Zwanzig

Das Kino hat uns beigebracht, dass ein richtiger Das Kino hat uns beigebracht, dass ein richtiger Showdown eine angemessene Dekoration braucht. Frodo wirft den Ring in den Schlund des Vulkans und schmilzt ihn nicht im Feuer eines Bunsenbrenners bei technisch fortschrittlichen Zwergen. Luke Skywalker jagt den Torpedo in den Wärmeaustauscherschacht des Todessterns und schneidet nicht das Hauptkabel im Reaktorblock durch. Der Terminator ficht seinen letzten Kampf in einer Fabrik aus, deren Maschinerie sich unablässig bewegt, und erledigt seinen Gegner nicht im Hühnerstall. Übrigens, stellen Sie sich nur vor, wie interessant das aussähe! Die aufgeschreckt gackernden Hühner, ein verängstigter Hahn, der seine Freundinnen um jeden Preis verteidigen will, die unter den Füßen der Roboter zerquetschten, frisch gelegten Eier, ein in panischer Angst fliehendes flauschiges gelbes Küken...

Natürlich haben Schriftsteller das Ihrige zu dieser Erwartungshaltung beigetragen. Lew Tolstoi hat Anna Karenina vor einen donnernden Zug gelegt, statt dass die Frau sich in aller Ruhe und dem Geist ihrer Zeit gemäß mit Essig vergiften durfte. Conan Doyle hat Sherlock Holmes zu einem Wasserfall gejagt und für das letzte Duell nicht die stillen Pfade des Hyde Parks gewählt. Und Victor Hugo lässt seine politisch korrekte Liebesgeschichte zwischen einer hör- und bewegungsmäßig herausgeforderten Person mit alternativer Körperhaltung und einer Französin roma-sintischer Herkunft in Notre-Dame in Paris spielen.

Ach, wie die Menschen des kreativen Schaffens sie lieben, diese schönen Dekorationen! Nur kommt dergleichen im richtigen Leben in der Regel nicht vor. Hitler und Stalin tragen keinen Schwertkampf im zerstörten Reichstag aus, Raumschiffe starten nicht vom Roten Platz aus, und überhaupt werden die Ereignisse, die unsere Welt verändern, von langweiligen Menschen in tadellosen Anzügen in unspektakulären Büros bewirkt. Wir leben in tristen Zeiten.

Gerade deshalb lieben wir die schönen Bilder so sehr.

Die Plattform schoss die Etagen hinauf, dabei der Krümmung des Wolkenkratzers folgend. Ein Stockwerk nach dem nächsten flog an uns vorbei. Glasvitrinen, Schränke, schräg aufgestellte Schütten ... Dinosaurierskelette tauchten auf und verschwanden wieder, ein ausgestopftes Mammut, eine klobige Dampflok ...

Ein Museum. Das hier war wirklich ein Museum.

Eine gelungene Dekoration für eine Komödie. Aber nicht für den Letzten Großen Kampf.

Der Roboter mit dem Bewusstsein eines Menschen hätte hier nicht herumlungern, ich nicht hier hereilen müssen. Ich brauchte das Herz der Funktionale. Und ein Museum eignet sich nun eben so gar nicht für die Rolle des Generalstabs oder des Regierungspalasts.

Natürlich bedeutete ihnen dieses Gebäude etwas. Es befand sich ja schließlich nicht ohne Grund in ihrer Heimatwelt. Eine Sammlung von Raritäten und Kuriositäten, der Speicher der manipulierten und verstümmelten Geschichte fremder Welten. Aber selbst wenn wir das Gebäude irgendwie vernichten würden, wäre das lediglich ein kleiner, unangenehmer Stich.

Ich hatte das Herz der Finsternis nicht gefunden. Verzeihen Sie mir, Kardinal Rudolf, es hat nicht geklappt. Ich habe mir alle Mühe gegeben, aber ...

