Sechzehn

Schon seit längerem habe ich den Eindruck, dass die kurze Periode vorüber ist, in der das Lesen von Büchern eine allgemein verbreitete Unterhaltung war. Der Film, egal, wie sehr er sich das wünschte, stellte keine echte Konkurrenz dar, denn ein Kinobesuch war immer ein besonderes Erlebnis, während ein Buch stets zur Hand war. Der Fernseher konnte es selbst mit Farbe und Riesenbildschirm nicht allen recht machen, dafür hätte die Zahl der Kanäle der Zahl der Bevölkerung entsprechen müssen.

Videos jedoch und später der Computer haben dem Buch den entscheidenden Schlag versetzt. Filme sind Bücher für geistig Arme. Für diejenigen, die nicht in der Lage sind, sich einen Krieg der Welten vorzustellen, sich auf die Brücke der Nautilus zu versetzen oder ins Arbeitszimmer von Nero Wolfe. Ein Film ist eine breiige Kost, reich mit dem Zucker der Spezialeffekte gesüßt, die man nicht zu kauen braucht. Mund auf und runtergeschluckt! Ähnlich verhält es sich mit Computerspielen. Die sind ein lebendiges Buch, bei dem man die Wahl hat, auf wessen Seite man kämpft: »für die Kommunisten oder für die Bolschewiken«.

Damit hat das Lesen seinen ursprünglichen Charakter zurückgewonnen. Wie einst ist es auch heutzutage ein Vergnügen für Intellektuelle. Bücher sind wieder teurer, die Auflagen geringer, fast wie im 19. Jahrhundert. Man kann das beklagen, man kann sich aber auch ehrlich fragen: Müssen wirklich hundert Prozent der Menschheit Ballett lieben? Klassische Musik hören? Sich für Malerei oder Bildhauerei interessieren? Und nicht zu vergessen: Zum Fußball gehen oder zum Angeln fahren?

Fragt man mich nach meiner Meinung, gebe ich offen zu: Das Lesen ist ein Vergnügen, das nicht für alle gemacht ist. Darüber hinaus ist es nicht nur ein Vergnügen, sondern auch Arbeit.

Die Bibliothek von Ajrak ließ mich vermuten, dass man hier dem Lesen gegenüber die gleiche Einstellung pflegte. Das Gebäude verband eine gewisse pompöse Bauweise (drei Stockwerke, eine Kolonnade vorm Eingang, eine Bronzeskulptur in Form eines riesigen aufgeschlagenen Buches mit Kindern, die sich an die aufgeschlagenen Seiten schmiegten) mit der tristen Zweckmäßigkeit einer Fabrik (Mauern aus langweiligem grauem Stein, große, fest verschlossene Fenster, eine zweiflügelige Tür ohne jeden Schmuck). Neugierig betrachtete ich die Skulptur: Auf den bronzenen Buchseiten war das Alphabet eingemeißelt, bei dem Werk handelte es sich um eine Fibel. Die drei Kinder, zwei Jungen und ein Mädchen, in natürlicher Größe dargestellt, pressten sich so eng an das Buch, als litten sie an Kurzsichtigkeit oder als hätten sie es gelernt, zwischen den Zeilen zu lesen. Das Mädchen stand, das Kinn in die Hand gestützt, die Jungen hockten, den Blick auf die Zeilen gerichtet.

Ich berührte die glänzend polierte Schulter eines der jungen Leser und dachte voller Sehnsucht an die Moskauer Metro zurück. An die Statuen am Platz der Revolution, die so oft angefasst worden waren, dass sie glänzten. Vor allem der Hund aus Bronze, dem ich vor Prüfungen immer über die Nase gefahren war, ein sicherer Weg, um das Semester zu bestehen - selbst wenn es in meinem Fall dann nicht geklappt hatte. Ob mit diesen Statuen auch ein Aberglaube verbunden war? Fasse sie an, und du kannst lesen. Zum Beispiel.

Kaum hatte ich die Bibliothek betreten, bemerkte ich voller Freude ein Schild an der Wand: »Freier Eintritt für alle des Lesens Mächtigen«. Es erschloss sich mir nicht ganz, warum Menschen, die nicht lesen konnten, eine Bibliothek aufsuchen sollten, sicherheitshalber nickte ich aber dem am Eingang sitzenden älteren Pförtner zu, zeigte auf die Tafel und ging weiter.

Die Bibliothek war letzten Endes nicht sehr groß. Das Erdgeschoss beherbergte Verwaltungsräume, aus einem Zimmer klang ein klapperndes Geräusch herüber, das mich an eine Druckerpresse denken ließ. Natürlich hatte ich nie gehört, wie es sich anhört, wenn so ein Gerät in Betrieb ist, aber dem Geräusch haftete etwas Monotones an, als flöge Seite um Seite aus dem gewaltigen Ding. Möglich war das. Vielleicht druckten sie ihre Bücher selbst, bewahrten sie selbst auf ... und lasen sie selbst. Auf Letzteres deuteten zumindest die leeren Gänge.

