Sieben

Unterwegs nach Delta Pavonis

2546


Volyova war sich immer bewusst, dass sie sich an Bord eines Schiffes befand. (Dafür sorgten die leichten Unregelmäßigkeiten bei der Induktion der Schwerkraft, die bedingt waren durch winzige Schwankungen im Schubstrom, welche wiederum durch mysteriöse Quanten-Kapriolen in den Tiefen der Synthetiker-Triebwerke ausgelöst wurden.) So war es auch jetzt, als sie auf die abgeschiedene Lichtung trat und an der rustikalen Treppe, die zum Rasenplatz hinunter führte, zögernd stehen blieb. Sajaki blieb stumm und reglos neben dem knorrigen Baumstumpf, ihrem inoffiziellen Treffpunkt, auf den Knien liegen. Wenn er sie bemerkt hatte, so zeigte er das nicht. Aber er musste ihr Kommen gespürt haben. Volyova wusste, dass Sajaki zusammen mit Captain Brannigan, als der noch in der Lage war, das Schiff zu verlassen, den Musterschiebern auf der Wasserwelt Wintersea einen Besuch abgestattet hatte. Sie wusste zwar nicht, wozu die beiden die Reise unternommen hatten, aber es gab Gerüchte, wonach die Schieber Sajakis Neokortex verändert und ihm Neuralstrukturen aufgeprägt hatten, die sein räumliches Vorstellungsvermögen so außergewöhnlich intensivierten, dass es jetzt vier oder gar fünf Dimensionen umfasste. Es war ein sehr seltenes Schieber-Transform: es blieb nämlich auf Dauer erhalten.

Volyova schlenderte die Treppe hinunter und trat so fest auf die letzte Stufe, dass sie knarrte. Sajaki wandte sich um, zeigte sich aber nicht überrascht.

»Was ist los?«, fragte er, als er ihren Gesichtsausdruck bemerkte.

»Es geht um den Stavlennik«, sagte sie, kurz ins Russische zurückfallend. »Unseren Schützling, meine ich.«

»Erzählen Sie«, sagte Sajaki zerstreut. Er trug einen aschgrauen Kimono, der vom Knien im feuchten Gras olivgrüne Flecken hatte. Seine Shakuhachi lag auf der spiegelblank polierten Oberfläche des Baumstumpfs. Sajaki und Volyova waren die letzten beiden Besatzungsmitglieder, die zwei Monate nach dem Abflug von Yellowstone noch nicht im Kälteschlaf lagen.

»Sie gehört jetzt zu uns«, sagte Volyova und kniete vor ihm nieder. »Ihre Einweisung ist im Wesentlichen abgeschlossen.«

»Das ist erfreulich.«

Jenseits der Lichtung kreischte ein Papagei und flog, ein zappelnder, grell bunter Farbfleck, von seinem Ast auf. »Wir können sie Captain Brannigan vorstellen.«

»Je früher, desto besser«, sagte Sajaki und strich eine Falte seines Kimonos glatt. »Oder haben Sie Bedenken?«

»Wegen des Treffens mit dem Captain?« Sie schnalzte nervös mit der Zunge. »Nicht die geringsten.«

»Dann liegt es tiefer.«

»Was?«

»Was immer Sie belastet, Ilia. Los! Heraus mit der Sprache!«

»Es geht um Khouri. Ich wage es nicht mehr, sie den gleichen psychischen Belastungen auszusetzen, wie Nagorny sie erleiden musste.« Sie hielt inne und wartete — hoffte — auf irgendeine Reaktion von Sajaki. Aber nur das Rauschen des Wasserfalls war zu hören. Das Gesicht ihres Mit-Triumvirs blieb völlig ausdruckslos. »Das heißt«, fuhr sie fort — jetzt war sie so unsicher, dass sie fast stotterte —, »ich bin nicht mehr sicher, dass sie die geeignete Person für diese Phase ist.«

»Für diese Phase?« Sajaki sprach so leise, dass sie ihm die Worte von den Lippen ablesen musste.

»Ich meine, sie sollte nicht unmittelbar nach Nagorny an den Feuerleitstand angeschlossen werden. Es ist gefährlich, und Khouri ist zu wertvoll, ich will sie nicht verlieren.« Sie hielt inne, schluckte und holte tief Luft. Jetzt kam der schwierigste Teil. »Ich finde, wir brauchen einen neuen — einen weniger brillanten Kandidaten. Mit einem mittelmäßigen Waffenoffizier könnte ich die letzten Unebenheiten ausbügeln, um dann Khouri an die erste Stelle zu setzen.«

Sajaki hob seine Shakuhachi auf und spähte nachdenklich daran entlang. Am Ende des Bambusrohrs stand ein Splitter in die Höhe, vielleicht noch von damals, als er Khouri niedergeschlagen hatte. Er drückte ihn mit dem Daumen nieder.

Als er endlich sprach, zeigte er eine eisige Ruhe, die schlimmer war als jeder Wutausbruch.

»Sie schlagen also vor, noch ein weiteres Besatzungsmitglied anzuwerben?«

Aus seinem Munde klang es wie die absurdeste, irrwitzigste Idee, die er jemals gehört hatte.

»Nur als Zwischenlösung«, sagte sie. Sie merkte selbst, dass sie zu schnell sprach, und ärgerte sich, dass Sajaki sie so leicht einschüchtern konnte. »Nur bis alles wieder stabil ist. Danach können wir Khouri einsetzen.«

Sajaki nickte. »Das klingt nicht unvernünftig. Weiß der Himmel, warum uns die Idee nicht früher gekommen ist, vermutlich hatten wir andere Sorgen.« Er legte die Shakuhachi ab, behielt jedoch die Hand in der Nähe des hohlen Schafts. »Aber das ist nicht mehr zu ändern. Wir müssen uns also einen neuen Kandidaten suchen. Das kann ja wohl nicht allzu schwierig sein, oder? Ich meine, bei der Suche nach Khouri haben wir uns nun wirklich nicht überanstrengt. Zugegeben, wir sind zwei Monate von Yellowstone entfernt im interstellaren Raum, und unser nächstes Ziel ist ein praktisch unbekannter Außenposten — trotzdem, einen Bewerber zu finden stellt sicher kein Problem dar. Wahrscheinlich müssen wir sie scharenweise abwehren.«

»Seien Sie doch vernünftig.«

»Wann wäre ich jemals unvernünftig gewesen, Triumvir?«

Eben hatte sie noch Angst gehabt, jetzt war sie wütend. »Sie haben sich verändert, Yuuji-san. Seit…«

»Seit wann?«

»Seit Sie mit dem Captain die Schieber besucht haben. Was ist dort geschehen, Yuuji? Was haben die Aliens mit Ihrem Gehirn angestellt?«

Er sah sie so verwundert an, als habe sie eine durchaus berechtigte Frage gestellt, auf die er selbst noch gar nicht gekommen war. Doch das war eine List, die Volyova zum Verhängnis wurde. Die Shakuhachi kam so schnell, dass sie nur einen braunen Blitz sah. Der Schlag traf sie in die Rippen. Er fiel relativ gnädig aus — Sajaki musste sich im letzten Moment zurückgehalten haben —, aber er schleuderte sie doch ins Gras. Im ersten Moment waren die kalten, nassen Halme, die sie in die Nase kitzelten, stärker als der Schmerz und auch als der Schock darüber, dass Sajaki sie angegriffen hatte.

Sajaki kam gemächlich um den Baumstumpf herum.

»Sie fragen immer zu viel«, sagte er und zog unter seinem Kimono etwas hervor, das aussah wie eine Spritze.


Isthmus von Nekhebet,

Resurgam

2566


Sylveste griff in seine Tasche und tastete nervös nach dem Fläschchen. Er war überzeugt, dass es nicht da war.

Doch dann spürte er es — ein kleines Wunder.

Unten strömten die Würdenträger in die Amarantin-Stadt und näherten sich langsam dem Tempel im Zentrum. Gesprächsfetzen drangen zu ihm herauf, klar verständlich, aber immer zu kurz, so dass er nur ein paar Worte mitbekam. Er befand sich mehrere hundert Meter höher auf einer von den Menschen gebauten Galerie an der schwarzen Mauer, die die ganze Stadt umgab wie eine Eierschale.

Heute war sein Hochzeitstag.

Er hatte den Tempel oft in Simulationen gesehen, ihn aber schon so lange nicht mehr persönlich besucht, dass er vergessen hatte, wie sehr einen seine Größe überwältigen konnte. Das war eine Schwäche von Simulationen, die immer noch nicht beseitigt war: sie mochten noch so präzise sein, der Betrachter vergaß nie, dass sie nicht wirklich waren. Sylveste hatte unter dem Dach des Amarantin-Tempels gestanden und Hunderte von Metern hinaufgeblickt zum Schnittpunkt der verwinkelten Steinbögen, ohne den leisesten Schwindel zu empfinden oder Angst zu haben, das uralte Bauwerk könne genau in dem Moment über ihm zusammenbrechen. Doch jetzt — bei diesem zweiten persönlichen Besuch in der vergrabenen Stadt — fühlte er sich schier erdrückt. Schon die eiförmige Schale war durch ihre Ausmaße unheimlich, aber sie war zumindest als Produkt einer ausgereiften Technik erkennbar — auch wenn die Fluter das nicht wahrhaben wollten. Dagegen mutete die Stadt in ihrem Innern nicht zuletzt wegen der geflügelten Sagengestalt auf der Turmspitze eher wie der Fieberwahn eines überspannten Dichters aus dem fünfzehnten Jahrhundert an. Und das Ganze schien — je länger er es betrachtete — nur den einzigen Zweck zu haben, die Rückkehr der Verbannten zu feiern.

