Sieben

Es gibt Kleidungsstücke, die scheinen von vornherein als weltweiter Standard geplant zu sein. Die Jeans zum Beispiel. Natürlich gibt es einen Unterschied zwischen einer in der vierten und damit inoffiziellen Schicht in Vietnam hergestellten Wrangler und einem mit Strass von Swarovski verzierten Exemplar einer Dolce & Gabbana (die vermutlich ebenfalls in Vietnam angefertigt wurde, oder im benachbarten Thailand). Aber wenn man diese Extreme außer Acht lässt, dann tragen Männer wie Frauen Jeans, Millionäre und Bettler, Mannequins und Besitzer von Bierbäuchen. Mein Vater hat einmal mit finsterer Miene angemerkt, die Sowjetunion sei an den Jeans zerbrochen - genauer gesagt, an ihrem Fehlen. Hmm, vielleicht hatte er sogar recht, ich zum Beispiel kann mir ein Leben ohne Jeans nicht vorstellen! Meiner Ansicht nach sind die Jeans sogar die Errungenschaft, mit der Amerika vorm Jüngsten Gericht Coca-Cola und Hamburger rechtfertigen kann.

Und es gibt nationale Kleidungsstücke, für Touristen. Das sind die in der Ukraine beliebte Fofudja und der schottische Kilt. Die Schotten tragen bei feierlichen Empfängen stur diese Röcke, die jungen ukrainischen Heimatkundler schüren im Land das Interesse an der Fofudja, aber das alles ist nicht mehr als ein Tribut an die Tradition.

Dann gibt es noch Kleidungsstücke, die zwar nicht übermäßig exotisch wirken, sich im Ausland aber dennoch nicht durchsetzen. Beispielsweise der Hausmantel für Männer. Unverzichtbares Attribut trägen Wohlbefindens im Orient. Bester Freund des nach Hause zurückgekehrten englischen Gentleman. In Russland dagegen, das ständig zwischen Europa und Asien hin- und herschwankt, ist er nie heimisch geworden. Wir sind zu wuselig, um sommers einen Hausmantel zu tragen, abgesehen davon, dass er kurz ist, der russische Sommer, kurz und regnerisch. Und winters sind unsere Wohnungen entweder derart überheizt, dass kein Hausmantel nötig ist, oder eiskalt - und dann hilft selbst ein Hausmantel nicht. So sind an die Stelle des Hausmantels schlabbrige Trainingsanzüge getreten oder - wenn man »unter sich« ist - bequeme Unterhosen.

Kurz und gut, ich verstand mich nicht darauf, einen Hausmantel zu tragen, und fühlte mich unwohl darin. Wie ein Mensch, der zum ersten Mal in seinem Leben in einen Anzug schlüpft, sich eine Krawatte umbindet und zu einem wichtigen offiziellen Empfang aufbricht. Wenn jede Gewissheit dahin ist: Wie sollst du in so einem Aufzug sitzen oder aufstehen, wie auf die Schlinge reagieren, die da um deinen Hals baumelt. Genauso fühlte ich mich in dem dicken, weichen Hausmantel: wie der letzte Idiot.

Schlug ich ein Bein übers andere, brachte ich mich nicht gerade vorteilhaft in Position, reckte ich mich, demonstrierte ich meine haarlose und nicht sonderlich muskulöse Brust.

Dabei war die Situation für einen Hausmantel wie geschaffen. Wir saßen in einem Zimmer, dessen Wände bis zur Hälfte mit dunklem Holz getäfelt waren, die hohe Decke war ebenfalls aus Holz, die Sessel und Sofas aus Leder, der große Kamin mit dem in ihm lodernden Scheiten mit bemalten Keramikkacheln verkleidet, die von der Zeit und dem Feuer nachgedunkelt waren. Einige Schränke mit soliden dicken Büchern, vor hundert Jahren herausgegeben und damals auch zum letzten Mal gelesen, und ein massiver Lüster unter der Decke, dessen kerzenartige Birnen ein mattes Licht spendeten, katapultierten uns endgültig aus dem buddhistischen Kloster in einen alten englischen Club.