Ich ging in den ersten Stock hinauf. Na also, der Lesesaal. Stühle, Lesepulte und Lampen an den Pulten, elektrische übrigens. Fünf Leute saßen hier und lasen, einer machte Notizen aus einem Buch. Der Geruch des Studentenlebens schien mich förmlich anzuwehen.

Möglichst lautlos ging ich weiter nach oben. Hier befand sich die eigentliche Bibliothek. Reihen mit hohen Schränken nahmen das ganze Stockwerk ein, direkt an der Treppe standen zwei Tische, beide leer, an einem dritten saß eine schmale, junge Frau. Eine Bibliothekarin, wie sie zu jeder Zeit in jeder Welt anzutreffen ist. In Nowgorod und Tschita, in Schanghai und Bangkok, in Hamburg und Detroit. Ihr Äußeres ließ sich nicht einordnen, in ihr musste sowohl asiatisches als auch europäisches Blut fließen. Solche Frauen bleiben vierzig Jahre lang jung - um sich dann von einem Tag auf den anderen in eine großmütterliche Bibliothekarin zu verwandeln.

»Guten Morgen«, sagte die Frau leise. »Sie sind das erste Mal bei uns?«

»Ja«, antwortete ich ehrlich.

»In welchen Sprachen lesen Sie?«

»In allen«, erwiderte ich nach kurzem Zögern, da ich beschlossen hatte, mich weitgehend an die Wahrheit zu halten.

»Wirklich?« Die Frau lächelte. »Beneidenswert. Könnten Sie mir dann nicht bei diesem Buch behilflich sein?«

Den brüchigen, vergilbten Seiten nach zu schließen musste das Buch mindestens dreihundert Jahre alt sein. Vielleicht sogar fünfhundert. Ich hätte also besser nicht so dick aufgetragen. Prinzipiell verfügte ich zwar noch über Funktionalsfähigkeiten, im Moment spürte ich sie aber nicht. Und beim Eintritt in diese Welt dürfte ich wohl kaum ihre toten Sprachen gelernt haben ...

Mit einem verlegenen Lächeln trat ich an den Tisch heran. Als ich mich über die Schulter der Frau beugte, nahm ich den zarten, blumigen Duft ihrer Haare wahr. Ich starrte auf die Seite.

»Und was verstehen Sie nicht?«, fragte ich mit gesenkter Stimme.

»Das hier.« Die Frau musterte mich neugierig. »Diese Stelle.«

»Nelken können in geringem Maße beigefügt werden«, las ich vor.

»Sie kennen diese Sprache?«, staunte die Frau. »Sie kennen sie wirklich?«

Das wäre ja noch schöner, dass ich kein Russisch könnte!

»Ich hab es hier und da gehört ...«, erklärte ich.

»Wie wunderbar«, brachte die Frau leise heraus. »Ich habe es ... mit Wörterbüchern gelernt. Aber ich habe immer geglaubt, niemand sonst würde es ... Dann können Sie mir vielleicht auch erklären, warum es heißt, man solle Näglein hinzugeben. Liegt das daran, dass die Lebensmittel zu wenig Eisen enthalten? Ich meine, das ist doch gefährlich. Nachher bemerkt jemand die Nägel nicht und schluckt sie runter ...«

»Es geht nicht um Näglein, kleine Nägel, sondern um Nelken, das schreibt sich nur sehr ähnlich, ist aber ein Gewürz ... kleine, getrocknete Blütenknospen ... Geben Sie mir mal einen Stift.«

Auf einem Blatt festen grauen Papiers malte ich so gut ich konnte eine Gewürznelke. Ehrlich gesagt, hatte ich selbst sie beim Kochen noch nie verwendet, aber als ich mal zusammen mit Freunden Glühwein gemacht habe ...

»Nein«, meinte die Frau enttäuscht. »Ein solches Gewürz kenne ich nicht. Vermutlich wächst es bei uns nicht mehr.«

»Wahrscheinlich nicht«, pflichtete ich ihr bei.

Wie merkwürdig, wie absurd und komisch, dass aus der gesamten großen russischen Literatur, von allen in Russland herausgegebenen Büchern, nicht Tolstoi oder Puschkin, nicht die gesammelten Werke Lenins oder die Physiklehrbücher, sondern ausgerechnet ein Kochbuch erhalten geblieben ist! Ein absolut gewöhnliches Kochbuch ... Doch wenn man sich die Sache in Ruhe durch den Kopf gehen ließ, erstaunte es im Grunde nicht. Gute Kochbücher werden auf glattem, dickem und festem Papier gedruckt, damit sie sich im Dunst nicht wölben, nicht zu sehr verschmutzen, wenn man sie mit Fettfingern anfasst, und ihre Küchenexistenz inmitten von Gewürzdosen und Handtüchern unbeschadet überstehen. Wo steht denn das Kochbuch, nach dem du zu Hause am häufigsten kochst? Im Bücherschrank? Eben!