Es ergab keinen Sinn. Aber es lenkte ihn wenigstens von der bevorstehenden Zeremonie ab.

Je länger er hinsah, desto sicherer war er, dass sein erster Eindruck falsch gewesen war. Die geflügelte Gestalt war doch ein Amarantin oder, genauer gesagt, eine Mischung aus Amarantin und Engel, geschaffen von einem Künstler mit fundierten Vorstellungen davon, was es aus anatomischer Sicht bedeutete, Flügel zu haben. Ohne die Zoomfunktion seiner Augen hatte die Statue eine geradezu schockierende Kreuzform. Schaltete er die Vergrößerung ein, so wurde aus dem Kreuz ein Amarantin, der mit prachtvollen, weit ausgebreiteten Schwingen auf der Turmspitze thronte. Die Schwingen waren aus verschiedenfarbigen Metallen zusammengesetzt und jedes Federchen schillerte in einem etwas anderen Farbton. Wie bei menschlichen Engelsabbildungen waren die Flügel nicht einfach Ersatz für die Arme des Wesens, sondern ein selbständiges, drittes Gliedmaßenpaar.

Doch die Statue wirkte realistischer als alle Engel menschlicher Künstler, die Sylveste jemals gesehen hatte. Sie wirkte — so absurd das auch scheinen mochte — anatomisch korrekt. Der Bildhauer hatte der amarantinischen Grundform nicht einfach Schwingen aufgepfropft, sondern den elementaren Körperbau dezent verändert. Die zum Greifen eingerichteten Vordergliedmaßen waren am Rumpf etwas tiefer angesetzt und zum Ausgleich dafür verlängert worden. Der Brustkorb war viel mächtiger als normal und wurde im Schulterbereich von einer massiven Jochkonstruktion aus Knochen und Muskeln dominiert. Aus diesem Joch wuchsen die Schwingen heraus. Sie bildeten ein drachenähnliches Dreieck. Der Hals war länger als normal und der Kopf wirkte im Profil noch stromlinienförmiger und vogelartiger. Die Augen waren noch nach vorne gerichtet — wodurch das beidäugige Sehen wie bei allen Amarantin eingeschränkt wurde —, aber sie saßen in tiefen, gerippten Knochenhöhlen. Die Nüstern an der oberen Schnabelhälfte waren gebläht und von Rillen durchzogen, wie um es dem Wesen leichter zu machen, die für den Flügelschlag erforderliche Luft in die Lungen zu saugen. Und doch stimmte nicht alles. Immer vorausgesetzt, die Körpermasse des Wesens entspräche in etwa der eines durchschnittlichen Amarantin, dann wären selbst diese Schwingen zum Fliegen jämmerlich ungeeignet. Waren sie also nur ein primitiver Schmuck? Hatten sich die Verbannten zuerst radikal der Biotechnik verschrieben, um sich dann mit diesen lächerlich unpraktischen Flügeln zu belasten?

Oder hatten sie noch einen anderen Zweck?

»Bedenken?«

Die Frage riss Sylveste unversehens aus seinen Gedanken.

»Du hältst die Hochzeit noch immer nicht für eine gute Idee?«

Sylveste wandte sich der Rückseite der Galerie zu.

»Leider komme ich mit meinen Einwänden wohl etwas zu spät.«

»An deinem Hochzeitstag?«, erwiderte Girardieu lächelnd. »Nun, noch ist dein Schicksal nicht besiegelt, Dan. Noch kannst du zurück.«

»Wie würdest du das aufnehmen?«

»Nicht gerade mit Begeisterung, fürchte ich.«

Girardieu hatte sich in Schale geworfen. Er trug einen gestärkten Stadtanzug und hatte für die Kameradrohnen, die ihn umschwirrten, ein wenig Rouge aufgelegt. Nun nahm er Sylveste am Arm und zog ihn von der Balustrade weg.

»Wie lange sind wir nun schon Freunde, Dan?«

»Ich würde nicht gerade von Freundschaft reden; eher von einer Symbiose zweier Parasiten.«

»Nun komm schon«, mahnte Girardieu enttäuscht. »Habe ich dir das Leben in den letzten zwanzig Jahren mehr erschwert als unbedingt nötig? Glaubst du, es hätte mir Spaß gemacht, dich einzusperren?«

»Sagen wir, du hast dabei einen beachtlichen Eifer an den Tag gelegt.«

»Ich habe nur in deinem Interesse gehandelt.« Sie verließen die Galerie durch einen der niedrigen Tunnel, die sich durch die schwarze Schale um die Stadt zogen. Der weiche Boden schluckte das Geräusch ihrer Schritte. »Außerdem«, fuhr Girardieu fort, »war die Meute damals im Fressrausch, Dan, auch wenn das vielleicht nicht auf den ersten Blick zu erkennen war. Hätte ich dich nicht in Gewahrsam genommen, dann hätte früher oder später irgendeine Gruppe ihre Wut an dir ausgelassen.«

Sylveste hörte schweigend zu. Was Girardieu sagte, entsprach theoretisch in großen Teilen der Wahrheit, aber das hieß noch lange nicht, dass er auch seine Motive zu jener Zeit wahrheitsgetreu schilderte.

»Die politische Situation war damals sehr viel einfacher. Es gab zum einen den Ärger mit dem Wahren Weg noch nicht.« Sie hatten einen Fahrstuhl erreicht und stiegen ein. Die Kabine war nagelneu und von geradezu steriler Sauberkeit. An der Wand hingen Drucke, verschiedene Ansichten von Resurgam vor und nach den Eingriffen durch die Fluter. Ein Bild zeigte sogar Mantell. Die Mesa, der Tafelberg, in dem die Forschungsstation untergebracht war, verschwand hier unter dichtem Laubwerk, von oben stürzte ein Wasserfall herab, darüber spannte sich ein blauer Himmel mit vereinzelten Wolken. In Cuvier beschäftigte sich ein ganzer Industriezweig von Aquarellisten bis hin zu spezialisierten Sensorium-Designern mit der Entwicklung von Bildern und Simulationen des künftigen Resurgam.

»Und zum zweiten«, sagte Girardieu, »kriechen im Moment radikale Naturwissenschaftler aus allen Löchern. Erst letzte Woche wurde ein Vertreter des Wahren Weges in Mantell erschossen, und zwar nicht von einem unserer Agenten, das kann ich dir versichern.«

Der Fahrstuhl setzte sich in Bewegung, um sie in die Stadt hinunter zu bringen.

»Was willst du damit sagen?«

»Dass wir neben den Fanatikern auf beiden Seiten allmählich wie Gemäßigte aussehen. Deprimierende Vorstellung, nicht wahr?«

»Du meinst, die Radikalen hätten uns an allen Fronten überholt?«

»So könnte man sagen.«

Als sie die schwarze, mit Schriftzeichen bedeckte Stadtmauer verließen, platzten sie mitten in eine Gruppe von Medienvertretern, die letzte Vorbereitungen für das große Ereignis trafen. Die Reporter hatten bräunliche Kamerabrillen aufgesetzt und programmierten ihre Drohnen, die ringsum in der Luft hingen wie graubraune Luftballons.

Einer von Janequins gentechnisch entwickelten Pfauen lief pickend um die Gruppe herum und zog raschelnd seinen Schweif hinter sich her. Zwei schwarz uniformierte Sicherheitsbeamte mit goldenen Fluter-Abzeichen auf den Schulterklappen traten vor. Scharen von entoptischen Figuren umschwebten sie mit drohenden Mienen. Dahinter warteten Servomaten. Sylveste und Girardieu wurden einer gründlichen Identitätskontrolle unterzogen, dann winkte man sie zu einer kleinen Hütte, die gleich neben einigen nestartig zusammengeklebten Amarantin-Behausungen aufgestellt worden war.

Die Hütte war leer bis auf einen Tisch und zwei einfache Stühle. Auf dem Tisch standen eine Flasche Amerikano-Rotwein und zwei Weingläser mit eingravierten Landschaftsszenen.

»Setz dich«, sagte Girardieu gönnerhaft. Er ging breitbeinig um den Tisch herum und goss in jedes Glas einen Schluck Wein. »Warum bist du eigentlich so verdammt nervös? Es ist doch nicht deine erste Hochzeit.«

»Eigentlich schon die vierte.«

»Jedes Mal nach Stoner-Ritus?«

Sylveste nickte. Er dachte an seine ersten beiden Hochzeiten: Feiern in kleinem Rahmen, Frauen aus den unteren Schichten, deren Gesichter er im Rückblick kaum noch auseinanderhalten konnte. Beide waren förmlich verwelkt im grellen Scheinwerferlicht, das ständig auf seine berühmte Familie gerichtet war. Dagegen war die Hochzeit mit Alicia — seiner letzten Frau — von Anfang an als Medienereignis konzipiert worden. Man hatte sie benutzt, um die Aufmerksamkeit auf die bevorstehende Resurgam-Expedition zu lenken und dem Unternehmen eine letzte, dringend benötigte Finanzspritze zu verschaffen. Dass sie sich geliebt hatten, war dabei fast nebensächlich gewesen, ein erfreulicher Nachtrag zu einer längst getroffenen Vereinbarung.