»Wer hätte je gedacht, dass dir so was gefällt«, murmelte ich, als ich versuchte, es mir in dem Sessel etwas bequemer zu machen. »Ganz klassisch ... Hast du in Oxford studiert?«

»Das stammt von einem der früheren Kuratoren«, klärte Kotja mich auf. »Ich habe mir die Bücher mal genauer angeschaut, sie sind alle erst nach 1805 erschienen ...«

Er schnappte sich seine Zigaretten vom Zeitungstisch und steckte sich gierig eine an. »Meiner Meinung nach sind sie genau in diesem Jahr zu uns gekommen«, sagte er.

»Die Arkaner?«

»Mhm. Ich habe irgendwo gehört, der erste Kurator sei ein Engländer gewesen. Ich glaube, er hat sich hier eine Kopie seines englischen Landhauses geschaffen ... natürlich wurde später alles ein wenig umgebaut. Um ehrlich zu sein, den Strom habe ich erst gelegt.« Er machte eine kurze Pause, bevor er stolz hinzufügte. »Allein. Dabei hätte ich durchaus ein Elektrikerfunktional hierherbringen können. Aber ich wollte damit selbst fertig werden.«

»Und wie bitte schön hättest du ihn hierhergebracht? Was hättest du mit seiner Leine gemacht?« Ich erkundigte mich nicht weiter danach, was eigentlich als Generator fungierte, obwohl mir kurz ein bizarres Bild durch den Kopf schoss. Unablässig kreisende Gebetsmühlen, die auf die Antriebsscheibe eines Dynamos gepfropft waren.

»Ein Kurator kann das«, mischte sich Illan ein, die sich ebenfalls eine Zigarette angezündet hatte. »Er hat die entsprechende Fähigkeit. Hebammen und Kuratoren sind nicht an die Leine gebunden.«

»Und Postboten und Taxifahrer sind an eine bewegliche Funktion gebunden«, ergänzte Kotja. »An ihr Auto oder ihre Kutsche ...«

Vermutlich nahm er an, ich würde mich darüber wundern. Stattdessen schüttelte ich jedoch bloß den Kopf. »Kotja, die Leine ist doch überhaupt nicht notwendig. Das ist lediglich ein Symbol. Wie das Halsband bei den Sklaven in der Antike. Es kann aus Gold sein oder mit Edelsteinen besetzt ... aber es ist und bleibt ein Halsband ... Illan!« Ich sah die Frau unverwandt an. »Wann hat er es dir gesagt?«

»Dass er ein Kurator ist? Nachdem er versucht hat, dich umzubringen.«

Kotja zog nervös an seiner Zigarette. »Pass auf, ich erzähl dir die Geschichte«, schlug er vor. »Detailliert und Punkt für Punkt. Zunächst: Was macht ein Kurator?«

»Eine ausgesprochen interessante Frage!«, höhnte ich.

»Praktisch nichts!« Kotja ließ sich nicht beirren. »Ich habe meine Ansichten darüber dargelegt, wie sich unsere Welt entwickeln soll. Ich weiß nicht einmal, ob das berücksichtigt wurde ... aber ich habe mir alle Mühe gegeben. Ich habe versucht, mir eine möglichst gute Zukunft für uns einfallen zu lassen ... Ehrenwort.«

»Toll hast du das gemacht«, sagte ich gallig. »Man braucht sich bloß mal die Nachrichten anzugucken, um sich davon zu überzeugen.«

Kotja runzelte die Stirn und fuhr fort: »Außerdem teilen die Hebammen mir mit, wen sie wann zum Funktional machen ...«

»Auch, zu was für einem?«

»Nein, das wissen sie nämlich selbst nicht. Es kommt, wie es kommt. Ich erhalte dann die Berichte, wie, wer und wann. Das betrifft fünf, sechs Menschen pro Tag. Für unsere ganze Erde, nebenbei bemerkt. Die meisten Funktionale gibt es natürlich in den USA, Europa, China, Russland und Japan. Mit anderen Worten, in den Industrieländern. In Afrika und Lateinamerika sind es nur ein Zehntel so viele ... Dann teilen sie mir noch mit, wann jemand gestorben ist oder die Verbindung zu seiner Funktion zerrissen hat. Das passiert ein, zwei Mal pro Woche. Ich habe es interessehalber mal ausgerechnet: Es gibt mindestens eine Drittelmillion Funktionale auf der Erde. Vorausgesetzt, der Prozess ist immer mit der gleichen Geschwindigkeit abgelaufen und hat tatsächlich vor zweihundert Jahren eingesetzt ... Ab und an bekomme ich einen Brief oder ein Telegramm aus Arkan. Ein, zwei Mal im Monat ... Normalerweise wird mir darin der Name des Menschen mitgeteilt, der in ein Funktional zu verwandeln ist. Den Namen leite ich an eine der Hebammen weiter ...«

»Wie viele Hebammen gibt es insgesamt?«

»Sechs. Wenn Nataljas Stelle noch nicht neu besetzt ist, sind es zur Zeit fünf. Als Ersatz könnten sie jemanden aus Arkan oder aus einer anderen Welt geschickt haben. Oder ein neues Funktional ist Hebamme geworden.«

Ich nickte.