Und mit einem Mal begriff ich in aller Deutlichkeit, was ich schon geahnt hatte.

Ich war nicht einfach in einer anderen Welt.

Das hier war die Zukunft.

Unsere Zukunft.

Radioaktive Wüsten, brennendes Land, ein wolkenverhangener Himmel, Ruinen von Städten, Reste der Zivilisation, auf einzelnen Inseln zusammengepfercht - das war meine Erde.

So sah sie also aus, die Welt der Funktionale.

»Wir haben ein ganzes Fach mit Büchern in dieser Sprache«, teilte die Frau mir mit. »Und auch noch in anderen toten Sprachen ... oben im Spezialarchiv.«

Ganz offensichtlich hätte sie am liebsten einen Berg von Büchern angeschleppt und vor mir abgeladen - nein, nicht abgeladen, sondern behutsam auf dem Tisch ausgebreitet - und mich zum Lesen aufgefordert. Zum Lesen, Lesen und noch mal zum Lesen ... zum Übersetzen, Erklären, Umschreiben. Was ist eine Nelke, was ein Gehrock, was hat es mit Glamour auf sich, was mit Default, was ist Umweltverschmutzung, was Krieg oder Korruption.

»Später vielleicht«, antwortete ich auf die unausgesprochene Frage. »Ich würde ... ich würde gern ein Geschichtsbuch lesen.«

»Woher sind Sie?«, fragte die Frau leise. Sie sprach ohnehin nicht sehr laut, eine Angewohnheit, die sie, umgeben von Bücherschränken, angenommen hatte. Jetzt wechselte sie mehr oder weniger in den Flüsterton über.

»Von weit her. Von sehr weit her. Fragen Sie mich besser nicht.«

Sie nickte nachdenklich, als erklärten ihr diese Worte alles. Dann erhob sie sich. »Folgen Sie mir ...«

Wir gingen an Reihen von Bücherschränken vorbei, begleitet vom leisen Rascheln der Seiten - einige Leser blätterten gerade in Büchern -, vom Geruch alten Papiers und frischer Druckerschwärze eingehüllt. Wie im Tempel einer neuen Religion, in dem es statt Ikonen Bücherschränke gab, statt Weihrauch und Myrrhe Bücherstaub ...

»Hier«, sagte die Frau.

Begriffsstutzig betrachtete ich den leeren Schrank.

»Wir haben keine Geschichte«, klärte die Frau mich auf. »Dieses Wort ... ist kaum in Gebrauch. Sie hatten Glück, dass ich Sie überhaupt verstanden habe.«

»Eine Gesellschaft ohne Geschichte gibt es nicht«, konterte ich. »Wie lange leben hier schon Menschen?«

»Vermutlich seit Erschaffung der Welt.« Die Frau lächelte. »Wir haben hier alte Ruinen ... Sehr alte, mehrere tausend Jahre alt.«

»Dann will ich meine Frage anders formulieren: Wie lange leben Menschen ausschließlich auf dieser Insel?«

»Darüber habe ich auch schon nachgedacht«, antwortete die Frau so ernsthaft, als ob ich sie gefragt hätte, worin der Sinn des Lebens bestünde. »Ich glaube, bereits seit mehreren Generationen. Auf dem Festland kann niemand lange überleben. Selbst ... selbst ...«

»Selbst die Menschen-über-den-Menschen nicht?«, fragte ich ganz direkt.

Die Frau nickte. »Wer sind Sie?«

»Ich bin ein Fremder. Erlauben Sie mir, auf weitere Erklärungen zu verzichten. Das könnte gefährlich werden.«

»Für Sie?«

»Für mich auch. Aber in erster Linie für Sie. Lassen wir es dabei bewenden. Ich bin ein ... seltsamer Besucher, der seltsame Fragen stellt.«

»Verstehe«, sagte die Frau. »Das ist zwar ungewöhnlich, aber ich verstehe es. Vermutlich, weil ich alte Bücher liebe.«

»Wer sind die Menschen-über-den-Menschen? Die Herrschenden?«

»Nein. Bei uns herrscht eine Kaiserin.«

Sie wunderte sich nicht einmal mehr über diese Frage, mit der ich meine fremdartige Herkunft doch unter Beweis stellte.