»Du schleppst inzwischen jede Menge Erinnerungen mit dir herum«, bemerkte Girardieu. »Wünschst du dir nicht jedes Mal wieder, die Vergangenheit abschütteln zu können?«

»Du findest die Zeremonie ungewöhnlich.«

»Mag sein.« Girardieu wischte sich den Rotwein von den Lippen. »Ich war in der Stoner-Kultur nie richtig verwurzelt.«

»Du bist mit uns von Yellowstone gekommen.«

»Schon, aber ich wurde nicht dort geboren. Meine Familie stammt von Grand Teton. Ich kam erst sieben Jahre vor dem Aufbruch der Resurgam-Expedition nach Yellowstone. Das reichte nicht aus, um die Stoner-Kultur wirklich zu verinnerlichen. Meine Tochter dagegen… Pascale hat nie etwas anderes als die Stoner-Gesellschaft kennen gelernt. Zumindest in der Form, wie wir sie mitgebracht haben.« Er senkte die Stimme. »Du hast das Fläschchen doch sicher bei dir. Kann ich es sehen?«

»Den Wunsch kann ich dir kaum abschlagen.«

Sylveste griff in die Tasche, holte den kleinen Glaszylinder heraus, den er schon den ganzen Tag mit sich herumtrug, und reichte ihn Girardieu. Der befingerte ihn nervös, schwenkte ihn hin und her und beobachtete die Blasen, die darin herumschwammen wie in einem alkoholischen Getränk. In der Mitte schwebte ein dunkles, fasriges Gebilde mit langen Fäden.

Endlich stellte Girardieu das Fläschchen mit leisem Klirren auf die Tischplatte und betrachtete es mit kaum verhohlenem Abscheu.

»Hat es wehgetan?«

»Natürlich nicht. Wir sind schließlich keine Sadisten.« Sylveste lächelte voller Schadenfreude über Girardieus Unbehagen. »Wäre es dir vielleicht lieber, wie würden Kamele austauschen?«

»Steck es wieder ein.«

Sylveste ließ das Fläschchen in seiner Tasche verschwinden. »Wer ist hier nervös, Nils?«

Girardieu goss sich noch einen Schluck Wein ein. »Entschuldige. Die Sicherheitsleute stehen unter Strom. Ich weiß nicht, was sie so verrückt macht, aber es färbt vermutlich auf mich ab.«

»Mir ist nichts aufgefallen.«

»Natürlich nicht.« Girardieu zuckte die Achseln, eine Bewegung wie bei einem Blasebalg, die irgendwo unterhalb des Bauchs begann. »Angeblich ist alles normal, aber nach zwanzig Jahren kenne ich die Leute doch besser, als sie glauben.«

»An deiner Stelle würde ich mir keine Sorgen machen. Deine Polizei ist sehr tüchtig.«

Girardieu schüttelte kurz den Kopf, als habe er in eine saure Zitrone gebissen. »Ich erwarte nicht, dass wir jemals alles ausräumen können, was zwischen uns steht, Dan. Aber du solltest mir nicht von vornherein nur das Schlechteste unterstellen.« Er deutete mit einem Nicken zur offenen Tür hin. »Habe ich dir nicht uneingeschränkten Zutritt zu diesem Ort verschafft?«

Mit dem Erfolg, dass ein Dutzend Fragen gelöst und tausend neue aufgeworfen wurden. »Nils…«, begann Sylveste. »Wie steht es eigentlich um die finanzielle Situation der Kolonie?«

»Wie meinst du das?«

»Ich weiß, dass sich vieles geändert hat, seit Remilliod vorbeigekommen ist. Projekte, die zu meiner Zeit undenkbar gewesen wären… könnte man jetzt angehen, wenn der politische Wille vorhanden wäre.«

»Was für Projekte?«, fragte Girardieu vorsichtig.

Wieder griff Sylveste in seine Jackentasche, doch diesmal holte er nicht das Fläschchen, sondern ein Blatt Papier heraus und breitete es vor Girardieu aus. Es zeigte ein Muster aus vielen Kreisen. »Erkennst du die Zeichnungen? Wir haben sie auf dem Obelisken und überall in der Stadt gefunden. Es sind Karten des Sonnensystems, angefertigt von den Amarantin.«

»Seit ich diese Stadt gesehen habe, fällt es mir seltsamerweise sehr viel leichter, dir zu glauben.«

»Gut, dann hör zu.« Sylveste zeichnete mit dem Finger den größten Kreis nach. »Das ist der Orbit des Neutronensterns Hades.«

»Hades?«

»Der Name wurde bei der ersten Erkundung des Systems vergeben. Hades wird seinerseits von einem Felsbrocken umkreist, der etwa die Größe eines Planetenmondes hat. Den hat man Cerberus genannt.« Nun strich er über eine Gruppe von Schriftzeichen neben dem Neutronenstern und seinem Planeten. »Dieses Doppelsystem hatte für die Amarantin eine besondere Bedeutung. Und ich glaube, dass es in irgendeinem Zusammenhang zum Ereignis steht.«

Girardieu schlug mit theatralischer Geste die Hände vors Gesicht, ließ sie wieder sinken und sah Sylveste an. »Du meinst das wirklich ernst, nicht wahr?«

»So ist es.« Ohne Girardieu aus den Augen zu lassen, faltete er das Blatt ordentlich zusammen und steckte es in die Tasche zurück. »Wir müssen dieses System erforschen, und wir müssen herausfinden, wodurch die Amarantin umkamen. Damit uns nicht das Gleiche passiert.«


Sajaki und Volyova kamen in Khouris Kabine und empfahlen ihr, sich warm anzuziehen. Khouri bemerkte, dass alle beide ungewöhnlich dicke Kleidung trugen — Volyova eine Fliegerjacke mit Reißverschluss, Sajaki ein aus diamantförmigen Flicken mosaikartig zusammengesetztes Thermojackett mit Stehkragen.

»Ich habe die Probe nicht bestanden, wie?«, fragte Khouri. »Und jetzt kommt der Sprung aus der Schleuse. Meine Werte in den Kampfsimulationen sind zu niedrig. Deshalb schmeißen Sie mich raus.«

»Dummes Zeug«, sagte Sajaki. Über dem Pelzkragen waren nur seine Stirn und seine Nase zu sehen. »Wenn wir Sie töten wollten, würde es uns wohl kaum noch kümmern, ob Sie sich erkälten.«

»Außerdem«, sagte Volyova, »ist Ihre Einweisung seit Wochen abgeschlossen. Sie sind eine von uns. Sie jetzt noch zu töten wäre Verrat an uns selbst.« Ihr Mützenschild war so weit heruntergezogen, dass nur Mund und Kinn zu sehen waren. Sie und Sajaki ergänzten sich aufs Schönste. Die beiden Hälften ergaben ein perfektes Pokergesicht.

»Gut zu wissen, dass Ihnen so viel an mir liegt.«

Khouri war noch nicht überzeugt — die Möglichkeit, dass die beiden eine Gemeinheit planten, stand immer noch drohend im Raum — aber sie wühlte in ihren Habseligkeiten, bis sie eine Thermojacke fand. Sie war vom Schiff hergestellt und hatte den gleichen Schnitt wie Sajakis bunter Rock, nur reichte sie ihr fast bis an die Knie.

Ein Fahrstuhl brachte sie in bisher unerforschte Regionen des Schiffes — zumindest weit weg von allem, was für Khouri bekanntes Territorium war. Mehrmals mussten sie zu Fuß Verbindungstunnel durchqueren, um die Fahrstühle zu wechseln. Volyova sagte, das sei nötig, weil große Teile des Transitsystems durch Virusschäden ausgefallen seien. Die Ausgestaltung und der technische Stand dieser Durchgangsbereiche war jedes Mal ein klein wenig anders, für Khouri ein Hinweis, dass ganze Schiffszonen seit Jahrhunderten brach lagen. Ihre Nervosität legte sich nicht, aber sie entnahm Sajakis und Volyovas Verhalten, dass ihr eher ein Initiationsritual als eine eiskalte Hinrichtung bevorstand. Die beiden wirkten wie zwei Kinder, die eine gefährliche Dummheit begehen wollten. Zumindest Volyova wirkte so. Sajaki gab sich autoritärer, wie ein Funktionär bei der Ausübung einer unerfreulichen Amtspflicht.

»Da Sie nun zu uns gehören«, sagte er, »ist es höchste Zeit, Ihnen etwas mehr über die Verhältnisse an Bord zu erzählen. Vielleicht möchten Sie auch gerne erfahren, aus welchem Grund wir nach Resurgam fliegen wollen.«

»Ich dachte, um Handel zu treiben.«

»Das war unser Vorwand, aber ich will gerne zugeben, dass der nie sehr überzeugend war. Resurgams Wirtschaft ist kaum der Rede wert — die Kolonie wurde nur zu Forschungszwecken gegründet. Man hat dort sicher nicht die Mittel, um uns viel abzukaufen. Natürlich sind unsere Informationen zwangsläufig veraltet, und wenn wir dort sind, werden wir so viele Geschäfte abwickeln wie nur möglich, aber das allein wäre kein Grund für die Reise gewesen.«

»Was dann?«

Der Fahrstuhl bremste ab. »Haben Sie den Namen Sylveste schon einmal gehört?«, fragte Sajaki.

