hielt das für ein Zeichen von Milde ihrerseits.
»Es soll aufhören«, keuchte er. »Sagen Sie ihm, dass es aufhören soll… verdammtes Weibsstück… bitte…«
Nach Volyovas Schätzung hatte er noch zwei Minuten Zeit, ehe die Hand durchtrennt wäre; in zwei Minuten wäre das Knacken seiner brechenden Knochen im ganzen Raum zu hören, falls es nicht von seinen Schmerzensschreien übertönt würde.
»Ihre Manieren lassen zu wünschen übrig«, mahnte sie. »Ist das eine Art und Weise, eine Bitte zu äußern? Man möchte meinen, dass Sie wenigstens in einem solchen Moment etwas höflicher sein könnten.«
»Mach ein Ende«, rief Pascale. »Ich flehe dich an, bitte, was immer geschehen ist, es rechtfertigt nicht, dass…«
Volyova wandte sich achselzuckend an Hegazi. »Warum nehmen Sie es ihm nicht ab, Triumvir, bevor die Sache allzu unappetitlich wird? Sie haben sicher die Mittel dazu.«
Hegazi hob eine seiner eisernen Hände und betrachtete sie, wie um sich zu vergewissern, dass sie nicht mehr aus Fleisch bestanden.
»Los!«, kreischte Sajaki. »Runter damit!«
Hegazi schwenkte seinen Sitz neben den seines Kollegen und machte sich ans Werk. Die Prozedur war für Sajaki noch schmerzhafter als die Quetschung selbst.
Sylveste sagte nichts.
Hegazi löste das Armband ab; als er fertig war, waren seine Metallhände mit Menschenblut befleckt. Die Reste entglitten seinen Fingern und landeten zwanzig Meter tiefer auf dem Boden.
Sajaki hatte nicht zu jammern aufgehört und betrachtete angewidert sein misshandeltes Handgelenk. Es bot einen grässlichen Anblick. Die Hand hing noch fest, aber Knochen und Sehnen lagen frei, und das Blut schoss in dünnen Fontänen heraus und spritzte auf den fernen Boden hinab. Er presste das schmerzende Glied gegen den Unterleib, um den Blutverlust zu stoppen. Dann endlich verstummte er. Nach langem Schweigen hob er sein totenbleiches Gesicht und sah Volyova an.
»Dafür werden Sie mir büßen«, sagte er. »Das schwöre ich.«
In diesem Moment betrat Khouri die Brücke und eröffnete das Feuer.
Einen Plan hatte Khouri natürlich immer gehabt, auch wenn er nicht in allen Einzelheiten durchdacht war. Doch als sie den Raum betrat und die rote Blutkaskade sah, nahm sie nicht erst noch schnell eine ganze Reihe von Änderungen vor, sondern beschloss, so lange auf die Decke zu schießen, bis alle auf sie aufmerksam geworden waren.
Das ging ziemlich schnell.
Sie hatte sich für das Plasmagewehr entschieden, auf schwächster Stufe und mit deaktiviertem Schnellfeuermodus, so dass sie für jeden Impuls den Abzug drücken musste. Der erste Schuss riss einen meterbreiten Krater in die Decke, und scharfkantige, angesengte Plattenteile regneten herab. Um nicht den Schiffsrumpf zu durchlöchern, setzte sie den nächsten Schuss etwas weiter links und den übernächsten etwas weiter rechts. Eins der Trümmer krachte in die leuchtende Projektionssphäre. Das Hologramm flackerte und verformte sich, dann verfestigte es sich wieder. Nachdem sie auf so radikale Weise ihre Anwesenheit kundgetan hatte, schaltete sie die Waffe ab und hängte sie sich wieder über die Schulter. Volyova sah den nächsten Schritt offensichtlich voraus und steuerte ihren Sessel auf Khouri zu. Als sie auf knapp fünf Meter herangekommen war, warf ihr Khouri einen der leichten Nadelprojektoren zu, die sie aus der Waffenkammer mitgenommen hatte. »Und das ist für Pascale«, sagte sie und ließ den Strahler folgen. Volyova fing beide Waffen geschickt auf und reichte die kleinere an Pascale weiter.
Inzwischen hatte sich Khouri einen gewissen Überblick verschafft und festgestellt, dass das Blut — der Regen hatte inzwischen aufgehört — von Sajaki stammte. Er sah elend aus und hielt sich den Arm, als sei er gebrochen oder angeschossen worden.
»Ilia«, sagte Khouri, »ich bin enttäuscht. Du hast schon ohne mich angefangen.«
»Unter dem Druck der Ereignisse«, sagte Volyova.