»Und die Menschen-über-den-Menschen?«

»Sie kommen gelegentlich zu uns. Sie kaufen Raritäten vom Festland, bringen uns aber auch bei, was man mit diesen Stücken macht. Sie erteilen keine Befehle, kränken niemanden ... falls Sie das meinen.«

»Wirklich niemanden?«

»Solange man nicht versucht, sie zu kränken. Sie ...« Die Frau verstummte. »Sie sind anders. Wir interessieren sie nicht. Eigentlich sind sie gut. Sie können jede Krankheit heilen ... Meine Oma hat mir erzählt, dass es mal eine Epidemie gegeben hat und da haben sie Medikamente gebracht. Sie erteilen gute Ratschläge. Aber sie leben nicht hier. Ich glaube, unser Leben langweilt sie.«

»Und wer hat versucht, sie zu kränken?«

Die Frau zögerte. »Wenn Sie in die Berge gehen«, setzte sie schließlich an, »kommen Sie zum Anwesen des Herrn Dietrich. Er ist ein reicher Landbesitzer, ein Mäzen ... diesen Bau hat er der Stadt geschenkt. Ich glaube, ihn sollten Sie fragen.«

»Hat er was gegen die Menschen-über-den-Menschen?«

»Er schätzt das Wissen. Er wird Ihnen mehr erzählen. Natürlich nur, falls Sie ihm gefallen. Aber Sie werden ihm gefallen.«

»Vielen Dank«, sagte ich leise. »Sie haben mir sehr geholfen.«

Die Frau nickte und antwortete mir genau mit den Worten, die ich erwartet hatte: »Das ist meine Arbeit. Werden Sie noch einmal zurückkommen?«

»Ich weiß es nicht«, antwortete ich ehrlich. »Ich weiß es wirklich nicht.«

»Ich würde Ihnen gern ... einige Bücher zeigen.«

»Ich weiß es nicht«, wiederholte ich. »Das hängt nicht von mir ab.«

Das Schlimmste in rückständigen Welten ist nicht die Toilette in Form eines Nachttopfs unterm Bett, die Kerze anstelle der Glühbirne oder der Aufguss aus Heilkräutern statt Tabletten. Das Schlimmste ist das Tempo der Fortbewegung. Die Zivilisation presste unsere Erde zunächst in achtzig Tage, in denen die Welt umrundet wurde, dann in achtzig Stunden (seien wir so realistisch und lassen Düsenjäger, Raumschiffe und andere Nicht-Massentransportmittel außer Acht). Allein die Möglichkeit, in zehn Stunden von Moskau nach Tokio zu gelangen, ist - verglichen mit Zügen, Schiffen und Kutschen - ein unbeschreibliches Wunder. Doch selbst wenn wir Welt- und Fernreisen nicht berücksichtigen: Wer macht sich denn noch eine Vorstellung davon, wie viel Zeit früher die banale Fahrt der gesamten Familie hinaus auf die Datscha, hundert Kilometer von Moskau entfernt, in Anspruch nahm? So ohne Zug, in der Kutsche? Eben. Insofern können wir Autos wegen der giftigen Abgase verdammen und über Staus schimpfen - aber sie haben uns von etlichen Problemen befreit, die wir uns inzwischen nicht einmal mehr richtig vorstellen können.

Dabei sollte ich im Grunde noch Glück haben. Gut, in der Stadt entdeckte ich keinen Hinweis auf ein Transportmittel, das man mieten konnte - keine Kutsche, keine Rikscha, rein gar nichts! Selbst private Fuhrwerke begegneten mir nur selten, ich sah nur ein paar leichte zweirädrige Karren. Dann gab es noch Lastkarren, denen Ochsen vorgespannt waren, und Menschen, die unerschütterlich auf Eseln und Maultieren ritten. Doch selbst das stellte eher eine Ausnahme als die Regel dar. Im Wesentlichen ging man zu Fuß.

Das tat ich denn auch. Erfreulicherweise hatte der Regen aufgehört, und die Wolken spendeten einen angenehmen Schatten. In einer Stunde hatte ich die gesamte Stadt durchquert und befand mich auf der Straße, die hoch in die Berge führte, zum Anwesen des Landbesitzers Dietrich.

Hier bekam meine Entschlossenheit, mich auf der Stelle mit dem Wissensliebhaber zu treffen, unvermutet einen Riss.

Ich schaute auf die Landstraße, die sich den Berg hochschlängelte, auf den halb in den Wolken verschwindenden Riesenfächer. Sollte ich wirklich ...? So kurzentschlossen? Ohne Mittag gegessen zu haben? Ohne mich wenigstens in der für eine Woche gemieteten Kammer ausgeschlafen zu haben? Und wenn der Regen wieder losbrach? Oder die Wolken sich verzogen und die Sonne vom Himmel sengte? Sollte ich mich nicht besser vorher umhören, Informationen sammeln, mir eine Ausrüstung besorgen?