Khouri bemühte sich, so zu tun, als sei das eine ganz normale Frage, obwohl der Name in ihrem Schädel wie eine Magnesiumfackel zündete.

»Aber gewiss doch. Jedermann auf Yellowstone kannte Sylveste. Der Mann war praktisch ein Gott. Vielleicht auch der Teufel.« Sie hielt inne. Hoffentlich erregte sie keinen Verdacht. »Aber warten Sie; von welchem Sylveste reden wir überhaupt? Vom älteren, der diese Unsterblichkeitsversuche verpfuscht hat? Oder von seinem Sohn?«

»Theoretisch«, sagte Sajaki, »von beiden.«

Der Fahrstuhl kam dröhnend zum Stehen. Als die Türen aufgingen, schlug ihnen die Luft wie ein nasses, kaltes Tuch ins Gesicht. Khouri war froh um ihre warme Jacke, obwohl sie trotzdem gleich darauf jämmerlich fror. »Nicht alle Sylvestes waren nämlich Dreckskerle«, fuhr sie fort. »Lorean, der Vater des Alten, blieb auch nach seinem Tod ein Volksheld, sogar nachdem der Alte — wie hieß er doch noch?«

»Calvin.«

»Richtig. Sogar nachdem der Alte so viele Menschen umgebracht hatte. Dann kam Calvins Sohn — der hieß wohl Dan — und versuchte auf seine Art mit der Schleierweber-Geschichte Wiedergutmachung zu leisten.« Khouri zuckte die Achseln. »Ich war damals natürlich nicht dort. Ich weiß nur, was mir die Leute erzählt haben.«

Sajaki führte sie durch düstere, grau-grün beleuchtete Korridore. Riesige, vielleicht mutierte Pförtnerratten flohen vor ihren Schritten. Die Gänge sahen aus wie die Luftröhre eines Cholerakranken — die Wände trugen einen dicken Panzer aus klebrigem, schmutzigem Eis, alles war geädert mit Rohren und Stromleitungen und bedeckt von einer Substanz, die so ekelerregend war wie menschlicher Auswurf. Schiffsschleim nannte Volyova die Masse — ein organisches Sekret, entstanden durch Störungen in biologischen Wiederaufbereitungssystemen in einem der angrenzenden Decks.

Am schlimmsten fand Khouri jedoch die Kälte.

»Sylveste spielt in dem ganzen Geschehen eine ziemlich undurchsichtige Rolle« sagte Sajaki. »Es dauert eine Weile, Ihnen das zu erklären. Aber zuerst möchte ich Sie dem Captain vorstellen.«


Sylveste ging persönlich herum, um sich zu überzeugen, dass alles Wichtige an seinem Platz war. Zufrieden löschte er das gespeicherte Bild und folgte Girardieu in den Vorraum der Hütte. Die Musik steigerte sich zu einem Höhepunkt und plätscherte dann beruhigend im Hintergrund weiter. Die Beleuchtung veränderte sich, die Stimmen verstummten.

Gemeinsam traten sie ins helle Licht. Das Dröhnen der Orgelbässe umfing sie. Ein gewundener Pfad, zur Feier des Tages mit Teppichen belegt, führte zum Tempel. Zu beiden Seiten standen Glockenbäume unter Schutzhauben aus klarem Plastik. Die zarten Baumskulpturen hatten viele reich verzweigte Äste, an denen bunte Parabolspiegelchen hingen. In unregelmäßigen Abständen klickte es, und die Bäume veränderten, offenbar von einem Millionen Jahre alten Uhrwerk im Sockel gesteuert, ihre Gestalt. Bislang hielt man sie für Elemente eines stadtweiten Telegrafensystems.

Das Orgelspiel wurde lauter, als sie den Tempel betraten. Die eiförmige Kuppel war durchwirkt mit kunstvoll gestalteten Blütenblättern aus Buntglas, die das Zerstörungswerk der Zeit und der Schwerkraft wie durch ein Wunder unversehrt überstanden hatten. Die Deckenscheinwerfer tauchten alles in ein sanftes rosarotes Licht. Die Mitte des riesigen Raumes nahm breit und ausladend wie der Stamm eines Mammutbaums das Fundament des Turmes ein, der das Gebäude überragte. Auf einer Seite der Säule waren fächerförmig zur Außenwand hin Sitzgelegenheiten für hundert Würdenträger aus Resurgams Führungsschicht aufgestellt worden; sie fanden mühelos Platz, obwohl das Gebäude auf ein Viertel der Originalgröße reduziert war. Sylveste ließ den Blick über die Reihen der Zuschauer schweifen. Etwa ein Drittel war ihm bekannt. Vielleicht ein Zehntel hatte vor dem Umsturz zu seinen Verbündeten gezählt. Die meisten trugen dicke, pelzgefütterte Mäntel. Er entdeckte Janequin, inzwischen ein ehrwürdiger Greis mit weißem Spitzbart und langem Silberhaar, das wasserfallgleich von seinem oben kahlen Schädel herabströmte. Die Ähnlichkeit mit einem Affen war noch größer geworden. Man hatte in einem Dutzend Bambuskäfigen einige seiner Pfauen in den Tempel gebracht und sie dort freigelassen. Sylveste musste zugeben, dass sie mittlerweile täuschend echt aussahen. Selbst die wippende Federkrone und die türkis schillernden Augen im Gefieder fehlten nicht. Janequin hatte sie durch vorsichtige Manipulation von Homeo-box-Genen aus Hühnern entwickelt. Viele der Zuschauer hatten die Vögel noch nie zuvor gesehen und klatschten Beifall. Janequin wurde so rot wie blutiger Schnee und wäre am liebsten in seinem Brokatmantel versunken.

Girardieu und Sylveste traten vor einen stabilen Tisch im Blickfeld der Zuschauer. Der Tisch war uralt: die Platte mit dem eingelegten Adler und den lateinischen Inschriften stammte noch von den ersten Amerikano-Siedlern auf Yellowstone. Die Ecken waren abgebrochen. Auf dem Tisch stand eine lackierte Mahagonischatulle mit zierlichen Goldschließen.

Dahinter stand eine ernste Frau in einem strahlend weißen Umhang mit einer kunstvollen Schnalle in Form eines Doppelsiegels, das sich aus dem Stadtwappen von Resurgam City bzw. dem Regierungswappen der Fluter und dem Emblem der Meistermischer zusammensetzte: zwei von DNA-Strängen umschlungenen Händen. Die Frau war allerdings keine echte Meistermischerin. Die Meistermischer waren eine elitäre Stoner-Gilde von Biotechnikern und Genetikern. Niemand aus ihrem innersten Kreis hatte an der Expedition nach Resurgam teilgenommen. Nur ihr Wappen war mitgekommen und zum Markenzeichen aller Spezialisten in den Biowissenschaften Genmanipulation, Chirurgie oder Medizin geworden.

Die Frau lächelte nicht. Im bunten Licht, das durch die Glasscheiben fiel, wirkte ihr Gesicht fahl. Das Haar war zu einem Knoten geschlungen, in dem zwei Injektionsspritzen steckten.

Die Musik verstummte.

»Ich bin Ordinator Massinger«, rief sie mit lauter Stimme durch den Saal. »Der Expeditionsrat von Resurgam hat mich ermächtigt, Personen aus dieser Siedlung miteinander zu vermählen, sofern eine solche Verbindung die genetische Gesundheit der Kolonie nicht gefährdet.«

Sie öffnete die Mahagonischatulle. Zuoberst lag ein ledergebundenes Buch von der Größe einer Bibel. Sie nahm es heraus, legte es auf den Tisch und schlug es auf. Das Leder knarrte hörbar. Die offenen Seiten waren mattgrau wie nasser Schiefer und von mikroskopisch kleinen glitzernden Maschinen durchsetzt.

»Jeder der Herren legt eine Hand auf die Seite, die ihm am nächsten liegt.«

Sie gehorchten. Das Buch erstrahlte in fluoreszierendem Licht und speicherte die Handabdrücke, um anschließend mit leisem Kribbeln je eine Biopsie-Probe zu entnehmen. Danach zog Ordinator Massinger das Buch zu sich heran und drückte ihrerseits die Hand darauf.

Dann bat sie Nils Girardieu, den Versammelten seinen Namen zu nennen. Sylveste sah ein leises Lächeln durch die Zuschauerreihen huschen. Die Szene hatte etwas Absurdes, obwohl Girardieu selbst jede Theatralik vermied.

Anschließend sollte sich auch Sylveste vorstellen.

