Siebzehn

Wir neigen stets dazu, unsere Altersgenossen zu unterschätzen. Sicher, mit ihnen fühlen wir uns am wohlsten, wir hören die gleiche Musik, lesen die gleichen Bücher, befinden uns - zumindest anfangs - auf der gleichen Stufe der Karriereleiter, weshalb in Verbindungen wie »junger Ingenieur«, »junger Arzt« oder »junger Systemadministrator« stets das Gewicht der Aussage auf dem Adjektiv liegt. Große Taten erwarten wir von ihnen nicht. Wir finden uns ohne weiteres mit der Weisheit der Alten ab, mit der Erfahrung reifer Menschen und selbst mit der Genialität eines Kindes. Aber unser Altersgenosse? Wie kann der etwas Bedeutendes vollbringen? Wie kann er mehr Anerkennung genießen und mehr Liebe bekommen als wir? Das ist doch unser Kolka, Petka oder auch Serjoschka. Im Kindergarten haben wir uns mit ihm gekloppt, in der Schule Unfug gemacht und als Studenten die Nacht durchgefeiert. Ich kenne ihn in- und auswendig und weiß genau, was er für ein Schlawiner ist. Er ist ein anständiger Kerl, der aber bestimmt keine Sterne vom Himmel holt ... Was? Er hat sie doch geholt? Einfach so?

Seine wissenschaftlichen Artikel werden in der ganzen Welt veröffentlicht? Er soll in Harvard lesen? Das glaub ich nicht! Unsere Lehrer haben ihm immer gesagt, er solle sich ein Beispiel an mir nehmen!

Genau darum dürfte es gehen. Wenn du einen Altersgenossen triffst, der von allen respektiert wird, dann wächst in dir ... nein, nicht Neid. Eher etwas wie Unglauben und Verwirrung. Unwillkürlich fragst du dich: Könnte ich da an seiner Stelle stehen?

Das Anwesen des Herrn Dietrich, genauer des Geschlechts der Dietrichs, machte den Eindruck eines echten Familiensitzes, ein alter, aber solider und bis in den hintersten Winkel eingelebter Bau, der so stark mit seiner Umwelt verschmolz, dass er natürlicher als die Berge, die Wälder und Weinreben wirkte. Vielleicht war dieser Effekt dem Architekten zu verdanken, vielleicht aber auch der Zeit, die ja bekanntlich der beste aller Architekten ist. Selbst ein tristes Mietshaus kann sie in eine Perle im Stadtbild verwandeln. Seinerzeit waren die Pariser gegen den Bau des Eiffelturms auf die Straße gegangen, heutzutage wäre die Stadt ohne ihn nicht denkbar ...

Ein Hausangestellter teilte mir mit, Dietrich würde gleich von seinem Ausritt zurückkommen, und bot mir an, im Haus, gern aber auch in der Laube vor dem Anwesen auf ihn zu warten. Bescheiden wählte ich die Laube, was den Diener jedoch nicht daran hinderte, mir einen grünen Tee und schlanke Zigarren zu bringen. Diese Gastfreundschaft flößte mir Hoffnung ein. Ich saß in der grünumrankten Laube und ergötzte mich an der idyllischen Landschaft um mich herum, selbst wenn mein Blick immer wieder zu dem Turm huschte. Er war jetzt ganz nah. Da ich nun alle Details erkennen konnte, fand ich meinen ersten Vergleich - mit einem in sich verdrehten Fächer - bestätigt. Man muss sich das so vorstellen, dass aus einem gemeinsamen Fundament aus Glas und Stahl zwei Dutzend schmaler Wolkenkratzer wuchsen, die leicht aufgefächert waren. Erstaunlicherweise hielten sie sich in dieser Position. Dann wurden diese Wolkenkratzer minimal gegeneinander verdreht. Diesen halb aufgeklappten Fächer musste man dann nur noch spiralförmig an der Mittelachse hochziehen.

Ist das vorstellbar?

Jetzt noch die Maße. Die »Fächerscheibe« dürfte dreihundert Meter hoch, etwa zwanzig breit und fünf Meter - vielleicht etwas mehr - dick sein.

Diese futuristische, in den Bergen völlig deplatzierte Konstruktion dräute über dem alten Steinhaus. Vermutlich fiel ihr Schatten hin und wieder auf das Haus und den umliegenden Hof.

Aber das bemerkte niemand.