Ich könnte zum Beispiel näher mit der Bibliothekarin ins Gespräch kommen, das war eine nette Frau ... Nebenbei - beziehungsweise gar nicht so nebenbei - fiel mir ein, dass Kotja dreimal eine Bibliothekarin zur Freundin gehabt hatte, die seinen Worten zufolge alle romantische Naturen gewesen waren, leidenschaftlich und leicht entflammbar. Vermutlich ganz natürlich - wenn man ständig von Büchern umgeben ist.

»Hast du’s weit?«

Die knarzende Britschka, die aus der Stadt herausfuhr, hatte sich erstaunlich lautlos genähert. Bei dem Gefährt drängte sich die Bezeichnung Britschka förmlich auf, ihm haftete etwas Polnisches oder Ukrainisches an: ein geflochtenes Dach, das sich über den halben Wagenkasten spannte, absolut typisch für die ländlichen Gegenden Europas ... Und auch der nicht mehr ganz so junge Kutscher, ein kräftiger, rotgesichtiger Mann mit Schnurrbart, passte haargenau nach Osteuropa. Er trug einen grauen, zerschlissenen Gehrock, ein blaues Hemd mit Stehkragen, extrem weite braune Hosen und überhaupt nicht zu seinem sonstigen Aufzug passende schwarze Lackschuhe. Eben ein Mann vom Land!

»Den Berg hoch. Zu Herrn Dietrich«, antwortete ich.

»Aha«, brummte der Kutscher. »Steig ein, ich nehm dich mit.«

Ich schwankte nur ganz kurz.

Und mit einem Mal wusste ich, dass die Holzräder mit Reifen aus synthetischem Kautschuk bezogen waren, die in der Werkstatt von Großväterchen Ho im Südteil der Stadt hergestellt wurden. Dass der Fahrer André hieß, die Übereinstimmung mit dem französischen Namen jedoch zufällig war, lautete die volle Form seines Namens doch Andreas. Dass er seit langem verheiratet war, aber keine eigenen Kinder hatte, was ihn betrübte; eine adoptierte Tochter zog er wie eine leibliche auf. Dass wir bis zur Villa noch zwei Stunden und sieben Minuten bräuchten. Dass es nicht regnen, die Sonne jedoch auch nicht durch die Wolken brechen würde. Dass André insgeheim das in der Stadt getrunkene saure Bier verfluchte, das in seinem Bauch rumorte und ihn zwingen würde, unterwegs zweimal anzuhalten und sich in die Büsche zu schlagen. Und dass er sich wirklich freute, mich mitzunehmen, denn so gern er morgens allein fuhr, um seine Mandarinen und Trauben abzuliefern, so sehr genoss er es, auf dem Rückweg jemanden dabei zu haben, da er nur zu gern klatschte und tratschte.

»Vielen Dank«, sagte ich, als ich in die Britschka stieg. »Sie haben Mandarinen ausgeliefert?«

»Jo«, antwortete André. »Hab ein hübsches Geschäft gemacht!«

Er klopfte gegen die pralle Jackentasche, ohne die geringste Angst, vor einem völlig Unbekannten auf einer verlassenen Straße mit seinem Geld anzugeben.

»Freut mich«, meinte ich. Das Gefühl der Allwissenheit verflüchtigte sich bereits. Ich hatte meine Wahl getroffen. Ob sie richtig war oder nicht, stand auf einem anderen Blatt.

»Rauchst du?«

»Ja, danke«, sagte ich erfreut. In meiner Schachtel war nur noch eine letzte Zigarette übriggeblieben, außerdem hätte ich mich nie getraut, vor einem Mann aus dieser Welt eine Dunhill zu rauchen.

Der Kutscher paffte allerdings auch keinen billigen Tabak. Aus der Tasche seines Gehrocks hatte er eine Pappschachtel geholt, aus dieser zwei Zigaretten.

»Oh!«, staunte ich.

»Jo, jo, ein schlechtes Kraut kommt uns nicht zwischen die Lippen«, erwiderte der Kutscher stolz.

Eine Zeit lang fuhren wir schweigend dahin. Das kleine, friedliche Pferd zog die Britschka brav die Straße entlang. Um uns herum erstreckten sich Felder, auf denen jedoch niemand zu sehen war, entweder weil die Ernte längst eingefahren oder es bis dahin noch weit war. Wir rauchten. Der Tabak war stark, mir wurde sogar ein wenig schwindlig.

Als der Wagen an einem extrem knorrigen Baum vorbeizuckelte, der förmlich zu einem Päuschen einlud, spuckte der Kutscher aus und machte eine Geste, als werfe er etwas über die linke Schulter. Um sich gegen den bösen Blick zu schützen?