Die Luft presste immer heftiger auf mich ein. Komisch, dabei schienen wir überhaupt nicht beschleunigt zu haben ... Ich hob den Kopf - und sah, wie die Decke rasant auf uns zukam. Der Fahrstuhl war bereits das ganze Gebäude hinaufgeschossen, gleich würden wir zu einer Flunder zerquetscht. Ob ich nicht den richtigen Befehl erteilt hatte? Ob die Mechanismen des Gebäudes den Befehl »nach oben« als Möglichkeit interpretiert haben, uns zu zermalmen? Um Himmels willen, was hatte ich da bloß angerichtet?

Im letzten Moment spaltete sich die Decke über uns, die Plattform verlangsamte ihr Tempo. Ich wurde in die Luft gerissen, meine Füße berührten die Plattform kaum noch, es katapultierte mich beinahe in die Luft ... bis mich eine geschickte Metallhand fest am Arm packte und mich gegen einen Metallkörper presste.

Der Fahrstuhl hielt an.

»Danke ... Anatol ...«, murmelte ich, sobald ich wieder Boden unter den Füßen hatte. »Abermals danke ...«

Der Roboter schwieg und sah sich um. Ich löste mich von der warmen glatten Seite und schaute mich ebenfalls um.

Ein normales Dach.

Das zum Rand hin leicht abfiel. Obwohl es einen Zaun gab, wollte ich lieber nicht näher an den Rand herantreten. Übrigens verdeckten die Wolken die Höhe, denn das Dach des Gebäudes lag über ihnen.

Was für ein seltsames, irreales Gefühl ...

Als befände ich mich an Deck eines durch den Himmel segelnden Schiffes. Umgeben von grau geklumpten Wellen, die Erde tief unter mir. Ich machte das kleine Städtchen aus, fand im Gewirr der Gassen sogar die Bibliothek. Etwas abseits lagen die Berge, die zu einem Plateau verschmolzen, das glatt wie ein Tisch war. Da war ich langgegangen, besessen von dem Wunsch, herauszufinden, in welcher Welt ich gelandet war und was ich jetzt tun sollte. Neben uns lugten die Spitzen der anderen Türme des Fächers aus den Wolken - gut zwei Dutzend Dächer, gut zwei Dutzend Welten. Wie wenig das im Vergleich zur Unendlichkeit ist, dachte ich bei mir. Wie wenig und wie seltsam, dann Kräfte und Wissen daran zu verschwenden, eine weitere Welt zu unterwerfen, das renitente Feste auszuspionieren oder den Kampf mit Anatols Heimatwelt aufzunehmen. Weshalb tun sie das? Weshalb lernen sie, von einer Welt zur nächsten zu gelangen, weshalb machen sie sich Raum und Zeit untertan - wenn es am Ende nur um eine alberne, eine primitive Expansion geht? Was sind ihre Motive?

»Ich habe den Befehl nicht richtig formuliert«, sagte ich. »Entschuldige. Soll ich anordnen, dass wir wieder runtergebracht werden?«

»Der Befehl war richtig«, meinte der Roboter sorglos. »Wir wurden aufs Dach gebracht, weil das nötig ist.«

»Für wen?«

Der Roboter erwiderte kein Wort.

»Im Foyer haben sie mir etwas von einem Kustoden erzählt«, teilte ich ihm mit. Vorsichtig trat ich ein paar Schritte vom Roboter weg. Die Oberfläche des Dachs war fest, rau und leicht abschüssig. Trotzdem flößte mir das Ganze Angst ein. »Wer könnte das sein? Wer passt auf das Museum auf?«

»Ein Engel«, antwortete der Roboter nachdenklich.

»Ein Schutz-Engel?« Ich lachte los. »Würde mir gefallen, selbst einen zu haben. Das heißt, ich habe vielleicht sogar einen, und dem wird es bestimmt nicht langweilig ...«

»Halt den Mund«, verlangte der Roboter barsch. »Der Engel kommt.«

Ich drehte mich um und folgte seinem Blick.