Ich hatte die Zigarre, die sich als weit schmackhafter erwies als die Zigaretten Andrés, gerade bis zur Hälfte geraucht, als auf dem Weg, der sich durch die Weinstöcke schlängelte, ein Reiter auftauchte. Auf irgendeine Weise hatte der junge Landbesitzer bereits von meiner Ankunft erfahren, denn er überreichte einem Diener kurz vor der Laube die Zügel und kam direkt auf mich zu. Mit seinem weißen Reitanzug und den hohen weißen Stiefeln aus weichem Leder sah er genauso aus, wie in meiner Vorstellung ein reicher und geschätzter Landbesitzer aussehen muss, der ausreitet, um seine Besitzungen in Augenschein zu nehmen.

Ich erhob mich zur Begrüßung.

Dietrich war mein Altersgenosse und ähnelte mir sogar ein wenig. Nur dass er körperlich kräftiger war, nichts von der ungesunden Schlaffheit des Städters an sich hatte. (Aber wie viel überflüssiges Fett würdest du wohl noch mit dir rumschleppen, wie bleich und voll wäre dein Gesicht, wenn du dein Leben lang an der frischen Luft zu Fuß gehen oder reiten würdest?) Zu allem Überfluss sah Dietrich ungeachtet der diffusen Ähnlichkeit zwischen uns beiden eindeutig besser aus als ich. Das gestand ich mir ehrlich und objektiv ein. Seine Schönheit lag zudem nicht in einer weichen Jünglingsanmut, wie sie von nicht mehr ganz so jungen Frauen geschätzt wird (»ach, mein Hübscher!«) und nicht in der Brutalität eines städtischen Machos, wie sehr junge Frauen sie mögen (»ein richtiger Kerl!«), sondern in der Gesamtharmonie von Gesicht und Figur. Kurz und gut, die Frauen mussten sich reihenweise in ihn verlieben, die Männer ihn achten.

In mir meldete sich der bittere Gedanke, vor mir stünde eine Art besserer Kopie meiner selbst.

»Guten Tag!« Er streckte mir die Hand hin und lächelte offen und freundlich. »Warten Sie schon lange auf mich?«

»Nein, nicht sehr lange.« Ich ergriff seine Hand. Natürlich, auch sein Händedruck war angenehm ... »Vielen Dank für die Bewirtung mit Tee und Zigarren. Es freut mich, Sie kennenzulernen, Herr Dietrich.«

»Al«, sagte Dietrich. »Nennen Sie mich einfach Al. Wir sind ja anscheinend Altersgenossen.«

»Stimmt«, antwortete ich. »Dann bin ich Kirill. Oder einfach Kir.«

»Kirill.« Er schien sich den Namen auf der Zunge zergehen zu lassen, als erkunde er seinen Geschmack. »Kirill. Ein schöner und seltener Name. Wollen wir ins Haus gehen oder ...«

Ich sah zum Turm rüber. »Könnten wir uns vielleicht hier unterhalten?«, fragte ich.

»Verstehe«, erwiderte Dietrich mit gedämpfter Stimme. »Sie auch ... Gut, bleiben wir hier.«

Er nahm mir gegenüber Platz und gab dem Diener, der mir den Tee gebracht hatte und bis jetzt in einiger Entfernung abwartete, ein Zeichen, woraufhin dieser im Haus verschwand.

»Ich lasse mir auch einen Tee bringen«, erklärte Dietrich. »Sie sehen ihn?«

»Den Turm? Ja.«

»Wie sieht er denn aus?«

Ich lächelte. O ja, wir ähnelten uns wirklich.

»Er ist hoch, etwa zweihundert Meter. Und er sieht wie ein Fächer aus Glas und Stahl aus, der zu einer Schraube verdreht ist.«

»So beschreibe ich ihn auch immer«, sagte Dietrich. »Das heißt, ich habe ihn so beschrieben, bis ich einsah, dass das keinen Sinn hat. Woher sind Sie, Kirill?«

Musste ich jetzt eine Wahl treffen oder nicht?

Ich lauschte in mich hinein.

Nein, da rührte sich nichts ... Keinerlei Fähigkeiten. Also blieb mir kaum eine Wahl.

Ich sah Dietrich fest in die Augen. »Aus einer anderen Welt.«

»Oh«, brachte Dietrich hervor. »Oh!«

Er erhob sich sogar und fing an, nervös durch die Laube zu tigern. Der Diener brachte auf einem Tablett eine weitere Tasse und eine Teekanne und wurde von Dietrich mit einem Nicken wieder entlassen.

»Das scheint Sie nicht zu wundern«, bemerkte ich.