»Das ist im Grunde alles ...«, sagte Kotja. Nach einer kurzen Pause fügte er noch hinzu: »Also, manchmal bitten die aus Arkan mich, eines der Funktionale im Auge zu behalten. Das lade ich dann auch bei dem Polizisten ab, der für den entsprechenden Bezirk zuständig ist. Oder, wenn es in einem Bezirk keinen Polizisten gibt, an die Hebammen, die sind ja auch ohne Leine ... Einmal pro Quartal schreibe ich meine Berichte für Arkan. Dabei handelt es sich praktisch um die Zusammenfassung der Berichte, die ich von den Hebammen erhalten habe. Wer wo und zu welchem Funktional geworden ist. Wenn es Probleme mit der Adaption oder Klagen gibt, informiere ich sie darüber. Außerdem lege ich in den Berichten dar, wie sich die Menschheit nach meinem Dafürhalten weiter entwickeln sollte ...«

»Und das ist alles?«

»Ja, das ist alles.« Kotja breitete die Arme aus. »Glaubst du etwa, ich hätte in Moskau gesessen, wäre Frauen hinterhergestiegen und hätte allerlei Geschichtchen geschrieben, nur um dich auf eine falsche Fährte zu locken? Ich hatte wirklich nichts zu tun! Drei Jahre habe ich die Erde kreuz und quer bereist. Das war schon toll. Die anderen Welten des Multiversums habe ich mir selbstverständlich auch angesehen. Aber irgendwann hing mir das alles zum Hals raus! Mir irgendwelchen Unsinn auszudenken, zu trinken und Bräute aufzureißen war dann weitaus ...«

Illan beugte sich vor und gab Kotja einen leichten Schlag auf den Hinterkopf. »Die Bräute schminkst du dir jetzt bitte ab«, verlangte sie. »Betrachte das als endgültig durchlaufene Phase deiner Biografie.«

Kotja schielte zu ihr rüber und nickte - zu meiner großen Verwunderung. Noch dazu machte er eine relativ ehrliche Miene.

»Die Arbeit eines Kurators«, nahm er den Faden wieder auf, »gleicht der Arbeit eines Verwalters auf einem großen und gut funktionierenden Landgut. Die Bauern wissen selbst, wann sie säen und wann sie das Korn dreschen müssen. Der Schmied bessert seine Werkzeuge aus, die Bräu... die Frauen machen Quark aus Milch und bieten ihn auf dem Markt zum Verkauf an, der Priester spricht das Gebet. Alles läuft von selbst, der Verwalter sitzt bloß auf der Vortreppe, nippt an einem Likör und ...« Kotja hüstelte und führte den Satz unbeholfen zu Ende: »... na, und isst einen Happen ...«

Illan brach überraschend in Gelächter aus. »Ich nehme meine Worte zurück, Kotja«, bot sie an. »Wenn du ohne deine Bräute nur noch stammeln kannst, dann sprich lieber wie immer. Und krieg doch bei Gelegenheit mal heraus, wie man Quark macht und wie Butter.«

»Ich bin sowieso fertig«, erklärte Kotja mürrisch. »Ich habe alles aufgezählt. Darin erschöpft sich meine Arbeit nämlich schon. Jetzt kommt das Nächste: Was kann ich als Kurator? Ich habe dieses Quartier in Tibet. Mir ist schleierhaft, wie jemand es geschafft hat, diese Mönche abzurichten, was er ihnen für einen Unsinn vorgebetet hat, aber es sind fanatische Bedienstete. Ich bin nicht häufig hier, bei Bedarf ist das jedoch ein sicherer Schlupfwinkel für einen Kurator. Ich kann reisen ... also ...« Kotja zögerte und suchte nach dem richtigen Wort. »... sozusagen durch den Raum. Ich kann zu jedem Ort gelangen, an dem ich schon einmal war und an den ich mich erinnere. Ich muss mir einen Namen für ihn ausdenken, ein Codewort - und dann kann ich ein Portal dorthin öffnen.«

»Nur an jeden Ort?«, hakte ich nach.