Mir wurden die Knie weich.

Über die lockere Wolkenwatte kam uns, als schreite er auf festem Boden, ein Engel entgegen. Doppelt so groß wie ein Mensch, in einem blendend weißen Gewand, mit einem lodernden Feuerschwert in Händen. Hinter ihm schlugen träge zwei schneeweiße, funktionslose Flügel in der Luft. Die Haare des Engels fielen ihm in blonden Locken auf die Schultern, unter dem bodenlangen Gewand schauten seine nackten Füße heraus. Bisweilen durchfurchte er die Wolken, bisweilen ging er direkt auf Luft. Dunkle, weise, wiewohl menschliche Augen blickten uns an.

»Lauf weg, Mensch«, sagte der Roboter.

Er musste mich nicht lange bitten - ich stürzte davon, wobei ich auf der Stelle meine Höhenangst vergaß. »Herr ...«, flüsterten meine Lippen wie von selbst. »Herrgott, Vater unser ... Ich glaube, weil ich nicht glaube ... das heißt, ich glaube, ich glaube ... Du mein Gott, ich ... glaube.«

Der Roboter breitete die Arme aus - und ich vernahm ein widerliches Quietschen, als würden Metallscheiben auseinander gerissen. Dann rezitierte er etwas in einem Singsang, das ich nicht auf Anhieb als Gedicht erkannte:

Im Wahn der Kräfte, die verwehen,

Zur Zeit der letzten Überfahrt

Ließ Gott mich einen Engel sehen,

Sein Anblick majestätisch hart.




Daraufhin erklang ein leises Rattern, als würden mehrere Nähmaschinen Stoff mit ihren Nadeln durchlöchern. Auf der Brust des näherkommenden Engels schimmerten blutige Tupfen auf. Aus den gleichmäßig schlagenden Flügeln lösten sich lange weiße Federn. Das leuchtende Gewand des Engels zerfiel in dünne Streifen und wurde, bereits blutgetränkt, vom Wind davongetragen. Unterdessen deklamierte der Roboter weiter.




Er folgt dem göttlichen Gebot,

Sein Blick ist fremd und unverwandt,

Er kennt nicht Hunger, Schmerz noch Not,

Auch Zweifel hat er nie gekannt ...




Zweimal knisterte etwas - worauf den Engel eine durchscheinende blaue Flamme einhüllte. Mit geschmeidigen Tentakeln umfing das Feuer seinen Körper. Die Haare loderten kurz auf. Gleichwohl setzte der Engel seinen Weg fort, den Blick unverwandt auf den wahnsinnigen Dichter gerichtet.




Ich bin ein Mensch, von Gram beschwert,

Im Kerker meines Fleischs gefangen.

Doch wär’ Vollkommenheit nichts wert,

Könnt’ ich sie mühelos erlangen.




Der Flammenengel kletterte über die Brüstung und kam aufs Dach. Der Roboter stieß ein tiefes, dumpfes Dröhnen aus, das alles um uns herum vibrieren ließ. Ich spürte, wie mir das Herz in der Brust hämmerte, wie mein Magen seinen Inhalt herauszubringen trachtete. In meiner rechten Seite stach mich etwas, unterhalb der Rippe. Der Engel hielt einen Moment inne und legte den Kopf auf die Seite, als müsse er gegen heftigen Wind ankämpfen.




Mit Irrtum, Demut und mit Qual,

Wenn Herz und Hirn sich bitter mühen -

Das eingebrannte Sklavenmal

Lässt so allein die Seele glühen.




Dann ging der Engel weiter. Der Roboter schien ins Unermessliche verlängerte Arme nach vorn zu werfen - und den Engel bei den Handgelenken zu packen. Schwankend standen sie einander gegenüber und versuchten, sich zu bezwingen.