»Das? Nicht wundern? Das verschlägt mir die Sprache, Kirill! Sie ... Gut, ich habe schon selbst mal daran gedacht, aber ... und nun das ...«

Mit einem Mal begriff ich, dass dieser attraktive, kluge, reiche und absolut selbstgenügsame Mann tatsächlich bis in die Tiefe seiner Seele erschüttert war. Das machte es mir leichter. »Ich vermute, wenn Sie den Turm sehen, sind Sie bestimmt auch schon einmal Funktionalen begegnet.«

»Wem?«

»Den Menschen-über-den-Menschen.«

»Die haben nie behauptet, aus einer anderen Welt zu sein. Sie reden ohnehin nicht von sich. Daher habe ich immer angenommen, auf irgendeinem Kontinent habe sich eine Enklave mit einer höheren Zivilisation gehalten ...«

»Sie wissen also sogar, dass es mehrere Kontinente gibt«, hielt ich erfreut fest. »Vielleicht kennen Sie dann auch das Wort Geschichte?«

»Ja.« Stöhnend setzte er sich wieder hin und goss sich Tee ein. »Allerdings ist mir nur das Wort bekannt. Wir haben hier keine Geschichte. Geschichte ist ein Tabu ... sagt Ihnen dieses Wort etwas?«

»Ja.«

»Umso besser. Also, bei uns gehört es sich nicht, darüber zu diskutieren, was früher war.«

»Die arme Frau«, murmelte ich. »Ich hab ja nicht gewusst, dass ...«

»Welche Frau?«

»In der Bibliothek. Ich habe sie nach der Geschichte Ihrer Welt gefragt. Daraufhin hat sie mich zu Ihnen geschickt.«

»Ah ... ich weiß schon, wen Sie meinen.« Ein Strahlen malte sich in seinem Gesicht. »Sie hatten Glück, Sie haben die richtige Person befragt. Diana ist genauso verschroben wie ich. Auch sie möchte gern wissen, was war, bevor die Welt starb.«

»Aber es gibt bei Ihnen Menschen, die den Kontinent besuchen ... und dort nach allerlei Artefakten suchen ...«

»Gewiss, die gibt es. Zwei, drei tollkühne Kapitäne. Aber die interessiert nur das Geschäft. Sie dürften sich jedoch für etwas anderes interessieren.«

»Ja.«

»Können Sie mir vielleicht ein wenig über die Hintergründe berichten?« In Dietrichs Stimme schwang ein bittender Unterton mit.

»Ja«, antwortete ich. »Also ... es existieren viele Welten, die der Erde vergleichbar sind. Im Grunde sind das auch alles Erden. Nur ist jede anders.«

»Verstehe ...« Dietrich sah mich ehrfürchtig an.

»Diese Welten ... sind im Raum verteilt. Meiner Ansicht nach jedoch nicht nur im Raum, sondern auch in der Zeit. In manchen Welten leben Menschen. In anderen gibt es keine Zivilisationen.«

»Das wäre in der Tat eine mögliche Theorie«, sagte Dietrich nachdenklich. »Ich habe lange über diese Fragen nachgedacht ...«

»Das ist leider keine Theorie. Ich bin in verschiedenen Welten gewesen. Ich komme selbst aus einer anderen Welt. Und ich glaube, meine Welt ist Ihre Vergangenheit.«

»Halt!« Dietrich fuchtelte mit der Hand. »Das ist nun wirklich blanker Unsinn! Ich habe diese Abenteuerromane gelesen, in denen sich der Held auf Zeitreise begibt. Das ist ein interessantes Gedankenspiel. Aber die Autoren räumen selbst ein, dass dergleichen unmöglich ist. Solche Reisen würden uns vor ein Paradoxon stellen. Wenn Sie tatsächlich aus unserer Vergangenheit stammen, dann würden Sie mit Ihrer Rückkehr Ihre Gegenwart ändern und folglich unsere Zukunft. Damit würde es unsere Zukunft nicht mehr geben, und Sie könnten gar nicht hier sein.«

»Und wenn sich die Zeit verästelt?«, wandte ich ein. »Wenn jede Reise einen neuen Zweig der Zukunft hervorbringt? Lass uns ... Lassen Sie uns der Einfachheit halber mal annehmen ...«

»Dann lassen Sie uns der Einfachheit halber auch zum Du übergehen.«

»Gern. Stellen wir uns einmal vor, ich hätte eure Zukunft gesehen, würde zurückkehren und unsere Zukunft würde daraufhin anders aussehen. Aber eure würde es auch noch geben.«

»Ich glaube, die Paradoxa wären damit nicht aus der Welt.« Dietrich runzelte die Stirn. »Aber im Grunde kann ich mich sowieso nicht auf diese Hypothese einlassen. Bist du sicher, dass du aus unserer Vergangenheit stammst?«