»Oder zu jedem Menschen.« Kotja sah verlegen aus. »Den ich persönlich kenne. Dich behalt ich gewissermaßen ständig im Visier, und ich habe immer mal wieder nach dir geschaut ... nachdem wir uns zerstritten hatten ... Bei Illan ist es genauso ...«

»Verstanden. Welche Fähigkeiten hast du noch?«

»Keine«, antwortete Kotja wütend. »Über irgendwelche ausgefallenen Fähigkeiten verfüge ich nicht. Nicht über das Weltwissen eines Zöllners, nicht über die Superkräfte eines Polizisten, nicht über Heilkräfte. Irgendwie ist das alles zwar angelegt, aber viel schwächer als bei den anderen.«

»Erzähl doch keinen Scheiß!«, explodierte ich. »Du bist der Chef! Du überwachst die ganze Erde!«

»Pah!« Kotja platzte ebenfalls der Kragen. »Glaubst du etwa, der Barackenälteste in einem Lager hätte viele Rechte gehabt? Seine Essensration ist etwas üppiger ausgefallen, sein Bett ein bisschen weicher gewesen. Außerdem hatte er noch das Recht, mit den Aufsehern zu reden. Und damit basta! Du solltest meine Fähigkeiten nicht überschätzen. Ich bin nur ein Vermittler. Ein Spezialist mit breitem Profil, aber ein Breitbandprofil ist nie sehr tief. Leider.«

»Je größer die Pfütze, desto flacher ist sie«, brachte Illan in lehrhaftem Ton hervor.

Kotja und ich sahen sie erstaunt an.

»Ein Aphorismus«, sagte Illan unsicher. »Oder?«

»Kein guter«, entschied ich. »Gut, vergessen wir das. Welche Fähigkeiten hast du in der letzten Zeit eingebüßt, Kotja?«

»Ich kann keine Portale in bewohnte Welten mehr öffnen.« Kotja fuchtelte mit den Händen. »Zunächst war mir nur Arkan versperrt, dann auch die anderen Welten mit zivilisiertem Leben. Du hast ein Wahnsinnsglück gehabt, dass ich noch nach Janus gekommen bin ... Ich wollte den Postboten kontaktieren, aber das klappte schon nicht mehr. Entweder ist er nicht auf unserer Erde aufgetaucht oder aber er hat sich geschickt vor mir verborgen. Ich hätte einen Brief aus Arkan kriegen müssen, aber der kam nie an. Von den Hebammen sind irgendwann auch keine Berichte mehr eingetroffen. Als ob ... ich ihr Vertrauen verspielt hätte.« Er setzte ein schiefes Lächeln auf.

»Oder ... als ob sie erst mal abwarten würden, wer von uns beiden das Rennen macht.«

»Warum haben sie mich eigentlich überhaupt zum Funktional gemacht?«, fragte ich ganz direkt. »Und spar dir bitte sämtliche Geschichten à la: Da kam der Befehl, ich habe mich natürlich gesträubt, aber mir sind ja die Hände gebunden ...«

Kotja seufzte. Anscheinend war der Moment erreicht, wo die Karten auf den Tisch kamen.

»Ich selbst habe der Iwanowa deinen Namen gegeben«, gestand er verdrossen ein. »Ich habe so getan, als ob eine entsprechende Anweisung von oben vorläge ... Wenn du so willst, habe ich mein Amt zu persönlichen Zwecken missbraucht.«

»Weshalb?«

»Weil mir langweilig war!«, sagte Kotja traurig. »Ich wollte, dass einer meiner Freunde zum Funktional wird. Damit ich den völlig unbeteiligten Idioten spielen konnte, der rein zufällig in diese Geschichte stolpert ... Mich kannte ja niemand persönlich. Nicht mal diese dämliche Iwanowa! Ein Kurator, das ist der bescheidenste Herrscher auf der Welt ...«

»Klar«, schnaubte ich, »bescheidener geht’s gar nicht.«

Im Kamin prasselte das Feuer. Illan, die mit untergeschlagenen Beinen im Sessel saß, sah Kotja aufmerksam an. Was für ein idyllisches Bild!