»Ich bin Daniel Calvin Lorean Soutaine-Sylveste«, sagte er. Diese Form seines Namens verwendete er so selten, dass er fast Mühe hatte, sich daran zu erinnern. Er fuhr fort: »Der einzige natürliche Sohn von Rosalyn Soutaine und Calvin Sylveste, beide gebürtig aus Chasm City, Yellowstone. Ich wurde am siebzehnten Januar im einhunderteinundzwanzigsten Standardjahr nach der Neubesiedelung von Yellowstone geboren. Mein kalendarisches Alter beträgt zweihundertundfünfzehn Jahre. Dank verschiedener Therapien mit Nanomaschinen beläuft sich mein biologisches Alter nach der Sharavi-Skala auf sechzig Jahre.«

»Wie viele Inkarnationen von sich sind Ihnen bekannt?«

»Meines Wissens manifestiere ich nur in der biologischen Form, in der ich vor Ihnen stehe.«

»Sie versichern, dass Sie weder in diesem noch einem anderen Sonnensystem als Alpha-Simulation oder als andere Turing-kompatible Kopie auftreten?«

»Mir ist davon nichts bekannt.«

Ordinator Massinger trug die Angaben mit einem Druckstift in das Buch ein. Girardieu hatte sie genau die gleichen Fragen gestellt: sie gehörten standardmäßig zu jeder Stoner-Hochzeit. Seit den Achtzig hegten die Stoner ein tiefes Misstrauen gegen alle Simulationen, insbesondere, wenn sie von sich behaupteten, das Wesen oder die Seele eines Individuums zu enthalten. Vor allem wehrten sie sich gegen die Vorstellung, eine — biologische oder andere — Inkarnation eines Individuums könnte Verträge abschließen, an die andere Inkarnationen nicht gebunden seien. Zum Beispiel eine Ehe.

»Damit sind alle Bedingungen erfüllt«, stellte Ordinator Massinger fest. »Die Braut trete vor.«

Pascale trat, begleitet von zwei Frauen mit aschgrauen Kopftüchern und einer Schar von Kameradrohnen und Sicherheitswespen, ins rosarote Licht. Ein halbtransparentes Gefolge von entoptischen Figuren — Nymphen, Seraphim, fliegenden Fischen, Hummeln, glitzernden Tautropfensternen und Schmetterlingen — umwogte ihr Hochzeitskleid in trägen Kaskaden. Die exklusivsten Entoptik-Designer von Cuvier hatten sie geschaffen.

Girardieu hob seine stämmigen Arme und winkte seine Tochter zu sich.

»Du siehst wunderschön aus«, sagte er.

Sylveste sah eine auf digitale Perfektion reduzierte Schönheit, aber er wusste, dass Girardieus Augen etwas unvergleichlich viel Weicheres und Menschlicheres zeigten. Der Unterschied war etwa so groß wie zwischen einem lebenden Schwan und einer Skulptur aus hartem Glas.

»Legen Sie die Hand auf das Buch«, verlangte der Ordinator.

Die Feuchtigkeit von Sylvestes Handabdruck umgab Pascales helle Fleischinsel wie eine dunklere Küstenlinie. Nun wurde sie wie vorher Girardieu und Sylveste aufgefordert, sich zu identifizieren. Bei Pascale war das ganz einfach: sie war nicht nur auf Resurgam geboren, sondern hatte den Planeten auch nie verlassen. Ordinator Massinger griff tiefer in die Mahagoni-Schatulle. Währenddessen warf Sylveste einen Blick auf die Zuschauer. Janequin war noch blasser als sonst und rutschte unruhig hin und her. In den Tiefen der Schatulle lag, zu bläulich antiseptischem Glanz poliert, ein Gebilde, das aussah wie eine Kreuzung zwischen einer altmodischen Pistole und der Injektionsspritze eines Tierarztes.

»Die Hochzeitswaffe«, sagte Ordinator Massinger und hielt die Schatulle in die Höhe.


Die Kälte schnitt bis ins Mark, aber bald nahm Khouri die Temperatur nur noch als abstrakte Eigenschaft wahr. Zu merkwürdig war die Geschichte, die ihr die beiden Triumvirn erzählten.

Sie standen vor dem Captain. Inzwischen wusste sie, dass er John Armstrong Brannigan hieß und unvorstellbar alt war, zwischen zweihundert und fünfhundert Jahren, je nachdem, mit welchem System man sein Alter bestimmte. Die Umstände seiner Geburt waren nicht mehr genau festzustellen und unmöglich von den Widersprüchen der politischen Geschichte zu trennen. Einige sagten, er sei auf dem Mars geboren worden, aber es war auch möglich, dass er auf der Erde, in einer der vielen Städte auf dem Mond der Erde oder in einem der mehreren Hundert Habitats, die in jenen Tagen durch den cislunaren Raum schwebten, das Licht der Welt erblickt hatte.

»Er war bereits mehr als hundert Jahre alt, bevor er zum ersten Mal das Sol-System verließ«, sagte Sajaki. »Er wartete, bis sich eine Möglichkeit ergab, und als die Synthetiker das erste Schiff von Phobos starteten, war er unter den ersten tausend Passagieren.«

»Jedenfalls war auf diesem Schiff ein John Brannigan«, verbesserte Volyova.

»Nein«, widersprach Sajaki. »Es besteht kein Zweifel. Ich weiß, dass er es war. Später… wird es natürlich schwieriger, ihm zu folgen. Vielleicht hat er seine Spuren auch absichtlich verwischt, um nicht von den vielen Feinden aufgespürt zu werden, die er sich wohl im Lauf der Zeit geschaffen hatte. Er wurde oft gesichtet, in vielen verschiedenen Systemen, im Abstand von Jahrzehnten… aber keiner der Berichte ist eindeutig.«

»Wie wurde er Captain Ihres Schiffes?«

»Er tauchte Jahrhunderte später — nach etlichen Landungen auf anderen Planeten und mehreren unbestätigten Berichten von Zeugen, die ihn gesehen haben wollten — am Rand des Yellowstone-Systems auf. Dank der relativistischen Effekte der interstellaren Raumfahrt alterte er nur langsam, aber allmählich kam er doch in die Jahre, und die Langlebigkeitstherapien waren noch nicht so gut entwickelt wie heutzutage.« Sajaki hielt inne. »Inzwischen waren große Teile seines Körpers durch Prothesen ersetzt worden. Es hieß, John Brannigan könne sein Schiff auch ohne Raumanzug verlassen; er könne im Vakuum atmen, sengende Hitze und verheerende Kälte ertragen, und sein Wahrnehmungsbereich umfasse jedes nur denkbare Spektrum. Von dem Gehirn, mit dem er geboren wurde, sei nur noch wenig übrig; in seinem Kopf befinde sich vielmehr ein engmaschiges cybernetisches Netz, ein Eintopf aus winzigen Denkmaschinen mit verdammt wenig organischem Material dazwischen.«

»Und wie viel von diesen Gerüchten entsprach der Wahrheit?«

»Vielleicht mehr, als die Menschen glauben wollten. Natürlich waren Lügen darunter: so sollte er schon Jahre bevor ihre Existenz allgemein bekannt wurde, die Schieber auf Spindrift besucht haben, und es hieß, die Aliens hätten unglaubliche Transformationen an den Resten seines Bewusstseins vorgenommen; außerdem sollte er mindestens zwei empfindungsfähige Spezies entdeckt und kontaktiert haben, die dem Rest der Menschheit bis dahin unbekannt gewesen seien.«

»Bei den Schiebern war er irgendwann tatsächlich«, warf Volyova ein. »Triumvir Sajaki war sogar dabei.«

»Das war sehr viel später«, fauchte Sajaki. »Uns interessiert hier nur seine Verbindung zu Calvin.«

»Wie kam es, dass ihre Wege sich kreuzten?«

»Das weiß niemand so genau«, sagte Volyova. »Sicher ist nur, dass er bei einem Unfall oder bei einer missglückten militärischen Operation verwundet wurde. Seine Verletzungen waren nicht lebensgefährlich, aber er brauchte dringend Hilfe, und an die offiziellen Stellen im Yellowstone-System konnte er sich nicht wenden, das wäre glatter Selbstmord gewesen. Er hatte sich zu viele Feinde gemacht, um sein Leben in die Hände irgendeiner Organisation zu geben. Er brauchte Einzelpersonen, die untereinander keinen Kontakt hatten und denen er persönlich vertrauen konnte. Calvin scheint ein solcher Mensch gewesen zu sein.«

»Calvin hatte Verbindung zu Ultra-Elementen?«

»Ja, aber das hätte er niemals öffentlich zugegeben.« Der Halbmond unter Volyovas Mützenschild öffnete sich zu einem breiten Lächeln, dass die Zähne blitzten. »Calvin war damals noch jung und idealistisch. Als man ihm den Verletzten brachte, hielt er ihn für ein Himmelsgeschenk. Bis dahin hatte er seine ausgefallenen Ideen nicht weiterverfolgen können. Nun hatte er ein perfektes Versuchsobjekt, das nur eine einzige Bedingung stellte: absolute Geheimhaltung. Natürlich hatte das Abkommen Vorteile für beide Seiten: Calvin konnte an Brannigan seine radikalen cybernetischen Theorien ausprobieren, während Brannigan geheilt wurde und durch Calvins Arbeit einiges an Fähigkeiten hinzugewann. Man könnte von einer gelungenen Symbiose sprechen.«

»Soll das heißen, der Captain wurde von diesem Dreckskerl als Versuchskaninchen für seine schändlichen Experimente missbraucht?«

Sajaki zuckte die Achseln. In seiner dicken Thermokleidung sah er wie eine Marionette aus.