»Also zumindest komme ich aus einer Welt, die sehr stark an eure Vergangenheit erinnert«, lenkte ich ein. »Aber hundertprozentig sicher bin ich mir nicht. Ich versuche selbst noch dahinterzukommen. Gut, nehmen wir mal an, alle Welten würden sich auf verschiedenen Entwicklungsstufen befinden. In manchen Welten verlief die Geschichte so, in anderen so. Hier schneller, dort langsamer. Wärst du bereit, diese Hypothese zu akzeptieren?«

»Ja«, sagte Dietrich. »Und dann sind die Menschen-über-den-Menschen ...«

»Normalerweise heißen sie Funktionale.« Ich stieß einen Seufzer aus. »Sie ähneln den Menschen in vielem, aber jeder hat eine Spezialfunktion, einen Beruf, in dem er es zu Vollkommenheit gebracht hat, in dem er ein Niveau erreicht, das einfache Menschen nie erreichen. Trotzdem solltest du sie nicht beneiden. Die meisten Funktionale sind extrem eingeschränkt. Andere Sachen kriegen sie nämlich kaum noch hin. Außerdem sind sie, um es einmal bildlich auszudrücken, an das Gebäude gebunden, in dem sie ihren Beruf ausüben. Ein Friseur an seinen Laden, ein Arzt an sein Krankenhaus ...«

»Ein Schuster an seine Leisten. Stimmt schon, das ist nicht gerade angenehm.«

»Ich bin ein solches Funktional gewesen. Meine Arbeit war insofern besonders, als sie interessanter als alle anderen Tätigkeiten war, jedenfalls meiner Meinung nach. Ich war ein Zöllner. In meinem Haus gab es Türen in andere Welten.«

»Kaum zu glauben ...« Dietrich sah mich voller Respekt an. »Und ... wozu dient das alles?«

»Warte. Dazu kommen wir noch. Über den normalen Funktionalen sitzen die Sonderfunktionale.«

»Wie sollte es auch anders sein?« Dietrich schnaubte. Ich ließ ihn meine Worte ungehindert kommentieren, anscheinend bewältigte er auf diese Weise seinen inneren Aufruhr.

»Zum einen sind das die Polizistenfunktionale. Auch sie sind jeweils an ihren Abschnitt gebunden. Zum anderen gibt es Hebammen. Nein, sie assistieren dir nicht bei den Wehen, sondern verwandeln einen vorher bestimmten Menschen in ein Funktional. Wenn ein Mensch ein Funktional wird, wird er praktisch aus seinem bisherigen Leben ausradiert. Seine Freunde und Verwandte vergessen ihn. Sogar sämtliche Institutionen in seiner Welt vergessen ihn.«

»Auch nicht sehr schön.«

»Das kannst du laut sagen. Aber weiter: In jeder Welt gibt es einen Kurator. Er steht über den Polizisten und Hebammen und ordnet an, welche Person zu welcher Art Funktional zu verwandeln ist. Er hat große Macht und enorme Möglichkeiten. Aber auch er ist nicht frei. Er bekommt seine Befehle wiederum aus einer Welt namens Arkan. Das dürfte die technisch am weitesten entwickelte Welt sein. Soweit ich es begriffen habe, gehören Funktionale dort zum Alltag und sind eine normale Erscheinung dieser Zivilisation.«

»Aber damit hört es auch noch nicht auf, oder?«, wollte Dietrich wissen.

»Genau, damit hört es auch noch nicht auf. Ich habe guten Grund zu der Annahme, dass die ersten Funktionale aus eurer Welt gekommen sind. Als sie unbewohnbar wurde ... da sind sie wahrscheinlich großteils nach Arkan ausgewandert. Sie hatten die Möglichkeit entdeckt, sich in Raum und Zeit zu bewegen, und sind dort hingegangen. Aber sie haben es nicht dabei belassen, Arkan zu erobern und nach ihren Bedürfnissen umzuformen. Sie haben sich auch in die Angelegenheiten anderer Welten eingemischt. Sie lenken ihre Entwicklung in die Richtung, die ihnen genehm ist. Arkan ist ihre Basis. Eure Welt ist ihre Heimat. Sie ... sie sind nicht gerade zimperlich. Sie töten, ohne mit der Wimper zu zucken, noch weniger Gedanken verschwenden sie daran, das Schicksal eines Menschen umzuschreiben. Normale Funktionale, selbst die Hebammen und Kuratoren, sind bloß ihre Angestellten oder besser gesagt ihre Sklaven. Ich glaube, sie haben nicht ohne Grund in einer der Welten bis heute die Sklavenhaltergesellschaft aufrechterhalten. Das interessiert sie halt.«

»Was?«

»Die Beziehungen zwischen Sklaven und Herrn.«

»Wir sind keine Sklaven«, sagte Dietrich ernst.