Zu teuer sind mir Tod und Leid

Und seltne, bittre Glücksmomente,

Als dass ich für Vollkommenheit

Auf ewig Sklave werden könnte!




Die zerfetzten Flügel des Engels breiteten sich aus, schwangen auf den Roboter zu und hüllten ihn ein. Die beiden verschmolzen in einer Umarmung. Der Engel stand reglos, der Roboter verschwand unter einem Berg blutiger, zitternder Federn.

Ich riss die MPi hoch: Den Lauf richtete ich auf den Engel. »Lass ihn los!«, brüllte ich, so laut ich konnte. »Hau ab? Kapiert?«

Der Engel klappte seine Flügel langsam auf dem Rücken zusammen. Der Roboter trat aus ihnen heraus und sackte als schwerer, toter Haufen Metall aufs Dach.

»Die Frist seines Daseins ist abgelaufen«, erklärte der Engel leise. Seine Wunden hatten sich bereits geschlossen, nur sein Gewand hing noch in blutigen Fetzen an ihm herab, und die Flügel waren jetzt schwarz.

»Er hatte noch zwei Monate und sechs Tage!«

»Das galt, bevor er angefangen hat zu schießen. Linearbeschleuniger verbrennen Monate in wenigen Sekunden.«

»Du bist kein Engel«, sagte ich und senkte die Waffe.

Der Engel nickte. »Nein, ich bin kein Engel. Ich bin der Kustode des Museums. Die Versuche des Cyborgs, ins Museum einzudringen, haben mich nicht interessiert. Ich hätte das natürliche Ende seines seltsamen Lebens abgewartet. Aber du hast das Museum dazu gebracht, sowohl dich einzulassen als auch ihn.«

»Was ist das für ein Museum?«

Der Nicht-Engel bewegte sich langsam auf mich zu. Abermals hob ich die MPi. Der Nicht-Engel lächelte und blieb stehen.

»Glaubst du, das sei wirksamer als Überschallnadeln, kolloides Napalm oder Infraschall?«

»Nein«, antwortete ich ehrlich. »Aber irgendwas muss ich ja machen.«

»Stimmt auch wieder«, meinte der Nicht-Engel. »Ich kann dich gut verstehen ... Das hier ist einfach ein Museum, mein Junge. In ihm findest du die kuriosesten Exponate der Welt. Es gibt hier Tiere, die seit langem ausgestorben sind, und Tiere, die niemals gelebt haben. Du kannst hier Gedichte eines uralten Puschkin lesen und Abenteuerromane Shakespeares. Du findest die Flugmaschinen, die Leonardo gebaut hat, Energieüberträger von Tesla und Einstein’sche Kraftfeldgeneratoren. Hier werden sogar Cyborgs aufbewahrt, die jenem ähneln, der auf mich geschossen hat.«

»Man kann viel zusammentragen, wenn man ganze Welten ausraubt ...«

»Niemand hat sie ausgeraubt. All das ist hier zusammengekommen, weil die Welten sich verändert haben. D’Anthès ist zu einem Arztfunktional geworden und hat Puschkin nicht erschossen. Der Dichter hat Satisfaktion bekommen, ein friedliches, geruhsames Leben geführt und seine Werke geschaffen. Napoleon hat das Reisen für sich entdeckt, Hitler die vegetarische Küche, Lenin die Philosophie. Wenn du die Geschichte deiner Welt ändern könntest, würdest du ihre historischen Fehler dann nicht vermeiden wollen?«