»Brannigan empfand es nicht so. Er war für den Rest der Menschheit schon vor dem Unfall ein Monstrum gewesen. Calvin setzte diesen Trend nur fort. Führte ihn zur Vollendung, wenn man so will.«

Volyova nickte, doch etwas in ihrem Gesicht verriet Khouri, dass das Verhältnis zu ihrem Kollegen nicht ganz ungetrübt war. »Überhaupt war das lange vor den Achtzig. Calvins Name war ohne Makel. Und im Vergleich zu den alltäglichen Extremen des Ultra-Lebens lag Brannigans Transformation nur wenig außerhalb der Norm.« Der Abscheu in ihrer Stimme war nicht zu überhören.

»Weiter.«

»Bis zu seiner nächsten Begegnung mit dem Sylveste-Clan verging fast ein Jahrhundert«, sagte Sajaki. »In der Zwischenzeit hatte er das Kommando über dieses Schiff übernommen.«

»Was geschah?«

»Er wurde abermals verwundet. Diesmal schwer.« Er strich so vorsichtig, als halte er den Finger über eine Kerzenflamme, über den äußersten Rand der silbrigen Wucherungen. Die Ausläufer des Captains wirkten so schaumig wie die Lake, die das Meer bei Ebbe in den Felshöhlungen zurücklässt. Sajaki wischte sich diskret die Hand an der Vorderseite seiner Jacke ab, aber Khouri merkte, dass er sich nicht sauber fühlte; seine Finger schienen zu jucken und zu kribbeln, als sei ihm der Kontakt mit dem verseuchten Gewebe unter die Haut gegangen.

»Leider«, fuhr Volyova fort, »war Calvin damals bereits tot.«

Natürlich. Er war mit den Achtzig gestorben; er hatte als einer der Letzten seine körperliche Existenz verloren.

»Schön«, sagte Khouri. »Aber er starb, während sein Gehirn von einem Computer gescannt wurde. Warum haben Sie nicht einfach die Aufzeichnung gestohlen und sie überredet, Ihnen zu helfen?«

»Wenn das möglich gewesen wäre, hätten wir es getan.« Sajakis tiefe Stimme wurde von der engen Biegung des Korridors zurückgeworfen. »Aber die Aufzeichnung, die Alpha-Simulation, war verschwunden. Und es gab keine Duplikate — Alphas waren kopiergeschützt.«

»Das heißt«, sagte Khouri in der Hoffnung, die Leichenhausatmosphäre etwas zu zerstreuen, »Sie hatten keinen Captain mehr und saßen in der Scheiße.«

»Nicht ganz«, sagte Volyova. »Das alles fiel nämlich in eine ziemlich interessante Periode der Geschichte von Yellowstone. Daniel Sylveste war eben von den Schleierwebern zurückgekehrt — und er war weder tot, noch hatte er den Verstand verloren. Seine Begleiterin hatte weniger Glück gehabt, aber ihr Tod machte ihn erst recht zum strahlenden Helden.« Sie hielt inne, dann fragte sie so ungeduldig wie ein Vögelchen: »Haben Sie jemals von seinen ›Dreißig Tagen in der Wildnis‹ gehört, Khouri?«

»Kann schon sein. Helfen Sie meinem Gedächtnis auf die Sprünge.«

»Er verschwand vor hundert Jahren für einen vollen Monat«, sagte Sajaki. »Der gefeierte Mittelpunkt der Stoner-Gesellschaft war von einem Augenblick zum anderen nicht mehr aufzufinden. Es gingen Gerüchte um, er hätte die Stadtkuppel verlassen; er hätte sich in einen Exo-Anzug gezwängt und sei ausgezogen, um die Sünden seines Vaters zu sühnen. Eine rührende Geschichte, nur leider ist sie nicht wahr. In Wirklichkeit«, Sajaki nickte zum Fußboden hin, »verbrachte er diesen Monat hier. Wir hatten ihn entführt.«

»Sie haben Dan Sylveste gekidnappt?« Was für ein Husarenstück! Khouri musste beinahe lachen. Doch dann fiel ihr ein, dass es um den Mann ging, den sie töten sollte, und das Lachen verging ihr schnell.

»Ich würde lieber sagen, wir haben ihn eingeladen, an Bord zu kommen«, sagte Sajaki. »Auch wenn ich zugeben muss, dass er eigentlich keine andere Wahl hatte.«

»Damit ich ganz klar sehe«, sagte Khouri. »Sie haben also Cals Sohn entführt? Was hatten Sie davon?«

»Calvin hatte einige Vorkehrungen getroffen, bevor er sich dem Scanner auslieferte«, sagte Sajaki. »Eine Maßnahme war ganz simpel, musste aber Jahrzehnte vor dem Höhepunkt des Projekts eingeleitet werden. Kurz gesagt, er hat veranlasst, dass jede Sekunde seines Lebens von Aufzeichnungssystemen überwacht wurde. Jede Sekunde, ob er wachte oder schlief. Im Lauf der Jahre lernten die Maschinen, seine Verhaltensmuster zu imitieren und seine Reaktionen in jeder Situation mit erstaunlicher Genauigkeit vorherzusagen.«

»Eine Beta-Simulation.«

»Ja, aber ein Beta-Sim, das um mehrere Stufen komplexer war als alles bis dahin Dagewesene.«

»Nach einigen Definitionen«, sagte Volyova, »hatte es bereits ein Bewusstsein; Calvin hatte die Seelenwanderung vollzogen. Er selbst mag daran geglaubt haben oder nicht, jedenfalls trieb er die Entwicklung des Sims so weit, dass es ein Bild von Calvin projizieren konnte, das so wirklich war wie der Mann selbst. Man hatte ganz stark das Gefühl, ihm tatsächlich gegenüberzustehen. Aber Calvin ging noch einen Schritt weiter. Es gab noch eine zweite Maßnahme, auf die er zurückgreifen konnte.«

»Nämlich?«

»Klonen.« Sajaki lächelte und nickte Volyova fast unmerklich zu.

»Er klonte sich selbst«, sagte er. »Unter Einsatz verbotener oder ›schwarzer‹ gentechnischer Verfahren und indem er sich an einige seiner lichtscheueren Klienten wandte, die ihm noch eine Gefälligkeit schuldeten. Einige davon waren Ultras — sonst wüssten wir davon natürlich nichts. Die Technik des Klonens durfte auf Yellowstone nicht eingeführt werden; fast alle jungen Kolonien erlassen im Interesse maximaler genetischer Vielfalt ein solches Verbot. Aber Calvin war schlauer als die Behörden und reicher als die Individuen, die er bestechen musste. So gelang es ihm, den Klon als seinen Sohn auszugeben.«

»Dan«, sagte Khouri, eine einzige Silbe nur, aber die schnitt ein spitzes Loch in die eisige Luft. »Wollen Sie wirklich behaupten, Dan sei Calvins Klon?«

»Dan weiß davon natürlich nichts«, sagte Volyova. »Er wäre der Letzte, den Calvin eingeweiht hätte. Nein; Sylveste glaubt die Lüge ebenso wie der Rest der Bevölkerung. Er hält sich für eine eigenständige Persönlichkeit.«

»Merkt er denn nicht selbst, dass er ein Klon ist?«

»Nein, und im Laufe der Zeit schwinden die Chancen, dass er dahinterkommt, immer mehr. Abgesehen von Calvins Ultra-Verbündeten wusste kaum jemand darüber Bescheid, und Calvin bot genügend Anreize, um sich das Schweigen der wenigen Eingeweihten zu sichern. Einige Schwachstellen waren unvermeidlich — so blieb Calvin nichts anderes übrig, als einen der führenden Genetiker auf Yellowstone anzuwerben — und Sylveste hat denselben Mann für die Resurgam-Expedition ausgewählt, ohne zu ahnen, wie eng ihre Beziehung tatsächlich war. Dennoch bezweifle ich, dass er seither die Wahrheit erfahren oder auch nur in irgendeiner Weise Verdacht geschöpft hat.«

»Aber jedes Mal, wenn er in einen Spiegel schaut…«

»Sieht er sich selbst, nicht Calvin.« Volyova lächelte. Sie genoss es sichtlich, mit dieser Enthüllung Khouris Weltbild zu erschüttern. »Er war ein Klon, aber das heißt nicht, dass er Calvin aufs Haar gleichen musste. Der Genetiker — er hieß übrigens Janequin — hatte so viele kosmetische Unterschiede zwischen den beiden eingearbeitet, dass Außenstehende nur die erwartete Familienähnlichkeit sahen. Natürlich hat er auch Merkmale von Rosalyn Soutaine verwendet, der Frau, die als Dans Mutter ausgegeben wurde.«

»Der Rest war ganz einfach«, fuhr Sajaki fort. »Cal erzog seinen Klon in einer Umgebung, die bis ins Kleinste so gestaltet war wie die Welt seiner Kindheit — in bestimmten Entwicklungsphasen gab er dem Jungen sogar die gleichen Stimuli, weil er nicht sicher sein konnte, was von seinen eigenen Charakterzügen auf Vererbung zurückzuführen war und was auf den Einfluss der Umwelt.«

»Schön«, sagte Khouri. »Gehen wir zunächst einmal davon aus, dass alles so ist, wie Sie sagen — aber was war der Zweck der Maßnahme? Cal muss gewusst haben, dass Dan nicht die gleiche Entwicklung nehmen würde, wie sehr er das Leben des Jungen auch steuern mochte. Was ist mit den Entscheidungen, die bereits im Mutterleib getroffen werden?« Khouri schüttelte den Kopf. »Wahnsinn. Mehr als eine ungefähre Näherung konnte er niemals erreichen.«