»Nein, ihr seid keine Sklaven. Wahrscheinlich haben sie sich eurer Welt gegenüber gewisse herzliche Gefühle bewahrt. Aber trotzdem experimentieren sie auch mit euch. Euer Planet ist unbewohnbar und lebensgefährlich, nur auf einer einzigen namenlosen Insel gibt es eine friedliche, patriarchalische, mit der schlichten Existenz zufriedene ...«

»Manchmal glaube ich, das ist Kreta.«

»Was?«

»Ich habe versucht, aus alten Büchern herauszukriegen, wie unsere Insel heißen könnte. Zunächst habe ich geglaubt, es sei Formosa. Aber dann bin ich zu dem Schluss gekommen, dass es Kreta ist. Ich weiß es nicht. Wir nennen sie jedenfalls einfach nur Insel.«

Was für eine Ironie und Symbolik, schoss es mir durch den Kopf. Die Insel im Mittelmeer, einst die Wiege der menschlichen Zivilisation, dient ihr heute als Totenbett.

»Das ist interessant«, sagte ich. »Aber es spielt kaum eine Rolle. Ob es nun Grönland, Formosa, Madagaskar, Kreta ...«

»Aber es spielt eine Rolle, dass die Funktionale aus unserer Welt sind. Und dass bei uns ...« Er schielte zum Turm rauf. »... der da steht.«

»Das stimmt.«

Dietrich versank in seine Gedanken. »Und du bist also ein ehemaliges Funktional?«

»Ja. Ein Zöllner.«

»Wie sind deine Beziehungen zu den anderen Funktionalen?«

»Wie?« Ich zuckte die Schultern. »Ein paar von ihnen habe ich ermordet.«

Dietrich fuhr zusammen und rückte von mir weg.

»Vor anderen bin ich auf der Flucht, denn die wollen mich umbringen. Insofern bin ich ein faszinierender, aber gefährlicher Gast.«

»Du ...« Er zögerte. »Kannst du was? Etwas, das ein Mensch nicht kann?«

»Ja. Manchmal. Ab und an kann ich ein Tor in eine andere Welt öffnen. Mein Freund, er ist Kurator in meiner Welt, glaubt, es hat eine gewisse Störung gegeben. Und zwar, als wir beide einmal aneinandergeraten sind. In diesem Kampf waren meine Fähigkeiten noch nicht völlig verschwunden. Ich konnte ihm Widerstand leisten. Und jetzt verfügen wir beide nicht mehr über unsere vollen Kräfte. Einer von uns wird Kurator auf der Erde. Der andere stirbt wahrscheinlich. Das ist jedenfalls eine Variante.«

»Und die andere?«

»Wenn wir es schaffen, unsere Welt dem Einfluss der Funktionale von Arkan zu entziehen, wenn wir sie überzeugen oder notfalls zwingen könnten, uns in Ruhe zu lassen, dann könnten wir vielleicht beide am Leben bleiben. Vermutlich könnten wir unsere Fähigkeiten dann sogar in unserem eigenen Interesse einsetzen.«

»Wie aufschlussreich ...«, brachte Dietrich nachdenklich hervor. »Oh, entschuldige, ich habe das ... sehr abstrakt durchdacht.«

»Macht nichts.«

Wir hüllten uns beide in Schweigen.

»Und was willst du jetzt tun? Hast du einen Plan - da du schon mal zu uns gekommen bist?«

»Der Plan ist entstanden, als ich dieses dumme Ding auf dem Berg gesehen habe ...«

»Was für ein dummes Ding? Ach so, verstehe ...«

»Ich will da hin.«

»Und dann?«

»Keine Ahnung.« Ich breitete die Arme aus. »Den nächsten Schritt habe ich mir noch nicht überlegt. Ich bin mir noch nicht mal darüber im Klaren, was das genau für ein Ding ist. Vielleicht ist es genau die eine Vorrichtung im gesamten Universum, die es überhaupt erst gestattet, dass Funktionale von einer Welt in eine andere reisen und ihre Wunder vollbringen. Und wenn sie zerstört werden würde ...«

»Dann würdest du bei uns festsitzen.«

Daran hatte ich nicht gedacht. Der ernste Ton, in dem Dietrich sprach, beschwor in mir prompt ein Bild herauf, wie ich für immer auf dieser Insel gefangen blieb. Oje ...

Komisch. Da war ich bereit zu sterben und mich Hals über Kopf in den Kampf zu stürzen - aber nicht hierzubleiben?

»Dann werde ich dich um Protektion bitten ... um einen Arbeitsplatz in der hiesigen Bibliothek. Dort werde ich mich mit Geschichte befassen.«

»Eine gute Idee«, meinte Dietrich. »Nicht viel Arbeit ...«

Wir mussten beide lächeln.