»Was hast du jetzt vor, Kotja?«

»Ich? Nichts. Ich habe Angst, Kirill. Sie haben mir meine Fähigkeiten gegeben, sie können sie mir auch wieder wegnehmen. Es ist ein Wunder, dass ich dich noch habe retten können. Aber vermutlich observiert mich jemand, schließlich bin ich immer noch ein Funktional.«

Ich brauchte ein paar Sekunden, um all das zu begreifen.

»Heißt das etwa, ich soll auf eigene Faust handeln, Kotja?«, fragte ich schließlich.

»Was denn sonst?!« Er wunderte sich wirklich. »Natürlich werde ich dir helfen. So gut es geht. Solange ich es noch vermag.«

»Vielen Dank auch!« Ich linste zu Illan rüber, die jedoch schwieg. »Nein, ich bin dir wirklich dankbar. Allerdings hat bisher alles, was ich tu, nur ein Ziel: meinen eigenen Hintern zu retten. Mir sind diese Supermänner aus Arkan auf den Fersen, jeder Polizist ist scharf darauf, mich zu schnappen, mir sind meine Fähigkeiten abhandengekommen ...«

»Nein! Du musst noch welche haben.« Verärgert verzog Kotja das Gesicht. »Wenn auch sehr seltsame, bei denen nicht klar ist, wann sie durchbrechen ... Glaub nicht, dass wir dich im Regen stehen lassen, Kirill. Illan und ich haben gestern den ganzen Abend zusammengesessen und einen Plan ausgearbeitet.«

»Für dich«, stellte Illan klar.

Ich breitete die Arme aus. »Wirklich, dass ist zu viel der Ehre. Ich bin gerührt. Und euch zutiefst verbunden.«

Weder Kotja noch Illan gingen auf meinen Sarkasmus ein.

»In jeder Welt entsteht früher oder später eine Untergrundbewegung, die gegen die Funktionale kämpft«, begann Illan. »In eurer Welt dürfte sie vermutlich ebenfalls existieren - aber ich kenne hier niemanden. Da war nur Nastja, und wir haben nichts weiter gemacht, als die Leute um uns herum genau zu beobachten ... Aber da ist auch noch meine Welt, Veros, dann gibt es Antik ... und ...« Sie stockte kurz. »... und Feste. Eine Welt, in der die Menschen über die Funktionale Bescheid wissen.«

»Ist das da, wo die Pfaffen allen den Kopf verdrehen?«, fragte ich mit jener Lässigkeit, die nur Menschen zeigen, die irgendwie gläubig sind, sich dessen aber gleichzeitig schämen.

»So kann man’s auch ausdrücken«, bestätigte Illan. »Aus ihrer Sicht sind unsere Welten eine Verunglimpfung der göttlichen Vorsehung. In den Funktionalen sehen sie Handlanger des Teufels, die auf dem Scheiterhaufen verbrannt gehören.«

»Entzückende Bundesgenossen«, stellte ich fest.

»Sie sind sehr stark.« Illan weigerte sich hartnäckig, auf meinen ironischen Ton einzugehen. »Wenn du es schaffen würdest, sie davon zu überzeugen, dass die Zerschlagung Arkans das Ende der Herrschaft der Funktionale bedeutet und alle Welten von der teuflischen Versuchung befreit, würden wir wichtige Verbündete gewinnen.«

»Eine Horde von Pfaffen mit Weihrauchschalen?«

»Kirill! Feste ist die Welt, in der sich die Biotechnologien durchgesetzt haben. Dort hat die Kirche es geschafft, sich die ganze Welt untertan zu machen ...«

»Stopp«, fiel ich ihr ins Wort. »Welche Kirche?«

»Das ist ja das Gute: unsere. Also, zumindest eine christliche. In Detailfragen gibt es erhebliche Differenzen, aber insgesamt ist es etwa wie die katholische Kirche zur Zeit der Renaissance.«

»Ihr Einfluss ist also bereits nicht mehr ganz so stark?«

»Keinesfalls. Die Kirche ist im Gegenteil dermaßen stark, dass sie unterschiedliche Glaubensrichtungen zulässt. Sie studiert sie, wenn du so willst.«