»Ich glaube«, sagte Sajaki, »mehr hatte er sich auch gar nicht erhofft. Cal klonte sich ja nur zur Vorsicht. Er wusste, dass das Scannen, dem er und die anderen Freiwilligen der Achtzig sich unterziehen mussten, den Körper zerstörte, deshalb wollte er sich die Möglichkeit offen halten, in einen Körper zurückzukehren, falls ihm das Leben in der Maschine nicht zusagen sollte.«

»Sagte es ihm denn zu?«

»Schon möglich, aber das tat nichts zur Sache. Zur Zeit der Achtzig waren Retransfer-Operationen technisch noch nicht möglich. Aber Cal hatte keine Eile: er konnte den Klon jederzeit im Kälteschlaf konservieren, bis er ihn brauchte, oder er konnte sich aus den Zellen des Jungen einen zweiten Klon anfertigen lassen. Er dachte weit voraus.«

»Wobei er sich darauf verließ, dass der Retransfer jemals möglich wurde.«

»Calvin wusste, wie gering die Chancen waren. Deshalb war es ihm wichtig, daneben eine zweite Option zu haben.«

»Und die wäre?«

»Die Beta-Simulation.« Sajaki sprach jetzt sehr langsam und seine Stimme war so eisig kalt wie die Luft in der Kälteschlafzelle des Captains. »Obwohl sie offiziell kein eigenes Bewusstsein hatte, war sie doch eine unglaublich präzise Kopie von Calvin. Und dank ihrer relativ einfachen Strukturen war es leichter, ihre Regeln Dans organischer Gehirnmasse aufzuprägen. Viel leichter, als die Prägung mit einer so wenig fassbaren Struktur wie dem Alpha.«

»Ich weiß, dass die Primäraufzeichnung — das Alpha — verschwunden ist«, sagte Khouri. »Es gab keinen Calvin mehr, der die Zügel in der Hand hielt. Und Dan hat sich vermutlich eigenständiger entwickelt, als Calvin lieb sein konnte.«

»Sehr vorsichtig ausgedrückt«, warf Sajaki ein. »Mit den Achtzig begann der Niedergang des Sylveste-Instituts. Dan interessierte sich mehr für das Rätsel der Schleierweber als für cybernetische Unsterblichkeit und konnte sich bald von seinen Fesseln befreien. Das Beta-Sim behielt er, ohne jemals zu begreifen, welche Bedeutung es tatsächlich hatte. Er hielt es in erster Linie für ein Erbstück.« Der Triumvir lächelte. »Wenn er erkannt hätte, dass es im Grunde seinen eigenen Untergang bedeutete, hätte er es sicher zerstört.«

Begreiflich, dachte Khouri. Die Beta-Simulation war wie ein gebannter Dämon, der nur darauf lauerte, in einen neuen Körper einzufahren. Nicht im eigentlichen Sinne bei Bewusstsein, aber dank der subtilen Raffinesse, mit der sie wahre Intelligenz imitierte, doch gefährlich stark.

»Auch Cals Vorsichtsmaßnahme war uns noch nützlich«, sagte Sajaki. »Das Beta enthielt in verschlüsselter Form so viel von Calvins fachlichen Erfahrungen, wie für die Heilung unseres Captains erforderlich waren. Nun mussten wir Dan nur noch dazu bringen, dass er Calvin erlaubte, sich für eine begrenzte Zeit seines Körpers und seines Geistes zu bemächtigen.«

»Aber wenn das so einfach ging, muss Dan doch Verdacht geschöpft haben…«

»Es war nicht einfach«, widersprach Sajaki. »Keineswegs. In den Phasen, in denen Cal die Herrschaft übernahm, wirkte Dan wie ein Besessener. Ein großes Problem war die motorische Kontrolle: wir mussten Dan einen ganzen Cocktail von Neuro-Inhibitoren verabreichen, um seine eigene Persönlichkeit auszuschalten. Wenn Cal dann endlich durchkam, fand er einen Körper vor, der von unseren Drogen halb gelähmt war. Es war, als operiere ein begnadeter Chirurg nicht selbst, sondern erteile einem Betrunkenen Anweisungen. Und nach allem, was man sehen konnte, war die Erfahrung auch für Dan nicht angenehm. Er sagte selbst, es sei ziemlich quälend gewesen.«

»Aber es hat funktioniert.«

»Mit knapper Not. Aber seither sind hundert Jahre vergangen, und jetzt ist der nächste Besuch beim Onkel Doktor fällig.«


»Die Fläschchen«, sagte der Ordinator.

Eine der Kopftuchfrauen aus Pascales Gefolge trat vor und schwenkte ein Fläschchen, das nach Aussehen und Größe identisch war mit dem, das Sylveste aus der Tasche zog. Der einzige Unterschied bestand in der Farbe: die Flüssigkeit in Pascales Fläschchen war rot gefärbt, bei Sylveste war sie gelblich. Auch in ihrem Behältnis schwamm ein schwarzer Materieklumpen. Ordinator Massinger nahm beide Fläschchen, hielt sie kurz hoch und stellte sie dann, gut sichtbar für die Zuschauer, nebeneinander auf den Tisch.

»Die Trauung kann beginnen«, sagte sie. Dann stellte sie die übliche Pflichtfrage, ob jemand anwesend sei, der bioethische Einwände gegen die Verbindung vorzubringen hätte.

Natürlich meldete sich niemand.

Doch in diesem bedeutungsschweren Augenblick, in dem sich die Wege gabelten, bemerkte Sylveste, wie eine verschleierte Frau im Zuschauerraum in ihre Handtasche griff und einen kleinen bernsteinfarbenen Parfumflakon mit Edelsteinverschluss öffnete.

»Daniel Sylveste«, sagte der Ordinator. »Wollen Sie diese Frau nach Resurgam-Gesetz zu ihrem Eheweib nehmen, bis die Ehe nach diesem oder einem anderen Rechtssystem wieder aufgelöst wird?«

»Ja«, sagte Sylveste.

Die gleiche Frage wurde an Pascale gerichtet.

»Ja«, sagte auch Pascale.

»Dann sollt ihr die Bindung vollziehen.«

Ordinator Massinger nahm die Hochzeitswaffe aus der Mahagonischatulle und klappte sie auf. Sie lud das rötliche Fläschchen — das Pascales Begleiterin ihr übergeben hatte — in die Kammer und klappte den Verschluss wieder zu. Eine Status-Entoptik leuchtete auf. Girardieu fasste Sylvestes Unterarm, um ihn zu stützen. Der Ordinator setzte Sylveste das Ende der konisch zulaufenden Waffe dicht über den Augen an die Schläfe. Sylveste hatte Recht gehabt, die Zeremonie war nicht schmerzhaft, aber sie war auch nicht gerade angenehm. Er spürte einen jähen Kälteschock, als würde ihm flüssiges Helium in die Hirnrinde geblasen. Die Beschwerden gingen jedoch rasch vorbei, und in wenigen Tagen würde auch der daumengroße Bluterguss verschwunden sein. Verglichen mit dem übrigen Körper hatte das Gehirn nur ein schwaches Immunsystem, und so würden Pascales Zellen — in ihrer Suppe aus Helfer-Nanos — bald eine Verbindung mit Sylvestes Gehirnzellen eingehen. Das Volumen war gering — nur ein Zehntel Prozent der gesamten Hirnmasse — aber die transplantierten Zellen waren unauslöschlich durch ihren letzten Wirt geprägt: holografisch übertragene Erinnerungen und Persönlichkeitsstrukturen durchzogen sie wie Geisterfäden.

Der Ordinator nahm das leere rote Fläschchen heraus und legte dafür das gelbe ein. Für Pascale war es die erste Hochzeit nach Stoner-Ritus, und sie konnte ihre Angst kaum verbergen. Girardieu hielt ihr die Hände. Als der Ordinator die Neuralmasse applizierte, zuckte Pascale sichtbar zusammen.

Sylveste hatte Girardieu in dem Glauben belassen, dass die Implantation unwiderruflich sei, aber das traf nicht zu. Das Neuralgewebe war mit harmlosen Radioisotopen markiert und konnte wenn nötig durch Scheidungsviren vom Organismus getrennt und zerstört werden. Sylveste hatte bisher auf diese Möglichkeit verzichtet und gedachte das auch in Zukunft zu tun, wie viele Ehen er auch noch eingehen mochte. Er trug etwas von allen seinen Frauen in sich — und sie etwas von ihm — nun würde er auch Pascale in sich tragen. In ganz schwacher Konzentration hatte Pascale eben sogar Spuren seiner früheren Frauen in sich aufgenommen.

So war es der Brauch bei den Stonern.

Der Ordinator legte die Hochzeitswaffe vorsichtig in die Schatulle zurück. »Nach Resurgam-Gesetz«, begann sie, »ist die Ehe damit rechtskräftig. Sie können…«

In diesem Augenblick traf das Parfüm Janequins Vögel.