»Vielleicht hat es mit dem Ding ja auch gar nichts auf sich«, fuhr ich fort. »Vielleicht ist es nur ein Denkmal. Oder ein Museum. Oder ein Sanatorium. Vielleicht hat es nicht mal einen Eingang. Aber ich möchte es versuchen. Und ich brauche Hilfe.«

»Von mir abgesehen, wird dir niemand helfen«, warnte mich Dietrich gleich.

»Gar niemand? Und eure Regierung?«

»Die Kaiserin wird in unserer Gesellschaft sehr verehrt«, wog Dietrich die Worte vorsichtig ab. »Aber ihre reale Macht ist nicht sehr groß. Wir ... wie soll ich das ausdrücken ... wir brauchen nicht unbedingt eine Regierung. Es gibt Polizisten, aber nicht wie früher eine Armee. Unser Verhältnis zu den Menschen-über-den-Menschen ist im Grunde nicht schlecht. Es ist von Achtung geprägt. Von Verehrung, einer leichten Scheu und einem ehrfürchtigen Erschaudern. Sie kommen nicht oft zu uns, kränken niemanden, kaufen den Schatzsuchern ihre Artefakte vom Festland ab, bringen uns aber auch bei, wie man damit umgeht. Sie behandeln uns, wenn wir krank sind. Außerdem gab es mal einen Fall ... also, kein Krieg, wir führen hier keine Kriege. Aber es gab mal einen Streit zwischen zwei Dörfern. Wegen Weideland. Davon gibt es nicht so viel, weil das Kerngebiet der Insel aus unbewohnbarem Gebirge besteht ...«

»Ich weiß, ich bin da gewesen«, sagte ich düster.

»Die Menschen-über-den-Menschen haben den Streit beigelegt. Natürlich nicht mit Gewalt. Sie ... sie haben das Landstück einfach einem dritten Dorf zugesprochen. Damit waren alle zufrieden.«

»Also regieren sie doch.«

»Eher passen sie auf uns auf. Und dafür werden sie verehrt. Sie sind eine Kraft, die bei Bedarf für Ordnung sorgt. Alle wissen das und sind zufrieden.«

»Und du?«

»Mir gefällt dieses Ding über meinem Kopf nicht«, antwortete Dietrich verdrossen. »Es gefällt mir nicht, basta ... Hast du Hunger?«

»Wenn du so fragst ...«

»Dann lass uns reingehen! Ich werde dafür sorgen, dass dir ein Zimmer zurechtgemacht wird und wir was zu essen bekommen.«

»Ich weiß nicht, ich habe ein Zimmer in einem Hotel gemietet ...«, setzte ich an. Aber Dietrich lächelte so beredt, dass ich mich nicht länger sträubte. »Vielen Dank für die Einladung. Aber vergiss nicht, dass ich ein gefährlicher Gast bin. Die guten Menschen-über-den-Menschen könnten meinetwegen plötzlich auf der Bildfläche erscheinen.«

»Das sollen sie mal wagen«, brachte Dietrich heraus, wenn auch nicht sehr überzeugt. »Wirklich, das sollen sie mal wagen. Das gäbe einen Skandal ...«

»Aber sie haben keine Angst vor Skandalen.«

»Gehen wir.« Dietrich klopfte mir auf die Schulter. »Lassen wir die Dinge auf uns zukommen ...« Als wir kurz vor der Tür angelangt waren, fügte er noch leise hinzu: »Sag mal ... hast du wirklich lebende Menschen umgebracht?«

»Ja«, antwortete ich. »Aber das hat sie sehr schnell in tote Menschen verwandelt.«

Man hatte mir nicht nur ein Zimmer zurechtgemacht. Ein behäbiger, schon angejahrter Mann, fraglos einer der ältesten Diener im Haus, begleitete mich in den ersten Stock hinauf, in das Gästezimmer, sah sich höchst aufmerksam um, nickte zufrieden und zog sich zurück. Entzückt darüber, dass zu dem Gästezimmer auch ein Bad gehörte, wusch ich mich voller Genuss, zum ersten Mal, seit ich Feste verlassen hatte. Hier gab es kein elektrisches Licht, nur Kerzen, dafür aber warmes Wasser und eine recht ordentliche Dusche in einer riesigen Marmorwanne, Seife und Shampoo. Als ich mich gerade mit einem weichen Badehandtuch frottierte, klopfte es sanft an die Tür, bevor diese einen Spalt geöffnet wurde und jemand ein paar Kleidungsstücke auf dem Steinfußboden ablegte.