»Das ist wie in den ersten Jahren nach der Revolution in Russland, als noch ziemlich viel Gedankenfreiheit zugelassen wurde«, mischte sich Kotja ein. »Solange du die Hauptpostulate der Bolschewiken nicht angefochten hast, konntest du jeder philosophischen Richtung anhängen und dir absolut irrsinnige Gesellschaftsentwürfe einfallen lassen. Das ist kein Zeichen von Schwäche, sondern von Stärke ...«

»Was wir am wenigsten begreifen können, ist ihr Verzicht auf jegliche technische Entwicklung«, bemerkte Illan. »Soweit ich es verstehe, handelte es sich dabei ursprünglich wie gehabt um ein Experiment der Arkaner, bei dem sie jedoch endlich mal den Kürzeren gezogen haben: Die Herrscher von Feste haben von ihrer Existenz erfahren, das Ganze in den falschen Hals gekriegt - und daraufhin angefangen, Jagd auf jeden Fremden zu machen. Dabei sind sie übers Ziel hinausgeschossen. Statt Technik haben sie jetzt Tiere ... sehr seltsame Tiere, wenn du mich fragst ...«

»Kurz gesagt, sie haben eine Art Hunde, die Fremde wittern«, warf Kotja ein. »Jeder Besucher aus einer fremden Welt riecht ein klein wenig anders - und wird sofort verhaftet.«

»Und verbrannt?«

»Ja.«

»Vielen Dank, Freunde!«

»Wart’s doch erst mal ab!« Kotja fuhrwerkte mit den Händen herum. »Wir haben das alles bereits durchdacht!«

»Du glaubst doch nicht wirklich, wir würden dich in den sicheren Tod schicken?«, fragte Illan. »Wir haben einen völlig ungefährlichen Weg ausgearbeitet.«

»Auf Veros gibt es einen Zöllner. Andrjuscha«, setzte mich Kotja in Kenntnis. »Er kann das alles regeln.«

»Andrjuscha?«

»Veros besteht schließlich nicht nur aus Kimgim. Da ist beispielsweise auch noch Orysaltan.«

»Oryssultan«, korrigierte Illan ihn.

»Hör mal, du bist diejenige, die das nicht richtig ausspricht!«

Es gab ein kurzes Wortgefecht zwischen den beiden, einigen konnten sie sich trotzdem nicht.

»Egal.« Kotja strich als Erster die Segel und wandte sich wieder mir zu. »Sie sprechen jedenfalls fast eine Art Russisch, du wirst sie also verstehen. Andrjuscha ist für den Kontakt zwischen den Welten der Funktionale und den Herrschern auf Feste zuständig.«

»Was für Kontakte? Wenn die da alle Fremden auf Scheiterhaufen ...«

»Was heißt das schon? Glaubst du etwa, zwischen der UdSSR und Deutschland hätte es während des Zweiten Weltkriegs keine geheimen Kontakte und Vermittler gegeben? Krieg hin oder her, die Regierungen bleiben in Kontakt.«

»Schon verstanden. Und wer ist dieser ... Andrjuscha?«

»Er wird dafür sorgen, dass du mit den Machthabern von Feste verhandeln kannst. Auf meine Bitte hin, schließlich bin ich immer noch Kurator. Wenn auch in einer anderen Welt. Er kennt mich, und das ist keine große Sache. Worüber du mit den Leuten reden willst, interessiert ihn nicht. Wir werden uns die Kanäle zunutze machen, die der Feind angelegt hat!«

»Der Feind?« Allmählich reichte es mir. »Kotja, sprich bitte Klartext. Was hast du vor? Plagt dich dein Gewissen so sehr, dass du auf Teufel komm raus gegen deine ehemaligen Herren vorgehen willst? Das nehm ich dir nicht ab! Sicher, du bist ein anständiger Kerl. Als du versucht hast, mich zu erwürgen, lag in deiner Miene ein Ausdruck echter Trauer ... Aber du kannst doch nicht ernsthaft auf einen Sieg hoffen, Kotja! Du bist ein Kurator mit eingeschränkter Zuständigkeit. Wer ich bin, ist völlig unklar, was ich vermag, ebenfalls. Uns steht eine ganze Welt gegenüber, außerdem dreihunderttausend Funktionale bei uns auf der Erde! Hoffst du vielleicht, ich würde bei diesen Pfaffen draufgehen, ohne dass du dir die Hände schmutzig zu machen brauchst?«

»Kirill!«, schrie Illan, die sich zwischen uns stellte, als befürchte sie, wir würden gleich aufeinander losgehen. »Lass uns endlich ausreden! Wir haben einen guten Plan!«

