Neunzehn

Verbündete - in diesem Wort schwingt immer etwas Vorübergehendes mit. Die Verbündeten des Zweiten Weltkriegs haben sich erfolgreich überworfen, kaum dass der Krieg vorbei war, und selbst während des Kriegs haben sie bereits Vorbereitungen für die spätere Konfrontation getroffen. Die Sowjetunion ist zusammengebrochen - und jetzt sind die Beziehungen zwischen den vormaligen Unionsrepubliken weit schlechter als zwischen ehemaligen Feinden. Genauso verhält es sich im Leben normaler, einfacher Menschen. Wie oft verwenden wir denn das Wort »Verbündete«? Freund, Kumpel, Partner - das geht uns leicht über die Lippen. Aber im Wort »Verbündeter« scheint das zukünftige Zerwürfnis bereits angelegt. Er ist kein Freund. Wir haben nur gemeinsame Interessen. In einem bestimmten Bereich und in einer bestimmten Phase.

Warum musste die Sowjetunion sich auch unbedingt Union nennen?! Union, Bund, Verbündeter ... Damit hatten sie eine linguistische Tretmine für die Zukunft gelegt. Dabei hätte man nur mal nachschlagen müssen, was es mit dem Wort »Verbündeter« auf sich hat! Vor gut zweitausend Jahren wurden die von Rom unterworfenen Provinzen Italiens so genannt, die Rom unablässig Hilfe leisten mussten, selbst aber völlig rechtlos dastanden ...

Ich fuhr zusammen, als ich mir klarmachte, dass ich über ein Thema nachdachte, von dem ich bisher nicht den blassesten Schimmer gehabt hatte. Meine Funktionalsfähigkeiten meldeten sich zurück.

Also war ich gerade dabei, eine Wahl zu treffen.

Der Teil meines Ichs, der, wenn ich dem Roboter glauben durfte, in keiner Beziehung zum Fleisch und Blut eines Menschen stand, meine »veränderte Wahrscheinlichkeit«, erwachte und ermöglichte mir liebenswürdigerweise den Zugriff auf enzyklopädisches Wissen.

Ich zögerte nicht lange.

»Gut. Wir sind Verbündete.«

»Ich brauche die Hilfe eines Menschen.« Der Roboter erhob sich. »Der Eingang zu dem Gebäude öffnet sich nur für Menschen. Und ich falle nicht unbedingt unter den Begriff Mensch. Ich musste warten, bis Menschen kamen, damit ich eventuell zusammen mit ihnen ins Gebäude gelangte.«

»He!« Ich sprang ebenfalls auf. »Dann hast du es also schon mal versucht?«

»Ja. Manchmal kommen Menschen hierher. Abenteurer, Glücksritter und Schatzsucher. Wenn es mir gelang, sie aufzuhalten, habe ich auf ihre Fragen geantwortet und ihnen vorgeschlagen, gemeinsam zum Turm zu gehen.«

»Waren es viele?«

»62 Menschen. Die Übereinstimmung mit der Zahl der Jahre, die ich schon hier bin, ist purer Zufall. Manchmal kam drei oder vier Jahre lang niemand. Die längste Pause ging deinem Erscheinen voraus, neun Jahre.«

»Und? Was haben diese Leute gefragt? Was hast du ihnen geantwortet?«

»Sie haben unterschiedliche Fragen gestellt: Ob es im Turm einen Schatz gibt, ob die Chance besteht, in den Turm hineinzugelangen und lebend aus ihm herauszukommen. Ich habe geantwortet, dass es einen Schatz gibt und die Chance besteht.«

»Und sie haben sich alle einverstanden erklärt?«

»Sie hatten keine Wahl. Ich habe ihnen klipp und klar gesagt, ich würde es nicht zulassen, dass Informationen über mich bekannt würden. Entweder wir gehen gemeinsam - oder sie würden auf der Stelle sterben. Sie haben es vorgezogen, zum Turm zu gehen.«

»Und dann sind sie gestorben?«

»Ja.«

»Na großartig!« Ich starrte in die ausdruckslosen Glasaugen. »Du bist kein guter Roboter, nicht wahr?«

»Ich habe ein Ziel. Bist du immer gut?«

»Aber ich ...« Ich verstummte. Wer war denn dieses Ich überhaupt? Ein Mensch? Dann hatte ich auch einen Menschen vor mir, nur in einem Metallkörper. Und diesen Menschen banden keine Gesetze, er war frei.