Diese stammten anscheinend aus Dietrichs Garderobe, aber wir hatten wirklich beinahe die gleiche Figur.

Auch Dietrichs Geschmack entsprach meinem. Jeans oder etwas, das diesen Hosen so nahekam, dass es sinnlos wäre, nach einem anderen Wort zu suchen, da sie ebenfalls aus dunkelblauem festem Stoff waren und Nieten an den Taschen hatten. Ein einfaches, rot-blau kariertes Hemd, das wie üblich geknöpft wurde, nicht in der seltsamen hiesigen Mode an der Schulter. Schuhe, die zwar bereits eingetragen waren, dafür aber höchst geeignet für eine Bergtour schienen. Alles war sauber, Unterwäsche und Strümpfe wohl sogar neu.

Ich stutzte. Die Kleidung war eher für einen Ausflug in die Berge als für ein friedliches Abendessen gedacht.

Doch kaum hatte der Diener mich ins Esszimmer gebracht, klärte Dietrich mich auf: »Ich habe darum gebeten, dir diese Kleidung zu geben, damit du im Notfall ... das Haus schnell verlassen kannst und doch angemessen gekleidet bist. Deswegen sind die Schuhe auch schon getragen.«

»Du bist wirklich vorausschauend«, meinte ich.

»Ich bin sehr vorausschauend«, antwortete Dietrich traurig. »Manchmal viel zu sehr. Aber das ist besser, als am Ende das Nachsehen zu haben.«

Der Tisch war bereits gedeckt, aber zu meiner großen Erleichterung bediente uns niemand. Dietrich hatte offensichtlich auch daran gedacht: dass uns niemand bei unserem Gespräch störte.

»Ich würde dich so gern ausfragen«, gestand er verlegen ein. »Aber du hast Hunger. Also iss, ich erzähl dir derweil alles, was ich weiß.«

Ich aß. Mit großem Appetit. Zunächst gab es Ente in Orangensoße. Irgendwie chinesisch zubereitet, wenn auch in dieser Welt mit gewissen Veränderungen. Dann folgte eine sämige Suppe aus Miesmuscheln, Fischen und Tintenfischen oder Kraken, die so klein zerhackt waren, dass du das nicht mehr erkennen konntest. Ich hatte mich bereits damit abgefunden, dass man hier - genau wie auf Arkan - den Hauptgang zuerst aß. Ob die Funktionale diese Angewohnheit damals von hier mit nach Arkan gebracht hatten? War das womöglich doch nicht die Zukunft meiner Welt?

Aber ich hütete mich besser davor, aufgrund der Speiseabfolge solche Schlussfolgerungen zu ziehen.

Dietrich erzählte mir inzwischen alles ausführlich und im Detail. Er fing mit seiner Kindheit an, wie er den Turm gesehen hatte, ihm aber bis auf seinen Vater niemand geglaubt hatte. Sein Vater hatte jedoch verlangt, er solle nie wieder ein Wort darüber verlieren. Er hatte das damit begründet, dass diejenigen, die den Turm sehen, von den Menschen-über-den-Menschen fortgeschleppt würden. Bis heute wusste Dietrich nicht, ob an diesen Worten etwas dran war. Er war sich nicht einmal sicher, ob sein Vater den Turm ebenfalls gesehen hatte; seine Mutter und seine Schwester hatten ihn jedenfalls nie gesehen. Da er jedoch ein braver Junge gewesen war, kam er nie wieder auf das Thema zurück. Von wenigen Ausnahmen abgesehen.

Er berichtete von seiner Familie, vom Geschlecht der Dietrichs, dessen Wurzeln weit, weit zurückreichten, bis hinein in die Zeit vor jener mysteriösen Katastrophe, welche die Welt verändert hatte. Ich hatte den Eindruck, dass er wirklich eine gute Familie haben musste, die nie nach der Macht gegriffen hatte und auf der ganzen Insel verehrt wurde.

Alles, was Dietrich von den Menschen-über-den-Menschen wusste, teilte er mir mit. Sie kamen meist zur Frühjahrsmesse und zu Festen in die Stadt. Sie erwarben alle Artefakte vom Kontinent. Manchmal mischten sie sich unters einfache Volk. Ihre Soldaten suchten regelmäßig leichte Mädchen auf. Seinen Worten entnahm ich, dass es als Glücksfall galt, ein Kind von einem solchen Kunden zu bekommen und eine Prostituierte in diesem Fall, nunmehr eine gute Partie, gern geheiratet wurde - natürlich nur, sofern sie das wünschte. Die Menschen-über-den-Menschen selbst interessierten sich in keiner Weise für etwaige Sprösslinge, die ihrerseits wie normale Kinder aufwuchsen, allerdings ebenfalls als gute Partie galten. Damit variieren die Funktionale fröhlich und ganz inoffiziell den Genfond der hiesigen kleinen Menschheit, dachte ich bei mir.