»Aber diese Welt wäre dann eine andere.«

»Nicht auf Anhieb. Ganz gewiss nicht auf Anhieb. Du machst dir keinen Begriff, was für eine schwerfällige Maschinerie die Zeit ist. Selbst wenn ein schrecklicher, blutiger Krieg aus der Geschichte herausgenommen wird, sterben die Menschen, die sterben sollten, und werden die Menschen, die geboren werden sollten, geboren. Es sind gewaltige Anstrengungen erforderlich, damit die Geschichte einen anderen Lauf nimmt. Früher oder später passiert das freilich, und dann entsteht eine neue Welt. Und obwohl das eine ganze andere Welt ist, entdeckst du in ihr immer noch Splitter der alten Welt, nämlich die leidenden Menschen mit ihren seltsamen Wünschen, die Menschen, die wissen, dass sie ein fremdes Leben leben, die sich daran erinnern, was vor ihrer Zeit geschehen ist ...«

Die Stimme des Nicht-Engels klang betörend wie Musik. In seinen Augen leuchteten fremde Sonnen.

»Aber wozu das alles?«, fragte ich. »Wenn das so ist, warum geschieht das dann alles? Um eine fremde Welt besser zu machen? Um die eigene zu korrigieren?«

»Aus keinem besonderen Grund, mein Junge«, meinte der Nicht-Engel lächelnd. »Hast du das denn immer noch nicht begriffen? Die Veränderungen haben kein anderes Ziel als die Veränderung selbst. Wenn du von klein auf davon geträumt hast, das dritte Epos von Homer zu lesen ...«

»Welches dritte Epos?«, brachte ich heraus.

»Die Telemachiade. Aber das spielt hier keine Rolle. Lass uns einfach einmal annehmen, du wolltest wissen, was Edgar Allan Poe mit der Eissphinx im Bericht des Arthur Gordon Pym aus Nantucket vorgehabt hat. Warum solltest du ihn das Werk dann nicht vollenden lassen? Oder dich stört der Ausgang der Schlacht bei Tannenberg. Dann spiel sie noch einmal durch. Hilf Wallenrod, rette den Deutschen Orden. Und sieh dir an, was dann mit dieser Welt passiert.«

»Wozu?«, schrie ich. »Wozu denn? Wozu sollen wir die Toten zwingen, erneut in die Schlacht zu ziehen? Warum sollen wir an unserer Vergangenheit herumbasteln, wenn wir doch eine neue Zukunft schaffen können?«

»Zu gar-nichts«, skandierte der Nicht-Engel. »Moskau liegt nicht am Meer, was schade ist. Also musst du in die Zeit gelangen, wo die Erdkruste noch lebendig und formbar ist. Du machst dir keinen Begriff, was für Folgen für ein zukünftiges Landschaftsrelief eine einzige kleine Bombe an der richtigen Stelle hat ... und vor allem zum richtigen Zeitpunkt. Dann kannst du aus deiner kleinen Wohnung zu Fuß an den Strand spazieren und mit dem Badehandtuch wedeln ...«

»Ich verstehe das alles nicht«, fiel ich ihm ins Wort. »Doch, mir ist schon klar, dass das toll wäre, diese Telemachiade, Puschkin, der nicht gestorben ist, und das Meer vor der Tür. Aber wozu gibt es uns, die Funktionale? Es hätte doch auch einfach jemand d’Anthès ein Abführmittel in den Morgenkaffee geben können ...«

Der Nicht-Engel lachte. »Was heißt ›wozu‹? Wozu sind wir denn wohl Funktionale? Um unsere Funktion zu erfüllen. Du hast den Verkehr durch die Portale reguliert, klammheimlich Energie aus der Leere gezogen und deine Türen offen gehalten. Die Menschen sind von einer Welt in die andere gereist. Ich passe aufs Museum auf, kümmere mich um die Exponate, leite Exkursionen ... Möchtest du dir vielleicht mal alles angucken? Es ist wirklich interessant.«

»In den ersten Jahren ist das bestimmt noch interessant«, erwiderte ich.