»Ein verfluchter Ort?«, fragte ich.

»Und wie«, antwortete der Kutscher. »Hier wurde ein Mann ermordet, hast du das nicht gehört?«

»Nein.«

»Zwei Freunde hatten nach der Arbeit noch ein Weinchen zusammen getrunken. Und dann ... vielleicht weil der Wein so stark war oder weil die Sonne ihnen das Hirn verbrannt hatte ... jedenfalls, ein Wort gibt das nächste, sie rasten aus, der eine poliert dem andern die Fresse, der schnappt sich in seinem Suff einen Spaten und ...«

»Verstehe«, sagte ich. »Ist das lange her?«

»Also ...« André dachte nach. »Ich war damals noch’n Junge ... Fünfzig Jährchen wird’s her sein. Seitdem bestellt niemand mehr das Feld, und der Baum ... den hätten wir fällen können, aber wir haben ihn stehen lassen, damit er allen eine Lehre ist ...«

Ich ließ mir das Gehörte durch den Kopf gehen.

Vor fünfzig Jahren? Ein Mann wurde in einer Schlägerei von einem anderen totgeschlagen, beide waren sie betrunken - und fünfzig Jahre später meiden die Menschen diesen Ort immer noch? Da müsste man in unserer Welt ja auf jede Straße spucken! Und am Ende würde deine Spucke doch nicht reichen ...

Was hatte das zu bedeuten? War das eine künstliche, ihnen von den Funktionalen eingepflanzte Nicht-Aggressivität? Oder eine Folge der charakterlichen Entwicklung der Menschheit?

Nein, wahrscheinlich war alles viel einfacher.

Wie wirkt es sich auf die Psyche von Menschen aus, wenn 99,9 % der Bevölkerung eines Planeten sterben? Wenn nur ein paar Hunderttausend - oder selbst eine Million - überleben, allerdings alle auf einer einzigen großen Insel? Schriftsteller und Regisseure legen ja mit Begeisterung entsprechende postapokalyptische Horrorfilme und Romane vor, in denen es von Banden blutdürstiger Blödmänner wimmelt (vorzusgsweise bekiffte, abgerissene Typen auf verrosteten Motorrädern, die auf der Suche nach ihren Opfern durch die Wüste kurven), von Soldaten, die über den Ereignissen den Verstand verloren haben (ein alter Panzer ohne Geschosse rattert durch die Gegend, kommandiert von einem durchgeknallten Major, Soldaten, die in blindem Gehorsam jeden Befehl ausführen) und religiösen Fanatikern (ein sexuell höchst umtriebiger Sektenführer und Blutrituale, die Kannibalismus nahekommen, sind hier obligatorisch). Aber genug davon. Das ist pure Fiktion. Wie sieht die Wirklichkeit aus? Musste nicht im Unterbewusstsein der Menschen ein unerbittlicher, unverrückbarer Vorbehalt gegen jedes Töten entstanden sein?

Hier schien das der Fall gewesen zu sein.

Die damals bestehenden Religionen dürfte es besonders hart getroffen haben. Das, was geschehen war, fügte sich in kein Weltbild. Die Gläubigen verloren ihren Glauben, Priester überließen ihre Kirchen der Verwilderung. Allenfalls die Buddhisten könnten sich mit der Katastrophe abgefunden haben.

Demzufolge hatte der Kapitän Van Tao mich wahrscheinlich gar nicht vergiften wollen, ein solcher Schritt wäre in dieser Welt selbst dem schamlosen Schatzgräber in den Ruinen kaum zuzutrauen. Vermutlich enthielten die leckeren Pelmeni nur ein harmloses Schlafmittel. Und ich, dieser gefährliche Passagier, sollte nicht gefesselt und ausgeraubt, sondern nur für die Nacht ausgeschaltet werden.

André hielt den Karren an und warf mir die Zügel zu: »Halt mal ... mir geht es im Bauche um.«

Er sprang runter und verschwand hinter den nächsten Büschen. Das Pferd wackelte mit den Ohren, schlug mit dem Schwanz und brachte durch sein gesamtes Auftreten zum Ausdruck: Von mir aus können wir hier bis zum Abend stehenbleiben.

Der Kutscher kam zurück. »Kein einziges Bierchen werde ich mehr im Betrunkenen Delphin trinken!«, knurrte er. »Sollen die das Zeug doch den Delphinen geben! Die haben’s eh leichter, die können überall, wenn sie mal müssen ...«

»Sie müssen Eichenrinde kochen und trinken, das hilft«, meinte ich voller Anteilnahme.