»Sie sind hierhergekommen und wussten genau, welches Risiko sie eingehen und dass sie sterben können. Sie waren auf der Suche nach Abenteuern und Schätzen. Sie haben ihr Abenteuer bekommen, und sie hatten die Chance, einen Schatz zu finden. Ich habe ein ehrliches Spiel gespielt.«

»Hättest du mich auch vor diese Wahl gestellt?«

»Wenn du abgelehnt hättest, natürlich. Aber du hast nicht abgelehnt. Du willst selbst dahin. Stimmt doch, oder?«

Logik ist eine feine Sache. Wenn auch eine zweischneidige.

»Warum sind sie gestorben?«

»Ich weiß es nicht genau. Im Gebäude gibt es ein Kontrollzentrum am Eingang. Es lässt Menschen ein und unterzieht sie einer Prüfung. Diese Situation habe ich nur teilweise unter Kontrolle. Der eine hält sich länger, der andere wird auf der Stelle getötet. Da du ein Funktional bist ...«

»Ein ehemaliges!«, widersprach ich sofort.

Der Roboter sagte zunächst gar nichts. Nach einer Weile wiederholte er nur hartnäckig: »Ehemalige gibt es nicht. Du bist ein Funktional, und du hast wesentlich bessere Chancen durchzukommen. Ich schätze deine Chancen auf eins zu drei.«

»Vielen Dank, das tröstet mich ... Und auf welcher Grundlage fußt diese Prognose?«

»Die ist mir einfach so eingefallen.«

Ich konnte nicht anders, ich brach in Gelächter aus. Ein sterbender, aber rachedurstiger Metallklotz mit Sinn für Humor und der festen Absicht zu scherzen! Ein großartiger Verbündeter! Der hatte mir gerade noch gefehlt!

»Fühlst du dich jetzt besser?«, fragte der Roboter, der geduldig abgewartet hatte, bis mein Lachanfall verebbt war.

»Ja, ein bisschen ...« Ich hob die MPi vom Boden auf. »Ist es weit?«

»Fünf Minuten. Du bist fast bis zum Gebäude gelangt.«

»Kannst du mir noch einen guten Tipp geben? Wie ich dieses ... Kontrollzentrum überstehe?«

»Nein. Ich weiß nicht einmal, ob du besser lügen oder die Wahrheit sagen solltest.«

»Also werden mir Fragen gestellt?«

»Anscheinend ja. Anscheinend verfügt das Gebäude über einen eigenen Verstand.«

»Einfach toll! Wir diskutieren das in aller Seelenruhe in der Nähe von diesem Ding ... Was, wenn es uns belauscht?«

»Ich glaube, das wäre bedeutungslos.«

»Dann lass uns gehen«, verlangte ich scharf. »Ich hab genug davon ... hier Phrasen zu dreschen.«

»Wenn du das Kontrollzentrum passiert hast, musst du einen Befehl erteilen, dass man mich durchlässt«, sagte der Roboter.

»Nur mal angenommen, ich erteile den Befehl nicht? Was machst du dann?«

»Dann bleibe ich draußen«, erwiderte der Roboter niedergeschlagen. »Wenn die Frist meiner Existenz abläuft, werde ich zu diesem Abgrund zurückkommen, denn er entspricht meinen Zielen am ehesten, und mich in die Tiefe stürzen. Es wäre unvernünftig, etwas zurückzulassen, das die Einwohner entdecken könnten. Außerdem würde ich nicht wollen, dass die hiesigen Genies meinen Körper sezieren. Es bleibt mir nichts anderes übrig, als dir zu vertrauen.«

»Gehen wir«, sagte ich.

»Folge mir.«

Dem Roboter nachzustiefeln war einfach. Egal, was für eine Kraft und Geschicklichkeit sich in dem Metallkörper verbarg - er war nun mal groß und schwer. Daher wählte er automatisch breite und sichere Wege.