»Kommen sie immer mit den Soldaten?«, wollte ich wissen.

»Ja. Die Soldaten kriegen aber kaum den Mund auf. Sie verstehen unsere Sprache nicht gut. Aber die anderen, die ohne Waffen, die können sie frei sprechen. Genau wie du.«

»Die Soldaten sind vermutlich keine Funktionale«, erklärte ich. »Es sind normale Menschen aus einer anderen Welt, aus Arkan ... Und sie verlassen die Insel jedes Mal wieder?«

»Es gibt Gerüchte, dass sich die Soldaten manchmal in unsere Frauen verlieben und für immer hierbleiben. Aber du kennst die Frauen ja, sie können sich so was auch ausdenken, weil es so romantisch klingt. Das alte Lied ...«

»Und es hat nie Konflikte gegeben?«

»Nein. Sie sind immer sehr höflich. Natürlich, manchmal handeln sie heimlich mit uns ...« Dietrich legte eine Pause ein. »Mein Vater hat kurz vor seinem Tod mit einem von ihnen ein hübsches Geschäft abgeschlossen. Er hatte eine Perle. So eine hast du noch nie gesehen ... von der Größe!« Dietrich beschrieb mit den Händen eine Perle von der Größe eines kleines Apfels. »Sie war absolut weiß und milchig. Eine perfekte runde Kugel. Wenn ich mir vorstelle, was mein Vater für sie ausgegeben hat ... Er hat sie einem Soldaten eingetauscht ...«

»Zeig mir mal, wofür«, verlangte ich. »Ich glaube, ich weiß, wovon du sprichst!«

Lächelnd erhob sich Dietrich vom Esstisch. In der hinteren Ecke des Zimmers lag auf dem Rauchtisch ein Gegenstand, der in festen roten Stoff gehüllt war. Dietrich lüpfte das Tuch und präsentierte mir den Inhalt feierlich: »Hier. Die Waffe der Menschen-über-den-Menschen.«

»Da ... da muss der Soldat von seiner Gier überwältigt worden sein ...«, meinte ich, obwohl ich ein wenig enttäuscht war. Dietrich hielt eine MPi in der Hand, genauso eine wie die, die mir im Meer abhandengekommen war.

»Nur die Patronen fehlen«, bemerkte Dietrich in bedauerndem Ton. »Hier, in diese Öffnung wird ein Spezialbehälter geschoben, in dem die Patronen stecken. Mein Vater hat versucht, welche herzustellen, aber das ist ihm nicht gelungen.«

»Ich habe noch ein Magazin in meiner Tasche«, erklärte ich. »Da sind zwar nur noch vierzehn Patronen drin. Aber das ist natürlich besser als nichts ...«

»Nimm es.« Dietrich hielt mir das Gewehr hin. »In dem Falle ist es deins.«

»Eine Perle«, sagte ich. »Von unsagbarer Schönheit und unschätzbarem Wert. Ja?«

»Die Perle hätte ich gern wieder«, gab Dietrich zu. »Aber eine Waffe ... ich kann damit nicht umgehen. Ein wichtiges Teil und die Patronen fehlen mir. Außerdem brauchst du sie.«

»Vielen Dank«, erwiderte ich. »Ich habe meine MPi verloren. Im Meer. Nachdem ich mich an einer Schnur am Felsen abgeseilt hatte. Ich hatte eine extrem stabile, aber dünne Schnur. Sie sah aus wie Nähgarn. Ich habe sie durch die MPi geführt ...«

»Ja, das kenne ich«, unterbrach Dietrich mich. »Der Soldat hat es meinem Vater gezeigt und der mir. Du musst einfach den Kolben aufklappen ... da ist eine spezielle Führung drin, siehst du hier, da ziehst du den Faden durch, und außerdem noch diese Klemme, die den Fall kontrolliert. Du hältst dich am Lauf und am Kolben fest und kannst mit dem Finger ganz einfach das Tempo regulieren ... Du bist klug, Kirill, wenn du da von allein drauf gekommen bist!«

»Du hast ja keine Ahnung, wie dämlich ich bin!«, entgegnete ich, den Blick fest auf die MPi gerichtet. »Ich ... also ich hab das alles ganz anders angestellt. Völlig anders. Und hätte mir beinah das Genick gebrochen.«

»Dann hattest du einfach Glück«, sagte Dietrich. »Und vielleicht ist das sogar besser als klug, aber ein Pechvogel zu sein.«

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