»Also hast du wenigstens etwas verstanden«, meinte der Nicht-Engel. »Möglicherweise hast du einfach nicht erkannt, was deine Funktion dir bietet? Du bist noch jung, mit jungen Leuten gibt es häufig solche Probleme. Eventuell wärest du besser beraten, wenn du Kurator in deiner Welt würdest? Dein Freund Kotja hat den Posten lange genug innegehabt, Jahrhunderte immer dieselbe Stelle ...«

»Was ... was heißt hier Jahrhunderte? Er hat gesagt ...«

Der Nicht-Engel schüttelte sich vor Lachen. Er stützte sich auf sein blitzendes Schwert, über das Funken einer weißen Flamme liefen.

»Er hat dir allerlei erzählt ... Urteile nicht zu streng über ihn, denn er ist verängstigt. Schließlich weiß er, dass es nur einen Weg gibt, Situationen wie diese zu entscheiden. Und er kann dich nicht umbringen. In deiner Welt würde ohnehin kein einziges Funktional wagen, dir etwas anzutun. Dann würde deine Welt nämlich untergehen.«

»Warum denn das? Du wirst es mir wohl nicht sagen ...«

»Doch. Warum auch nicht? Du hast einen Entwicklungsvektor gehabt, der gefährlich für den Weg gewesen ist, auf dem deine Welt sich voranbewegt hat. Damit blieb logischerweise nur eine Alternative: Entweder du wirst ein Funktional ... oder du stirbst. Manchmal ist das leider unumgänglich ... Aber dein Freund, ein hervorragender Kurator und geschickter Intrigant, war nicht ganz frei von sentimentalen Gefühlen. Er hat dich unter seine persönliche Obhut genommen und eine Funktion für dich ausgesucht, die mit am interessantesten ist. Aber er hat sich verrechnet, du bist aus dem Ruder gelaufen. Und als er dich in seiner Panik beinahe umgebracht hätte« - der Engel breitete die Arme aus -, »war es schon zu spät. Da warst du bereits an deine Funktion angeschlossen. Du warst zu einem Teil aller Kirills dieser Welt geworden. Und in allen Welten hast du eine wichtige Rolle gespielt. Nach jedem Versuch, dich auszulöschen, hast du deine Fähigkeiten zurückgewonnen, ja, sie sogar noch gesteigert ... Sollte dich nun jemand umbringen, könnte es passieren, dass du die ganze Welt mitreißt. Ins Nichts. Oder ...« Der Engel machte eine kurze Pause. »... oder es könnte so kommen wie bei uns. Dass du sie teilweise mit ins Verderben reißt. Auch nicht sehr schön.«

»Und was geschieht jetzt?«

»Jetzt ...« Der Engel seufzte. »Du kannst Konstantin ermorden. Wenn du dich anstrengst, kannst du ihn auch einfach absetzen, indem du die Verbindung des Kurators zu seiner Funktion zerreißt. Lass ihn doch ein ruhiges, einfaches Leben leben, das wird ihm guttun. Du kannst auch immer noch selbst sterben. Aber ich fürchte, das bekäme deiner Welt nicht sonderlich gut ...«

»Es gibt immer einen dritten Weg.«

»Natürlich. Du könntest deine Welt verlassen.«

»Das habe ich bereits getan. Als die Spezialeinheitler aus Arkan mich gejagt haben und ...«

»Aber damals hast du deine Welt nur verlassen, um zurückzukehren. Obendrein hast du dich mit diesem von Angst gepackten Kurator zusammengetan. Wenn du deine Welt für immer verlassen würdest und nach Feste, hierher oder nach Veros gingest, dann würden sie dich in Ruhe lassen. Arkan ist eine spezialisierte Welt, es ist die Staatssicherheit der Funktionale. Einfache, grobe Kerle. Aber ich werde mit ihnen sprechen und deine Entscheidung in aller Klarheit schriftlich darlegen. Ich garantiere dir, dass sie dir dann nichts antun. Das käme nämlich alle Beteiligten teurer zu stehen.«

Er verstummte.