»Gibt es hier Tiere?«, fragte ich.

Aus irgendeinem Grund antwortete der Roboter nicht gleich.

»Ja. Früher lebten hier Wölfe, aber jetzt sind sie verschwunden. Am gegenüberliegenden Hang lebt eine Fuchsfamilie. Die beobachte ich gern.«

»Haben sie keine Angst vor dir?«

»Sie haben sich an mich gewöhnt. Ich bewege mich zwar wie ein Mensch, aber ich rieche nicht so.«

Ich stellte mir vor, wie dieser komische Metallklotz irgendwo völlig erstarrt neben einem Fuchsbau hockt. Stundenlang, tagelang. Absolut unbeweglich. Seine Augen schimmern matt. Irgendwann verlieren die Füchse ihre Angst vor ihm und springen furchtlos an ihm vorbei. Ein alter weiser Fuchs, das Oberhaupt der Familie, nähert sich ihm als Erster und markiert den Metallfuß mit seinem Urin, womit er den Roboter zu einem harmlosen Detail in der Umgebung macht. Der Roboter bewegt sich nicht. Im Frühjahr spielen die jungen Füchse um die in die Erde abgesackten Beine herum. Der Roboter bewegt sich nicht. Nur die Augen, aus denen Regentropfen sickern, funkeln schwach in der Nacht ...

»Es muss hier traurig für dich gewesen sein.«

»Der Krieg ist nirgends ein heiterer Zeitvertreib.«

»Und wer waren die beiden anderen? Deine Freunde?«

»Roboter.«

»Auch ... auf der Grundlage eines menschlichen Bewusstseins?«

»Ja. Auf der Grundlage meiner Kinder, die von den Funktionalen umgebracht worden sind.«

Danach traute ich mich nicht, noch eine Frage zu stellen.

Nach ein paar Minuten zeichnete sich im Nebel allmählich der Wolkenkratzer ab. Zunächst spürte ich Kälte, als ob ein großes schweres Etwas, das teilnahmslos und schweigend in der Luft hing, die im Nebel nicht auszumachende Sonne von mir abgeschirmt hätte. Der Roboter verlangsamte den Schritt.

Die Türme des Wolkenkratzers fasste unten eine Art Stylobat zusammen, ein bogenförmig geschwungenes Fundament, dessen Größe und Form an das Gebäude des Generalstabs auf dem Palastplatz in Petersburg erinnerte. In der Mitte dieses Bogens, dort, wo beim Generalstab die Tordurchfahrt liegt, befand sich hier eine durchsichtige Tür, die so groß war, dass ein Lkw durchgepasst hätte, die sich im Gebäude aber dennoch klein ausnahm. Natürlich war dieses Fundament nicht aus Stein erbaut. Das fugenlose graue Material konnte Beton sein, aber vielleicht gab es in meiner Welt auch gar keine Bezeichnung dafür. Zehn Meter über dem Boden waren Fenster eingelassen.

Ich schaute hoch - und sah im Nebel die einzelnen, gegeneinander verdrehten Türme. Wir standen jetzt mitten in einer gigantischen Röhre, die sich in die Wolken hineinbohrte. Ich hatte den Eindruck, über uns würde, genau wie über dem Auge eines Taifuns, wolkenloser Himmel liegen.

»Der Eingang ist vor dir«, sagte der Roboter. »Wenn ich mich ihm nähere, riskiere ich, zerstört zu werden.«

»Verstehe ...«

»Du gehst zur Glastür. Sie öffnet sich, und du trittst ein. Dir werden ein paar Fragen gestellt. Leider kann ich die Informationen auf keinem mir zur Verfügung stehenden Wege einlesen, denn du musst dich mit dem Rücken zu mir stellen, und die Tür reagiert nicht auf Schallschwingungen.«

»Schade.« Ich holte die Schachtel Zigaretten heraus. Die von der Erde hatte ich bereits aufgeraucht, aber ich hatte das Päckchen mit den hiesigen aufgefüllt.