»Weiß ich. Sobald ich zu Hause bin, bitte ich meine Tochter, mir welche abzukochen ... die hat Köpfchen, meine Tochter. Und du, bist du Arzt, oder was?«

»Mein Vater ist Arzt.«

»Aha! Also wirst du auch Arzt!«, verkündete André überzeugt. »Sag mal, was sollen Frauen trinken, wenn sie ihre Tage haben?«

»Wofür?«, fragte ich verständnislos.

»Damit sie nicht alle um sich rum anblaffen.«

»Also ...« Ich zuckte mit den Achseln. »Baldrian ... Weißdorn.«

»Wusst ich’s doch, du bist’n Arzt«, meinte André erfreut. »Das hilft aber nicht. Sie ist trotzdem völlig neben der Spur. Weißt du, meine Frau ist noch jung ... temperamentvoll ...« Er dachte kurz nach. »Und bei Herzstechen?«

»Ist es ein Stechen oder ein Engegefühl?«, hakte ich nach.

»Stechen.«

»Baldrian. Und Weißdorn.«

»Wenn du kein Arzt bist ...«

Ich hatte den Eindruck, meine Tipps seien für den Mann nicht neu. Eher schien er die Gelegenheit zu nutzen, die Ratschläge seines eigenen Arztes zu überprüfen, die ebenso einfach waren und daher wenig vertrauenerweckend wirkten.

»Zu Dietrich willst du in Arzt-Angelegenheiten?«

Damit war mir klar, dass es keinen Sinn hatte, mich länger gegen den mir aufgedrückten Beruf zu sträuben. Was auch immer in einer Welt geschehen sein mochte, die Menschen interessieren sich dafür, wie eigene und fremde Leiden zu kurieren sind. Wobei sie für die eigenen Leiden Ärzte konsultieren, die Beschwerden anderer aber gern selbst heilen.

»Nicht ganz. Ich habe gehört, er sei ein kluger Mann.«

»Stimmt«, bestätige André. »Ein guter und ein kluger Mann. Seine ganze Familie ist so. Sein Großvater, Friede seiner Asche, war so, und auch sein Vater war ein anständiger Mann. Seine Schwester ist ja eher schlicht gestrickt, ein flatterhaftes Ding, mit nichts im Kopf, aber alle Hoffnung ist bei ihr noch nicht verloren. Und auf Dietrich lass ich nichts kommen. Allerdings müsste er mal heiraten und Kinder in die Welt setzen, schließlich sind wir alle sterblich und eine so gute Familie muss doch fortgeführt werden ...«

Das Thema lag ihm eindeutig am Herzen, und er hätte sich gern noch weiter darüber ausgelassen. Doch ich packte die Gelegenheit beim Schopfe und fragte: »Ist er denn noch Junggeselle?«

»Hmm. Er ist noch jung, so alt wie du. Aber klug!«

Die letzte Bemerkung klang beleidigend, obwohl André es bestimmt nicht so gemeint hatte.

»Verstehe.« Das brachte mich zum Grübeln. Tief im Innern war ich davon überzeugt gewesen, der Mäzen und Landbesitzer Dietrich sei ein Mann in fortgeschrittenen Jahren, der gut und gern mein Vater - wenn nicht gar Großvater - hätte sein können. Jetzt erfuhr ich: Er war nicht älter als ich.

War das gut oder schlecht?

Wahrscheinlich gut. Wenn ich mich dazu entschließen sollte, meine Karten offen auf den Tisch zu legen, dann wäre es für mich umso leichter, je jünger - und damit aufgeschlossener - Dietrich war.

»Sagen Sie mal, André, haben Sie schon mal was davon gehört, dass in den Bergen oberhalb des Anwesens von Herrn Dietrich noch ein weiteres Gebäude steht?«, fragte ich. »Ein hohes Haus? Eine Art Turm?«

André ließ sich mit der Antwort Zeit. Zunächst holte er seine Zigaretten raus und hielt auch mir die Schachtel wieder hin. Ich steckte mir eine an, wobei ich bereits ahnte, dass er meine Frage bejahen würde.

»Jo, hab ich. Wie auch nicht? Ich kenne drei Leute, die sagen, sie hätten den Turm gesehen. Sie hätten ihn gesehen und würden ihn auch jetzt sehen, wenn sie zum Berg hochblicken. Einer ist sogar in den Westen gezogen, damit ihn das Ding nicht kirre macht.«

Aus den Augenwinkeln spähte ich zum Berg hinüber. Der in sich verdrehte Fächer schimmerte ungeniert im sich durch die Wolken brechenden Sonnenlicht.