Khouri versuchte, auf dem Display zu erkennen, was außerhalb des Schiffes geschehen war. »Haben die Geschütze das Feuer eröffnet?«
»Nein; ich habe den Befehl nicht gegeben.«
»Und jetzt kann sie es nicht mehr«, sagte Sylveste. »Hegazi hat soeben ihr Armband zerstört.«
»Heißt das, er steht auf unserer Seite?«
»Nein«, sagte Volyova. »Er kann nur kein Blut sehen. Schon gar nicht, wenn es von Sajaki stammt.«
»Er braucht Hilfe«, sagte Pascale. »Um Himmels willen, du kannst ihn doch nicht einfach verbluten lassen.«
»Nur keine Sorge«, sagte Volyova. »Er ist ein Chimäre wie Hegazi — man sieht es nur nicht so deutlich. Die Nanomaschinen in seinem Blut leiten bereits mit Höchstgeschwindigkeit die Reparatur der Zellen ein. Selbst wenn ihm das Armband die Hand abgeschnitten hätte, wäre ihm bald eine neue gewachsen. Nicht wahr, Sajaki?«
Er sah sie an. Er wirkte so erschöpft, als ginge schon ein neuer Fingernagel über seine Kräfte, von einer Hand ganz zu schweigen. Aber er nickte.
»Trotzdem sollte mich jemand auf die Krankenstation bringen — die Nanomaschinen können nicht zaubern; sie haben ihre Grenzen. Und ich kann Ihnen versichern, dass meine Schmerzrezeptoren quicklebendig sind.«
»Er hat Recht«, sagte Hegazi. »Sie sollten die Fähigkeiten der Nanos nicht überschätzen. Wollen Sie ihn umbringen oder nicht? Entscheiden Sie sich. Ich bringe ihn auf die Krankenstation.«
»Um dabei einen kurzen Abstecher in die Waffenkammer zu machen?« Volyova schüttelte den Kopf. »Nein, vielen herzlichen Dank.«
»Dann lassen Sie mich das übernehmen«, sagte Sylveste. »Mir können Sie so weit trauen, nicht wahr?«
»Ich traue Ihnen nur so weit, wie ich sie pissen könnte, Svinoi«, gab Volyova zurück. »Andererseits, auch wenn Sie die Waffenkammer fänden, könnten Sie nicht damit umgehen. Und Sajaki ist nicht in der Verfassung, um Ihnen hilfreiche Ratschläge zu geben.«
»Ist das ein Ja?«
»Beeilen Sie sich, Dan.« Volyova hob den Nadler, um ihrem Befehl Nachdruck zu verleihen. Der Finger lag auf dem Abzug. »Wenn Sie in zehn Minuten nicht zurück sind, schicke ich Ihnen Khouri hinterher.«
Eine Minute später waren die beiden Männer fort. Sajaki war kaum fähig, ohne Hilfe zu gehen. Sylveste musste ihn stützen. Khouri war nicht sicher, ob er die Krankenstation erreichen würde, bevor er das Bewusstsein verlor, aber das kümmerte sie nicht weiter.
»Übrigens«, sagte sie, »brauchst du dir nicht allzu große Sorgen zu machen, dass sich jemand in der Waffenkammer bedient. Als ich hatte, was ich wollte, habe ich die verdammte Anlage zusammengeschossen.«
Volyova überlegte, dann nickte sie anerkennend.
»Das nenne ich taktische Überlegung, Khouri.«
»Hatte nichts mit Taktik zu tun. Nur mit der Persönlichkeit, die dort das große Wort führte. Ich wollte das miese Stück einfach brennen sehen.«
»Heißt das«, fragte Pascale, »wir haben gesiegt? Ich meine, haben wir erreicht, was wir uns vorgenommen hatten?«
»Ich denke schon«, sagte Khouri. »Sajaki ist aus dem Spiel, unser Freund Hegazi will sich bestimmt keinen Ärger einhandeln, und es sieht nicht danach aus, als würde dein Mann sein Versprechen halten und uns alle in die Luft jagen, wenn er nicht kriegt, was er will.«
»Das enttäuscht mich sehr«, bemerkte Hegazi.
»Genau wie ich sagte.« Pascale nickte. »Er hat nur geblufft. Ist die Sache damit erledigt? Wir können die Geschütze doch immer noch zurückrufen?« Sie sah Volyova an, und die nickte sofort.
»Natürlich.« Sie griff in ihre Jackentasche, holte ein neues Armband heraus und legte es sich ganz selbstverständlich an. »Wer ist schon so unvorsichtig, kein Ersatzgerät bei sich zu haben?«
»Du ganz bestimmt nicht, Ilia«, sagte Khouri.
Volyova hielt sich das Armband an den Mund und wiederholte wie ein Mantra eine Befehlssequenz, mit der sie verschiedene Sicherheitsstufen überspringen konnte. Alles schaute gebannt auf die Sphäre. Volyova sagte: »Alle Weltraumgeschütze kehren zum Schiff zurück; wiederhole: alle Weltraumgeschütze kehren zum Schiff zurück.«
Aber nichts geschah. Sekunden vergingen, die Zeit, bis der Befehl bei Lichtgeschwindigkeit eintraf, war abgelaufen. Aber die Geschütze reagierten nicht. Nur die schwarzen Totenköpfe auf dem Display wurden rot und begannen in bedrohlicher Regelmäßigkeit zu blinken.
»Ilia«, fragte Khouri. »Was hat das zu bedeuten?«
»Sie machen sich scharf und bereiten die Zündung vor«, sagte Volyova ruhig. Sie schien kaum überrascht. »Gleich wird etwas Schreckliches passieren.«