»Sei ganz ruhig«, meinte der Roboter sanft. »Entspann dich. Du bist im Vorteil, denn du hast das Wesen eines Funktionals, und das Gebäude muss das spüren. Du hast es sofort gesehen. Die anderen, die ich hierhergebracht habe, mussten sich, selbst als sie schon davorstanden, erst eine Weile einsehen, damit sie die Wirklichkeit um sich herum wahrnahmen. Ich glaube, du hast eine Chance.«

»Danke.« Ich zog ein paar Mal tief an der Zigarette. »Das beruhigt mich ungeheuer.«

»Zu schießen würde dir nichts nützen. Ich denke, du kannst die MPi ruhig behalten, aber dem Gebäude wird sie keinen Schaden zufügen. Und vergiss nicht, mich reinzulassen.«

»Keine Angst, Eiserner«, murmelte ich. »Wird schon alles schiefgehen.«

Darauf erwiderte er kein Wort. Ich nahm einen letzten Zug, warf die Zigarette weg und ging zur Tür.

Das Gebäude wirkte natürlich bedrückend. Die Wolkenkratzer auf der Erde, selbst die höchsten von ihnen, sind von anderen Bauten umgeben. Und die riesigen ägyptischen Pyramiden sind, obwohl in der Wüste erbaut, Fleisch vom Fleisch der Erde. Aber dieses Bauwerk auf der Spitze des Berges wirkte absolut deplatziert. Als ob ein Kind gespielt, an einer absolut unpassenden Stelle einen Turm aus Bauklötzen gebaut und dann gesagt hätte: »Der bleibt hier stehen!«

Die Glastür war völlig durchsichtig und sauber. Dahinter bemerkte ich ein ziemlich großes Foyer mit sanft leuchtenden Deckenlampen. Mitten im Foyer stand ein Tresen, der mir etwa bis zur Brust reichte. Das Ganze erweckte den Eindruck, als käme gleich ein freundlicher Portier, würde sich dahinter aufbauen und mich fragen: »Haben Sie reserviert?«

Ja, ich hatte reserviert. Seit dem Zeitpunkt, als ich nicht mehr in meine eigene Wohnung kam. Seit mein Hund mich verbellt hatte. Seit mein Ausweis sich in meinen Händen aufgelöst und mein Vater meine Stimme nicht mehr erkannt hatte. Ich hatte ein Recht, durch diese Tür zu gehen. Hindurchzugehen - und zu tun, was ich für nötig hielt!

Als mich nur noch wenige Schritte von der Tür trennten, schien sich auf dem Glas ein Riss abzuzeichnen. Die Flügel glitten gleichmäßig seitwärts auseinander. Ach, wie primitiv! Hätte sich die Tür nicht wenigstens in Luft auflösen, im Boden verschwinden oder sich neu einstellen können wie die Blende bei einem Fotoapparat? Aber nein: Schiebetüren. Wie in einem Eisenbahnwaggon ...

Ich schluckte meine Spucke runter und betrat das Foyer.

Hier war es ruhig und warm. Die Luft zitterte leicht, eine unsichtbare Klimaanlage lief. Unwillkürlich hielt ich nach den früheren Besuchern Ausschau. Was hatte ich denn geglaubt vorzufinden? Vermoderte Körper? Skelette? Natürlich entdeckte ich nichts dergleichen.

Ich machte einen weiteren Schritt.

Hinter mir schloss sich die Tür surrend wieder.

»Gehen Sie zum Tresen.«

Die Stimme war leise, höflich, aber im Unterschied zur Stimme des Roboters absolut künstlich. Geschlechtslos und geschliffen. Waschmaschinen und Staubsauger sprechen so.

»Ja«, antwortete ich aus irgendeinem Grund, bevor ich weiterging.

Der Tresen bestand aus hellem Stein oder Plastik, das Stein imitierte. Er war glatt, eine durchgängige Fläche, ohne irgendwelche Knöpfe oder andere Details.

»Legen Sie Ihre Hände auf den Tresen.«

Ich befolgte den Befehl.