»Aber Sie selbst haben ihn noch nie gesehen?«

»Nö. Hab’s mal versucht, aber das war nichts. Es heißt, er ist sehr schön ...« Er machte eine unbestimmte Handbewegung. »Aber den sehen nicht alle.«

»Und wenn man in die Berge geht, um ihn zu sehen?«

»Da darfst du nicht hin«, antwortete André in scharfem Ton. »Das weiß jeder. Wer in die Berge geht, kommt nicht zurück!«

»Warum nicht? Lauern da oben Gefahren?«

»Wird wohl so sein ...« André wollte anscheinend nicht länger über das Thema sprechen. »Tiere und Abgründe womöglich. Ist nun mal gefährlich, oben in den Bergen.«

»Gefährlich, ja. Trotzdem müsste mal jemand zurückgekommen sein. Was könnten das für Tiere sein, vor denen sich niemand retten kann?«

Der Kutscher zuckte die Schultern. »Vielleicht ...«, setzte er an. »... vielleicht hat sie der Eisenmann ermordet.«

»Der Eisenmann?«

»Du bist nicht von hier, oder?«

»Stimmt.«

André nickte. »Aus dem Osten?«

»Hmm.«

»Heißt wohl nicht umsonst, dass ihr da lebt wie auf einer anderen Insel. Also, durch die Berge, da wandert jemand. Jemand, der doppelt so groß ist wie’n normaler Mensch. Aus Eisen. Der läuft da rum und reißt Bäume aus. Bloß gut, dass er nie ins Tal runterkommt.«

»Wandert der schon lange in den Bergen rum?«

»Schon immer.« André warf mir die Zügel zu. »Da haben wir’s! Wenn man von solchem Kram redet, geht’s gleich wieder im Bauch los ...«

Er schlug sich in die Büsche. Noch im Gehen knüpfte er den Gürtel auf. Ich betrachtete unterdessen wie vor den Kopf geschlagen den Berg.

Ein Eisenmann? Ein Roboter?

Nie im Leben hätte ich damit gerechnet, hier so etwas anzutreffen! Funktionale benutzten keine Technik. Und schon gar keine SF-Technik. Lebende Häuser und Portale, ja, sogar Kraftfelder - daran glaubte ich. Aber an einen Roboter, einen mechanischen Wachtposten - auf gar keinen Fall. Das waren Märchen, Legenden, Horrorgeschichten ...

»Hab ihn selbst mal gesehen.« André tauchte wieder aus den Büschen auf, entschieden munterer. »Da war ich noch klein, also, nicht mehr ganz klein, aber eben noch wild. Bin mit Freunden in die Berge gekraxelt, um Beeren zu suchen. Wir ... wir sind höher rauf, als wir durften. Ich habe’nen Himbeerstrauch entdeckt, den ich geplündert habe, wobei mehr in meinen Mund gewandert ist als in den Korb. Plötzlich scheppert was, und jemand kommt durch den Wald. Ich bleib wie angewurzelt stehen. Da blitzt zwischen den Bäumen was auf ... Sah aus wie ein Mensch, nur größer. Doppelt so groß.« Er dachte nach. »Nein, nicht doppelt so groß, anderthalb mal so groß. Schließlich war ich noch’n Steppke und außerdem noch nie besonders groß. Ein Mann aus Eisen, an dem alles funkelt. Und die Augen waren aus Glas und wie ...« Er fuchtelte hilflos mit den Händen. »... wie bei’ner Libelle. Glaubst du mir das?«

»Ja«, antwortete ich leise. »Wenn die Augen wie bei einer Libelle waren, dann glaube ich dir. Ein Facettenauge, das ist ziemlich klug ...«

»Du bist der Doktor von uns, du musst das besser wissen«, meinte André. »Danke, dass du mich nicht auslachst. Die meisten haben mir nicht geglaubt. Das heißt, das mit dem Eisenmann, das glauben sie schon, aber nicht, dass ich ihn gesehen habe. Ich hab was mit dem Gürtel gekriegt, und es hieß, ich darf da nicht mehr hingehen. Ich kenne sonst niemanden, der ihn gesehen hat. Diejenigen, die so blöd waren, den Berg hochzukraxeln, haben ihn garantiert vor ihrem Tod gesehen. Aber mich hat er nicht angerührt, wahrscheinlich, weil ich noch ein Junge war. Jedenfalls habe ich mir das später so zurechtgelegt. Warum hätte er’nem Jungen was antun sollen? Den Turm, ja, den sehen schon mehr. Ich habe mal Herrn Dietrich gesagt, dass das alles Mist ist. Da hat er gelacht, aber nicht über mich. Und er hat mir gesagt, dass es den Turm wirklich gibt. Er sieht ihn auch, aber er kann ihn niemandem zeigen.«

»Das stimmt«, erwiderte ich einsilbig.

Anscheinend hatte ich die richtige Entscheidung getroffen. Ob Dietrich mich nun anhörte oder nicht, ob er mir glaubte oder mich vor die Tür setzte - aber er war einer der wenigen in dieser Welt, die mir glauben könnten.

Glauben und helfen.

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