Ich stand da, ließ die Waffe sinken und dachte an Veros. An die ruhige, beschauliche Stadt mit dem unangenehm klingenden Namen Kimgim. An das bizarre Oryssultan. An die Abertausenden von Stadtstaaten, die mit ihren Leben zufrieden waren und durchaus in der Lage, für sich selbst zu sorgen.

Oder Feste. Religiöse Diktaturen sind nicht nach meinem Geschmack, aber ihr störrischer Wunsch, einen eigenen Weg zu gehen, hatte mich für diese Welt eingenommen. Außerdem boten sie den Funktionalen Paroli.

Auch diese verwaiste Welt war bei Licht betrachtet bestimmt interessant. Hier gab es ein Museum, in dem ich mich jahrzehntelang aufhalten könnte. Hier gab es Länder, in denen niemand lebte, in denen sich aber Überreste von jener Zivilisation gehalten hatten, die die Funktionale hervorgebracht hatte - und genau deswegen untergegangen war.

»Wofür entscheidest du dich?«, fragte der Nicht-Engel. »Vergiss nicht, dass dich niemand an eine bestimmte Welt fesselt. Nur deine Erde lass in Ruhe. Im Übrigen kannst du die Dienste der anderen Funktionale in Anspruch nehmen, was eine große Wohltat ist.«

»Du bist hier der Chef, oder?«

»Wir haben keinen Chef!«, antwortete der Nicht-Engel erbost. »Ich bin der Kustode des Museums. Ich unterscheide mich von den Menschen, weil ein Mensch, selbst als Funktional, nicht auf dem Kontinent überleben kann. Aber wir haben keinen Chef. Punktum!«

»Das ist ein verlockendes Angebot«, meinte ich nachdenklich. »Aber eine verdammt schwere Entscheidung ...«

»Und welche Entscheidung triffst du nun?«

»Ich wähle einen vierten Weg. Ich weiß noch nicht, welchen. Aber wenn man dir ein liniiertes Blatt gibt, musst du quer schreiben.«

»Ich fürchte, viele werden meinen Schritt missbilligen«, brachte der Nicht-Engel hervor. »Vor allem, wenn deine Welt vollständig verschwindet. Aber in der gegenwärtigen Situation ... wird der vierte Weg dein Tod sein.«

Er rührte sich langsam von der Stelle. Ich riss meine dämliche MPi wieder hoch - und der Nicht-Engel blieb stehen.

Hatte er etwa tatsächlich Angst vor dieser läppischen Waffe? Nach allem, was ich mitangesehen hatte?

»Weißt du was? Ich könnte mir vorstellen, dass ... wenn Arkan euer Sicherheitsdienst ist ... die sich auf alle Fälle auch vor dir in Acht nehmen müssen«, zischte ich leise. »Vielleicht könnten ihre Waffen auch dir etwas anhaben, oder, Flügelfigur?«

In den Augen des Nichts-Engels loderte Zorn auf.

»Du unwürdige Kreatur! Du bist nichts weiter als der Fehler eines sentimentalen Idioten! Ich werde dich in Stücke reißen, du Knirps! Feuer von mir aus das ganze Magazin leer und hoffe auf ein Wunder - aber Wunder gibt es nicht!«

Er kam auf mich zu, die riesigen Augen mit den senkrecht geschlitzten Pupillen fest auf mich gerichtet. Die Augen wirkten auch jetzt noch weise, wenngleich nicht mehr menschlich. In seinem Rücken klappten die schwarzen Flügel auf. Mein Finger war am Abzug festgefroren.

Mit einem Fall fiel mir Marta ein. Was hatte diese Polin wohl vollbringen sollen - das sie nun nie mehr vollbringen würde?