»Nennen Sie Ihre Welt.«

»Erde. Genauer Erde-2. Demos.«

»Das stimmt. Nennen Sie Ihre Funktion.«

»Zöllner.«

Eine Pause. »Das stimmt nicht«, erklang es in unveränderter Gleichgültigkeit. »Die Verbindung zu Ihrer Funktion ist durchtrennt. Sie sind kein Funktional mehr.«

»Man hört nicht auf, ein Funktional zu sein«, wandte ich schnell ein. »Ich bleibe eine veränderte Wahrscheinlichkeit.«

Ein sekundenkurzes Zögern. »Das stimmt. Nennen Sie Ihre Funktion.«

Was sollte das? Machte der sich über mich lustig? Ich sah an die Decke, wo die Stimme herkam. Nein, auf Humor oder Ironie durfte ich hier nicht rechnen. Das war wirklich eine Maschine, ohne jeden Schatten eines menschlichen Gefühls.

»Ich bin ein Funktional, das seine Funktion nicht kennt.«

Eine lange Pause. »Das stimmt. Zweck des Besuchs?«

»Die Erkundung des Gebäudes.«

»Das stimmt. Dauer des Aufenthalts?«

»Unbestimmt«, versuchte ich mich auf seinen Ton einzulassen.

»Das stimmt.«

Sollte das wirklich so einfach sein? Brauchtest du bloß ein Funktional zu sein - und schon wurdest du eingelassen?

»Begründung?«

Ich schwieg kurz, dann antwortete ich: »Einschätzung der Zweckmäßigkeit, das Gebäude zu zerstören.«

»Das stimmt.«

Stille.

Von einem Fuß auf den anderen tretend, wartete ich. Irgendwo in den Tiefen des Gebäudes formulierte der Teil, der imstande war, eine Entscheidung zu treffen, seine nächste Frage.

»Haben Sie die Möglichkeit, das Gebäude zu zerstören?«

»Nein.«

»Das stimmt.«

Ich wartete auf weitere Fragen, doch die erfolgten nicht. Stattdessen ging der Tresen zwischen meinen Händen auseinander. Ein elastischer Schlauch schlängelte sich heraus, an dessen Ende ein Mundstück saß. Ich zuckte zurück, aber meine Hände waren förmlich an den Tresen festgeklebt.

»Öffnen Sie den Mund und beißen Sie auf den Aufsatz.«

»Wozu?«, schrie ich panisch.

»Zur Desinfektion«, erklärte die Stimme kalt. »Eine Standardprozedur, für Funktionale ohne Gefahr.«

»Und für einen Menschen?«

»Führt sie in einem Zeitraum zwischen dreißig Sekunden und sechs Stunden, zwölf Minuten zum Tod.«

Ich bog den Kopf zur Seite, um dem schlingernden Schlauch zu entkommen.

»Sie verweigern die Desinfektion?«

Das graue, runde Mundstück erstarrte vor meinem Gesicht. Mir fielen kaum erkennbare Einbuchtungen an ihm auf.

Hatte da jemand, gemartert von unerträglichen Zahnschmerzen, reingebissen?

Ich entkam nicht. Meine Hände waren noch immer wie festgeklebt. Und selbst wenn ich von dem Tresen losgekommen wäre - wohin willst du von einem U-Boot schon fliehen?

»Ich wiederhole die Frage: Sie verweigern die Desinfektion?«

Ob das die Standardprozedur war, um Teilfunktionale auszusieben? Oder eine Form, Lügner zu bestrafen? Oder fragte die Maschine ohne jeden Hintergedanken?

Wenn ich kein Funktional mehr war, würde ich sterben. Meine Funktionalsfähigkeiten wurden nur aktiviert, wenn ...

»Habe ich denn eine Wahl?«, schrie ich.

»Ja. Sie haben das Recht zu verweigern.«

»Ich wiederhole die Frage!«, brüllte ich. »Habe ich eine Wahl und sind die Folgen meiner Entscheidung wichtig für mein Schicksal? Verstehst du mich, du elektronischer Idiot?«