»Die Machthaber auf Feste träumen davon, die unterworfenen Welten von Arkan loszueisen«, setzte mich Kotja ins Bild. »Bisher ist ihnen das noch nicht geglückt. Dafür bräuchten sie nämlich einen Mann in einer fremden Welt. Im Idealfall einen eigenen Kurator. Wenn ich mich bereit erklären würde, mit ihnen eine Allianz einzugehen, dann würden meine Möglichkeiten und ihre Biotechnologien die Sache entscheiden. Arkan würde die Kontrolle über unsere Erde verlieren! Wir könnten sie endlich selbst regieren!«

»Wir? Oder die Menschen?«

»Mhm ...« Kotja grinste. »Sind wir beide etwa keine Menschen?«

»Dann würden wir über die Ressourcen der Erde verfügen und könnten - eventuell zusammen mit Feste - auch meine Welt von den Arkanern befreien«, sagte Illan. »Wir müssen nur aufpassen, dass wir Feste auf Abstand halten und ihnen nicht erlauben, die Stelle Arkans einzunehmen ...«

»Dann hast du also nicht vor ...« Ich stockte, denn ich wollte die Sache möglichst auf den Punkt bringen. »... alles kurz und klein zu schlagen? Und beispielsweise die Funktionale zurück in normale Menschen zu verwandeln? Oder alle Menschen in Funktionale? Oder ... eben alles kaputtzumachen?«

»Wozu?«, fragten Kotja und Illan unisono. Sie blickten sich an.

»Du hast zu viele alte Filme geguckt«, meinte Kotja.

»Revolutionsfilme. Warum sollten wir ein gut funktionierendes System zerstören?«

»Um die Funktionale ... vor der Sklaverei zu bewahren.« Ich guckte zu Illan rüber.

Die zuckte bloß mit den Achseln. »Die Sklaverei besteht doch nur darin, dass wir von Arkan aus kommandiert werden. Dass sie uns mit der Leine an unsere Funktion ketten. Ansonsten ... ist an dem System doch nichts auszusetzen. Gefällt es dir etwa nicht, ein Funktional zu sein?«

War dem so?

Ich erinnerte mich daran, wie sich mein Turm nach und nach ausgestattet hatte. Meine Festung, die Burg eines Zöllners. Wie sich die Türen in andere Welten geöffnet hatten. In das patriarchale, viktorianische und verwunschene Kimgim ... wobei es auf Veros, dieser Welt unabhängiger Stadtstaaten, ja noch Tausende von anderen interessanten Orten gab. Die geheimnisvolle Weiße Rose fiel mir ein, die sich als Hotel herausstellte ... wo ich in eine Schlägerei reingerasselt war, eine absolut filmreife Prügelei, bei der ich unbesiegbar und elegant wie James Bond agiert hatte. Dann war da noch die Monsterkrake, die ans Ufer gekrochen kam, oder der Panzer, betrieben auf Alkoholbasis, der uns entgegendonnerte ... Und wie laut, lustig und lecker es in Felix’ Restaurant gewesen war ...

Und das war nur eine Welt von vielen!

Es gab ja auch noch den Planeten Reservat mit dem warmen Meer und den endlosen Wäldern, der sauberen Luft und den in der Nacht funkelnden Sternen ...

Oder Antik, diese Realität gewordene Utopie ...

Welten, Welten, Welten ...

Ein Multiversum, ein ganzer Fächer von Welten, der sich vor mir geöffnet hatte.

»Doch, das hat mir gefallen«, antwortete ich. »Wenn sie ... wenn sie nur Nastja nicht ermordet hätten ...«

»Ich habe die Iwanowa falsch eingeschätzt«, gestand Kotja bitter ein. »Das ist meine Schuld. Allerdings habt ihr es auch geschafft, innerhalb kürzester Zeit alle gegen euch aufzubringen, aber ...« Er schien den Gedanken förmlich abzuschütteln. »Reden wir nicht mehr davon, Kirill. Davon wird das Mädchen auch nicht wieder lebendig. Lass uns denen lieber Feuer unterm Arsch machen!«

Ich schaute ihm in die Augen. Kotja senkte den Blick nicht.

»In Ordnung«, erwiderte ich. »Machen wir diese Welt etwas besser. Wenigstens diese ... wenn es nicht auf Anhieb mit allen gelingt.«

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