»Sag mal«, flüsterte ich, »das bist also du, der über der verbrannten Erde fliegt und sich schreiend vom Himmel fallen lässt? Ist es so schrecklich und einsam hier, Nicht-Engel?«

Einen kurzen Moment nur gab sein Blick mich frei, irrten seine Augen durch den Raum, zitterten seine Beine, strauchelte er. Das war, als ob ein einflussreicher Mann, ein Abgeordneter oder Minister, von einem gierigen Kameraauge eingefangen worden wäre, wie er sich während einer Dumasitzung in der Nase bohrte und die Popel inspizierte.

In meine Hände kehrte die Wärme zurück.

Ich zog den Abzug.

Vierzehn Patronen.

Eine lange Salve.

Die Maschinenpistole hämmerte in meinen Händen, der Lauf driftete zur Seite ab. Schon erstaunlich: Aus einer Entfernung von drei Metern schaffte ich es tatsächlich, mit fast allen Kugeln vorbeizuschießen!

Nur eine einzige Kugel landete in der Brust des Nicht-Engels, an der Stelle, wo bei Menschen das Herz sitzt.

Anscheinend tat ihm das weh.

Der Nicht-Engel senkte den Kopf und presste die Hand gegen die Brust. Nach einer Weile zog er die Hand weg und starrte auf das Blut. So langsam, als unterliege er nicht den Gesetzen der Gravitation, ließ er sich auf die Knie sinken.

Ich trat an ihn heran und warf die MPi mit dem abgefeuerten Magazin weg.

»Möchtest du vielleicht ... Kustode des Museums werden?«, fragte der Nicht-Engel leise.

Das Dach unter uns vibrierte. Durch das Gebäude lief ein Beben.

»Stirbst du?«, fragte ich. Meine Stimme zitterte unwillkürlich.

»Ich weiß es nicht. Kann sein ...« Der Nicht-Engel atmete geräuschvoll ein. Jetzt, da er vor mir kniete, war er nur noch wenig größer als ich. »Möchtest du meine Stelle einnehmen? Dann gib mir den Rest.«

Ich schüttelte den Kopf. In seiner Stimme lag die Gewissheit, dass ich ihm tatsächlich den Rest geben könnte.

Aber das wollte ich gar nicht.

Jetzt, da diese dämliche Engelsparodie vor mir kniete ... das Flammenschwert immer noch umklammernd ...

Mit einem Mal begriff ich, dass er seine Waffe einfach nicht loslassen konnte.

Das Schwert war eine Verlängerung seiner Hand!

Ich schüttelte den Kopf noch energischer.

Das Gebäude unter uns wackelte. Was steckte in diesen Kugeln, wenn sowohl das Funktional als auch seine Funktion sich in Krämpfen wanden und ungeheure Energien freisetzten, um dem Nicht-Engel das Leben zu retten?

»Du hast keine Wahl«, erklärte der Nicht-Engel. »Entweder bringst du mich um und wirst ... zu mir. Oder ich bringe dich um.«

»Genau damit habe ich eine Wahl«, entgegnete ich.

Ich hob die Hand und fuhr durch die Luft, als schriebe ich im leeren Raum Worte einer mir unbekannten Sprache. Eine blaue Flamme löste sich knisternd von meinen Fingerspitzen.

»Ich werde euern Chef finden«, sagte ich. »Ganz bestimmt ...«

»Wir haben keinen Chef ...« Der Nicht-Engel zitterte und kippte auf die Seite.

Ich schaute mich ein letztes Mal um. Eine kleine Insel, das Totenbett der Menschheit ... In mir gab es weder Wut noch Angst. Nur Müdigkeit.

Die Feuerschrift des Portals loderte vor mir, und ich trat in sie hinein.

Der Nicht-Engel, der Kustode des Museums, konnte sterben oder überleben. Es gab nichts, wofür ich mich an ihm rächen wollte, aber es gab auch keinen Grund, ihm zu helfen.

So schied ich aus dieser Welt, ohne zu wissen, wohin es mich verschlagen würde.

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