Und sofort begriff ich, dass das nicht zutraf. Ich spürte, wie die in den Wänden des Gebäudes liegenden Nervenzentren sich in einem Energiestrom entzündeten, als sie meine Frage analysierten und versuchten, ihren geheimen Sinn zu erfassen. Von wegen Elektronik! Von wegen flüssige Optoneuronenschaltkreise des Universalroboters Kark-E von Erde 46, der die Persönlichkeit des Dichters der Deprivationsschule Anatol Lars in sich aufgenommen hatte! Das war kein Computer, kein Automat, kein Roboter, keine Persönlichkeit, das, was in den Gebäuden der Funktionale lebte, das, was die Kräfte der an sie gekoppelten Menschen speiste, was aus dem Nichts Energie gewann und Informationen in Energie umwandelte. Eine Veränderung der ultrafeinen Strukturen der Materie, das Umkippen eines Elektronenspins von einhalb nach eins oder null, was in unserer Realität zur Überführung des Elektrons aus dem Wahrscheinlichen ins Unmögliche oder Unzulässige führte. Die Elementarteilchen der Materie verwandelten sich in Elemente eines ungeheuer komplizierten Schaltkreises, indem sie irgendwo jenseits der realen Welt in Wechselwirkung traten, dort, wo die Heisenberg’sche Unschärferelation regiert, erweitert und korrigiert durch das Imanishi-Kontinuum ...

Ich stöhnte auf, als diese Informationen, gezogen aus Energie, entstanden aus dem Nichts, mein Hirn überfluteten. Ich hatte zu viel auf einmal gewollt. Ich ertrug das nicht, bewältigte und verstand die Informationen nicht, die die Datenbank der Funktionale mir so bereitwillig zur Verfügung stellte. Wenn ich etwas stärker gewesen wäre, etwas erfahrener - hätte ich bewusst auf diese Datenbank zugreifen können. Und zum Beispiel die Anfrage eingeben können, was ich anstellen musste, um die Funktionale zu besiegen.

Aber diese Kraft hatte ich nicht.

»Ja, du hast eine Wahl, deren Folgen wichtig sind.«

»Desinfizier mich!«, verlangte ich und rammte die Zähne ins Mundstücke.

Das war immer noch erträglicher. Besser diesen giftigen Müll, der mir den Mund ausspülte, als jenes flimmernde Nervennetz des Gebäudes, das sich zwischen der Realität und dem Nichts spannte. Besser dieser Mist als der Versuch zu verstehen, was ich nicht verstehen konnte. Wenn sie mich schon vollpumpten, dann lieber mit Gift als mit Informationen ...

Aah!

Ich hätte aufgeschrien - wenn ich gekonnt hätte! Aber das Mundstück bohrte sich mir tief in den Mund hinein, nicht mal meinen Kopf konnte ich noch bewegen. Eine ekelhaft bittere Flüssigkeit fraß sich in meine Lippen, ein dickes klebriges Etwas rann mir die Kehle hinunter. Sobald ich merkte, dass ich diese Lauge oder Säure schluckte und all meine Geschmacksnerven explodierten und wütend »Gift!« schrien, versuchte ich, mich vom Tresen loszureißen.

Mit krampfartigen Bewegungen pumpte mir der Schlauch mindestens einen halben Liter Flüssigkeit in den Mund, bevor er versiegte und in den Tresen zurückglitt. Gleichzeitig wurden meine Hände freigegeben. Ich fiel auf die Knie, drehte den Kopf und wollte das Gift ausspucken. Mein Magen krampfte sich zusammen, aber der klebrige Scheiß hatte nicht die geringste Absicht, meinen Organismus wieder zu verlassen. Ich spürte, wie mir das Gift die Speiseröhre und den Magen verbrannte, ins Blut eindrang, mein Herz und meine Leber wegätzte ...

Ein Mensch würde diese Prozedur nie überstehen.

Entweder würde er in Sekunden an den entsetzlichen Schmerzen sterben, an einem Infarkt, oder er würde in wenigen Stunden sterben, bei lebendigem Leibe verfault.