Die Frau mit dem bernsteinfarbenen Flakon war verschwunden. Ihr leerer Platz stach förmlich ins Auge. Der würzige Herbstduft aus dem Flakon erinnerte Sylveste an zerdrückte Blätter. Ein Niesreiz überkam ihn.

Hier stimmte etwas nicht.

Ein grelles Türkisblau erfüllte den Raum, als hätten sich hundert pastellfarbene Fächer geöffnet. Doch es waren nur die Pfauenschweife mit ihren unzähligen schillernden Augen.

Die Luft färbte sich grau.

»Hinlegen!«, schrie Girardieu. Er rieb sich hektisch den Hals. Ein kleines, mit Widerhaken versehenes Ding steckte in seiner Haut. Sylveste sah wie betäubt an seiner Tunika hinab und entdeckte auch dort ein halbes Dutzend der kommaförmigen Häkchen. Sie hatten den Stoff nicht durchdrungen, aber er wagte nicht, sie anzufassen.

»Ein Anschlag!«, schrie Girardieu. Er kroch unter den Tisch und zog Sylveste und seine Tochter mit sich. Der Raum war jetzt in hellem Aufruhr, alles drängte in wilder Panik zu den Ausgängen.

»Janequins Vögel waren präpariert!« Girardieu schrie es Sylveste förmlich ins Ohr. »Mit Giftpfeilen — in den Schweifen.«

»Du bist getroffen«, sagte Pascale. Sie war wie in Trance. Ihre Stimme verriet kaum Bewegung. Über ihren Köpfen qualmte und blitzte es. Schreie waren zu hören. Aus dem Augenwinkel sah Sylveste die Frau mit dem Parfüm. Sie hielt mit beiden Händen eine tödlich schnittige Pistole mit gezähntem Lauf und beschoss die Zuschauer mit kalter Boser-Energie. Die Kameradrohnen umschwebten sie und zeichneten das Gemetzel ungerührt auf. Sylveste hatte eine solche Waffe noch nie gesehen. Sie war mit Sicherheit nicht auf Resurgam hergestellt worden. Damit blieben nur zwei Möglichkeiten. Entweder hatten die ersten Kolonisten sie von Yellowstone mitgebracht oder man hatte sie bei Remilliod gekauft, dem Händler, der nach Girardieus Putsch das System besucht hatte. Hoch über ihm zersplitterte mit scharfem Klirren Glas — amarantinisches Glas, das hunderttausend Jahre überdauert hatte — und scharfkantige Scherben in bunten Bonbonfarben regneten in den Zuschauerraum. Sylveste musste ohnmächtig zusehen, wie rubinrote Splitter gefrorenen Blitzen gleich in menschliches Fleisch fuhren. Doch die Angstschreie waren so laut, dass sie die Schmerzenslaute übertönten.

Endlich formierten sich die Reste von Girardieus Sicherheitstruppe, aber es ging entsetzlich langsam. Vier Milizsoldaten lagen mit Widerhaken im Gesicht auf dem Boden. Einer hatte die Sitzreihen erreicht und versuchte, der Schützin ihre Pistole zu entwinden. Ein anderer eröffnete mit seiner eigenen Waffe das Feuer auf Janequins Vögel und mähte sie nieder.

Girardieu begann zu stöhnen. Er verdrehte die blutunterlaufenen Augen und griff mit den Händen ziellos ins Leere.

»Wir müssen hier raus«, schrie Sylveste Pascale ins Ohr. Sie hatte den Schock des Neuraltransfers noch nicht überwunden und nahm nur undeutlich wahr, was um sie herum vorging.

»Aber mein Vater…«

»Ihm ist nicht mehr zu helfen.«

Sylveste ließ Girardieus schweren Körper auf den kalten Fußboden des Tempels sinken, achtete dabei aber sorgsam darauf, im Schutz des Tisches zu bleiben.

»Die Widerhaken sind tödlich, Pascale. Wir können nichts für ihn tun. Wenn wir hier bleiben, ereilt uns nur das gleiche Schicksal.«

Girardieu stieß ein Krächzen aus, vielleicht ein ›Geht!‹, vielleicht auch nur ein letzter Atemzug.

»Wir können ihn nicht zurücklassen!«, sagte Pascale.

»Wenn wir es nicht tun, überlassen wir seinen Mördern den Sieg.«

Tränen liefen ihr über das Gesicht. »Wo sollen wir denn hin?«

Er sah sich hektisch um. Girardieus Leute hatten offenbar Schockgranaten geworfen. Jetzt schwebte der Rauch wie die Schleier einer Tänzerin in trägen, pastellfarbenen Spiralen herab und breitete sich im ganzen Raum aus. Bevor er die Sicht zu sehr behindern konnte, wurde es mit einem Schlag stockdunkel. Anscheinend hatte jemand die Lichter außerhalb des Tempels ausgeschaltet oder zerschossen.

Pascale keuchte erschrocken auf.

Sylvestes Augen schalteten fast von selbst auf Infrarotsicht.

»Ich kann noch sehen«, flüsterte er ihr zu. »So lange wir zusammen bleiben, brauchst du die Dunkelheit nicht zu fürchten.«

Sylveste richtete sich langsam auf. Er konnte nur hoffen, dass die Gefahr durch die Vögel gebannt war. Die Wärmestrahlung des Tempels war graugrün. Die Frau mit dem Parfüm war tot, in ihrer Seite klaffte ein faustgroßes warmes Loch. Der bernsteinfarbene Flakon lag zerbrochen zu ihren Füßen. Vermutlich hatte er ein Triggerhormon enthalten, für das Janequins Vögel subtile Rezeptoren hatten. Janequin musste mit im Komplott gewesen sein. Sylveste suchte nach ihm — aber der Genetiker war tot. In seiner Brust steckte ein kleiner Dolch und aus der Wunde flossen warme Rinnsale über seinen Brokatmantel.

Sylveste fasste Pascales Arm und schob sie auf den Ausgang zu, einen Torbogen, der mit vergoldeten Amarantin-Figuren und Schriftzeichen in Relieftechnik geschmückt war. Die Frau mit dem Parfüm war, wenn man von Janequin absah, offenbar als einzige von den Attentätern am Schauplatz gewesen. Jetzt erst kamen ihre Freunde in Chamäleo-Anzügen, mit dichten Atemmasken und Infrarotbrillen.

Er schob Pascale hinter mehrere umgestürzte Tische.

»Sie suchen nach uns«, zischte er. »Aber wahrscheinlich halten sie uns für tot.«

Wer von Girardieus Sicherheitsleuten überlebt hatte, war zurückgewichen und hatte sich zwischen den fächerförmig angeordneten Zuschauerbänken verschanzt. Sie hatten keine Chance: die Neuankömmlinge hatten viel stärkere Waffen, schwere Boser-Gewehre. Girardieus Miliz mit ihren schwachen Lasern und Projektilwaffen leistete tapfer Widerstand, aber die Verschwörer schossen sie rücksichtslos und ohne große Mühe nieder. Von den Hochzeitsgästen waren mindestens die Hälfte bewusstlos oder tot; sie hatten die meisten Giftpfeile abbekommen. Die Pfauen waren zwar keine sonderlich präzise arbeitende Mordwaffe gewesen — aber sie hatten sich völlig ungehindert im ganzen Raum bewegen können. Sylveste bemerkte, dass immer noch zwei von ihnen am Leben waren — entgegen seinen Erwartungen. Die Parfum-Moleküle in der Luft hatten ihre Wirkung nicht verloren: die Vögel klappten ihre Schweife auf und zu wie nervöse Kurtisanen ihre Fächer.

»Hatte dein Vater eine Waffe bei sich?«, fragte Sylveste und bedauerte sofort, die Vergangenheitsform verwendet zu haben. »Ich meine, seit dem Umsturz.«

»Ich glaube nicht«, sagte Pascale.

Natürlich nicht. Das hätte ihr Girardieu niemals anvertraut. Rasch tastete Sylveste den reglosen Körper ab. Vielleicht fand sich unter dem Festgewand eine Ausbuchtung in Form eines gepolsterten Halfters.

Nichts.

»Dann müssen wir uns ohne Waffe behelfen«, sagte Sylveste, als wäre das Problem einfacher zu lösen, wenn er es aussprach. »Wenn wir nicht flüchten, werden sie uns töten«, setzte er nach einer Pause hinzu.

»Ins Labyrinth?«

»Dort können sie uns sehen«, wandte Sylveste ein.

»Aber vielleicht glauben sie nicht, dass wir es sind«, versetzte Pascale. »Vielleicht wissen sie nicht, dass du im Dunkeln sehen kannst.« Obwohl sie so gut wie blind war, sah sie ihm fest in die Augen. Ihr Mund bildete ein fast kreisrundes Loch, ausdruckslos und ohne Hoffnung. »Lass mich vorher noch von meinem Vater Abschied nehmen.«

Sie ertastete die Leiche im Dunkeln und küsste sie ein letztes Mal. Sylveste warf einen Blick zum Ausgang. In diesem Moment traf ein Schuss von Girardieus Miliz den Soldaten, der ihn bewachte. Die maskierte Gestalt sank zusammen, ihre Körperwärme verteilte sich nach allen Seiten und bildete eine warme Pfütze. Qualmende weiße Energiemaden krochen in das Mauerwerk.

Damit war der Weg frei. Er griff nach Pascales Hand, und sie rannten gemeinsam los.

Загрузка...