Ich war zum Teil ein Mensch, zum Teil eine lebende Maschine, genau wie der geduldig draußen ausharrende Roboter Anatol Lars. Mein Körper war in ein instabiles System verwandelt worden, das zwischen den Realitäten balancierte, genau wie meine Zollstelle, genau wie dieses fächerförmige Gebäude. Mein Körper brachte einiges zustande. Er ließ eingebüßte Extremitäten nachwachsen, spuckte Gift aus, ertrug Feuer. Er war zu allem fähig, weil es im unendlichen Ozean der Zeit, im aufgeklappten Fächer der Realitäten alles Mögliche gab - neue Körper, ungiftige Gifte, sich regenerierende Organe, Menschen, die zum Frühstück Säure tranken, und Menschen, die zum Dessert Glas aßen -, weil man in diesem Meer der Wahrscheinlichkeiten Kugeln mit bloßen Händen abfing und eine Berührung von Daumen und Zeigefinger Blitze aus den Nägeln schießen ließ, weil in diesen unzähligen Welten, von denen die Funktionale gerade mal den Rand erfasst hatten, Undenkbares möglich und Mögliches unmöglich war. Was war verwunderlich daran, dass die lebend verbrannten Zellen meines Körpers sich erneuerten? Was war seltsam daran, dass das ätzende Gift sich in Wasser verwandelte, das sich mit meiner Spucke vermengte?

Aber vielleicht war auch alles ganz anders. Komplizierter und einfacher zugleich. All die Abermilliarden von Welten - die zugleich eine einzige Welt bildeten. All die Abermilliarden von Kirill Maximows - die ein und derselbe Kirill Maximow waren. Einem Einzigen kannst du nichts anhaben, solange er Teil einer Gemeinschaft ist, denn dann erneuern sich die ermordeten Zellen, wenn auch nur, weil in der Waagschale auf der anderen Seite Abermilliarden von gesunden, lebenden, völlig unvergifteten Kirills liegen. Gibst du einen Tropfen Gift in den Ozean, löst er sich einfach im Wasser auf, verdampft ein Tropfen Meerwasser, ersetzt ihn ein neuer. Man konnte mich nicht umbringen, wenn man nicht alle Kirills auf einmal umbrachte, wenn man nicht alle Welten auslöschte, wenn man das Universum nicht bis in die Grundfesten erschütterte ...

Einen kurzen Moment lang erfasste ich, dass es etwas Unmögliches tatsächlich nicht gab. Dass alle Spielregeln, die in unseren Welten aufgestellt worden waren, alle Axiome - Feuer brennt, der Himmel ist blau, Wasser nass - bloß einen Zufall darstellten.

Der Himmel dröhnt.

Feuer wiegt schwer.

Wasser ist kratzig.

Alles ist möglich.

Ich spuckte dicken, blau-rosafarbenen Speichel aus und wischte mir die Lippen ab. Dieser beschissene Sabber!

»Wasser?«, vernahm ich eine desinteressierte Stimme.

Auf dem Tresen erschien ein Glas. Ein ganz normales Trinkglas mit Wasser. Ich stand auf und trank es in einem Zug aus.

»Noch mehr Wasser?«

»Danke, nicht nötig«, krächzte ich. »Ein zweites Glas würde mir auch nicht helfen, diesen widerlichen Geschmack loszuwerden ...«

Obwohl meine Kehle noch brannte, ließ der Schmerz bereits nach. Ich hörte wieder auf, ein Funktional zu sein, hatte aber immerhin überlebt. Ich hatte gewonnen.

»Kann ich reinkommen?«

»Sie sind ein Funktional. Sie haben das Recht, das Museum zu betreten. Der Kustode ist informiert.«

»Ein Museum? Welcher Kustode?«, fragte ich.

Eine Antwort erhielt ich nicht.

»He ...« Ich blickte zur Tür. »Mich hat ein Roboter begleitet. Er soll reinkommen!«

»Der Roboter kann eintreten!«

Ich trat zur Tür, die lautlos aufging, genau wie die Tür in einem Supermarkt. Ich winkte ihn heran.

Der Roboter setzte sich in Bewegung und wechselte so abrupt, wie es kein Lebewesen vollbrächte, von der Reglosigkeit in den Sprint. Die schweren Schritte ließen die Erde beben. Ich trat zur Seite - und der massive Metallberg flog an mir vorbei, stoppte, drehte sich langsam um und betrachtete das Foyer.

»Sie haben uns reingelassen, Anatol.«

»Woher weißt du meinen Namen?«

»Ich musste zum Funktional werden, um durchzukommen. Zöllner sind an eine Datenbank angeschlossen. Eine verdammt gute Datenbank.«

»Mich hat schon lange niemand mehr beim Namen genannt.« Der Roboter wandte sich ab, als hielte er unser Gespräch für beendet, umrundete den Tresen und lief die Wände ab. »Nenn mich lieber Roboter.«

»Gut. Ich weiß, wo wir sind. Das ist ein Museum.«

Der Roboter sagte nichts. Er beendete seine Inspektionstour und baute sich an der Wand gegenüber der Tür auf.

»Komm her«, verlangte er. »Hier gibt es eine Geheimtür, die muss sich vor dir öffnen.«

Ich stellte mich neben ihn, und die Wand teilte sich und glitt genauso seitlich auseinander wie eine Tür.

Der Roboter stürmte sofort durch den Spalt, als fürchte er, er könnte daran gehindert werden. Ich folgte ihm.

Ich hatte den Eindruck, der gesamte Stylobat sei im Innern hohl. Eine Schachtel ohne Deckel, ganz ohne Stockwerke, aus der die Türme herauswuchsen. Ich blieb stehen, um nach rechts und nach links zu sehen. Der Roboter stapfte nach rechts, ich aus Protest nach links.

Ein sehr breiter Gang. Fünfzehn Meter über mir die Decke. Gleichmäßige graue Wände, Lampen warfen ein kompliziertes Muster an die Decke. In gleichmäßigen Abständen voneinander waren oben offene, rechteckige Plattformen über den Boden verteilt, die etwa drei mal fünf Meter maßen und in Hüfthöhe eine Haltestange aufwiesen.

Ob das Fahrstühle waren?

Sah so aus. Die Decke über ihnen schien aus einem Guss zu sein, aber das besagte nichts. Und wenn ich mich nicht irrte, gehörte zu jedem Turm ein eigener Aufzug.

Ich ging zu der Plattform, die mir am nächsten lag. Die Wand dahinter war nicht glatt, sondern zeigte Flachreliefs. Kirchen, Gotteshäuser, Menschen, die sich auf ein Knie niedergelassen hatten, brennende Scheiterhaufen, Herden von irgendwelchen Monstern, die auf die Menschen zustürmten.

»Feste«, verkündete ich sicher.

Ich hörte schwere Schritte. Der Roboter kam zurück. Er stellte sich neben mich.

»Jeder Turm hat ein eigenes Transportnetz«, erklärte er. »Die Mechanismen gehorchen mir nicht.«

»Wohin willst du? In diesem komischen Museum steht jeder Turm für eine Welt. Willst du eventuell das Leben der Stadtstaaten auf Veros kennenlernen? Oder lieber die Tierwelt auf Reservat?«

»Folge mir.«

Ich stiefelte ihm nach. Das war genauso gut, wie die Exkursion in die andere Richtung fortzusetzen oder mich nicht von der Stelle zu rühren.

Wir gingen den Korridor bis zum entgegengesetzten Ende hinunter, bis zur Plattform links außen. Dort blieb der Roboter stehen.

»Hier gibt es keine Piktogramme oder Zeichnungen. Das könnte der Turm fürs Personal sein.«

Ich zuckte mit den Achseln. In meinem Innern hatte sich irgendwie Enttäuschung breitgemacht. Ein Museum ...

»Schauen wir mal nach.«

Wir betraten die Plattform. Nichts geschah.

»Gib den Befehl«, sagte der Roboter.

»Nach oben, schnell!«, befahl ich gehorsam. Zunächst rührte sich gar nichts.

Dann teilte sich über uns die Decke, es öffnete sich ein schmaler Schacht, der genau die Maße des Fahrstuhls hatte. Er krümmte sich, dem Verlauf des Turms folgend.

»Vielleicht ist hier ...«, setzte der Roboter an.

In dem Moment hob sich die Plattform in die Luft. Es gab keine Seile, wir schwebten einfach immer höher und höher hinauf, zudem so schnell, dass meine Beine einknickten. Die Luft drückte mit voller Wucht auf die Schultern, immer stärker und stärker, bis ich mich nicht mehr aufrecht halten konnte ... Ich hockte mich hin und klammerte mich am Geländer fest.

Der ehemalige Dichter stand reglos da, und hätte sein Metallgesicht Gefühle ausdrücken können, dann würde ich es Triumph nennen.

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