Fünf

Die Gemeinsamkeiten zwischen Elblag und Kimgim beschränkten sich nicht darauf, dass beide Namen fremd für meine Ohren klangen. Die kleine polnische Stadt war ebenfalls mit Häusern im Stil »Mitteleuropa, Renaissance und später« bebaut. Solche Städte gibt es im Grunde zuhauf - und zwar überall da, wo die Dampfwalze des Zweiten Weltkriegs sie verschont hat, wo weder deutsche Kanonen noch russische Katjuschas oder amerikanische B-17 ihr Werk verrichtet haben. Restauratoren können sich da noch so ins Zeug legen - den Gebäuden ist ihr Alter anzusehen. Man braucht die touristischen Pfade bloß mal zu verlassen, und sofort stößt man auf abblätternden Putz, bröckelndes Mauerwerk, verfaultes Holz und rissigen Stein.

Hier wirkte jedoch genau wie in Kimgim alles tipptopp. Frisch. Neu. Sowohl das Pflaster als auch die Fachwerkhäuser im deutschen Stil. Zwischen zwei solche Häuser zwängte sich der kleine Turm, in dem Marta lebte. Auf der Elblager Seite handelte es sich bei ihm um ein schmales, zweistöckiges Haus mit zwei Fenstern. Wie üblich nahmen normale Menschen den Bau nicht wahr, ansonsten hätte das helle Sonnenlicht, das durch eines der Fenster im zweiten Stock fiel, vielleicht jemanden irritiert. Vermutlich hatte Marta das Fenster nach Antik aufgelassen.

Marta und ich saßen in einem kleinen Restaurant, in dem man sie anscheinend gut kannte. Lächelnd hatte man uns in den ersten Stock hinaufgeführt, in dem fünf oder sechs Tische standen. Wir bekamen den schönsten von ihnen, vor einem Fenster, das zum Platz hinausging, und von den übrigen durch ein grünumranktes Holzgitter getrennt.

Marta beobachtete amüsiert, wie ich die in Polnisch abgefasste Speisekarte studierte, und gab dann eine Bestellung für uns beide auf.

»Du verstehst wohl nur Bahnhof?«, fragte sie, sobald der Kellner wieder weg war.

»Es gibt zu viele ähnliche Wörter«, murmelte ich. »Deshalb verstehe ich nichts. Was hast du bestellt?«

»Borschtsch. Der ist hier sehr gut. Dann Schweinefleisch mit Äpfeln. Heringssalat. Dazu eine Żubrówka.«

»Ja, Wahnsinn! Die echte polnische Küche wollte ich schon lange mal ausprobieren«, höhnte ich. Doch offenbar hatte ich Marta mal wieder unterschätzt, denn meine Ironie entging ihr nicht.

»Du möchtest also eines der traditionellen Gerichte, ja? Etwas Typisches? Soll mir recht sein. Dann bestelle ich vorneweg Czernina, danach Flaki ...«

»Stopp!« Ich hob die Hände. »Ich bin ein Mann von Verstand, ich wittere einen Hinterhalt aus hundert Metern. Borschtsch ist absolut fabelhaft! Ich bin sogar bereit zuzugeben, dass die Polen ihn erfunden haben.«

»Haben sie«, sagte Marta nachdrücklich.

Der Kellner brachte eine Karaffe mit einer klaren Flüssigkeit, in der ein schmaler Grashalm schwamm.

»Das ist wohl was anderes als das, was ihr in Russland als... Żubrówka verkauft«, meinte Marta herablassend.

»Das ist richtige Żubrówka. Mit einem Grashalm!«

Gegen die Wahrheit kommt man nicht an - weshalb ich auf jeden Widerspruch verzichtete. Vor allem da ich mich nicht ausgerechnet mit meiner Retterin streiten wollte. Sie musste einen richtig widerlichen Russen kennen, sonst hätte sie wohl kaum diese Ironie und diese Angriffslust an den Tag gelegt. Oder?

Die Żubrówka war wirklich gut. Schweigend tranken wir ein Glas. Auch der Borschtsch stellte sich als exzellent heraus.

»Ich habe heute Morgen in Charkow schon Borschtsch zum Frühstück gegessen«, sagte ich in dem Versuch, ein unverfängliches Thema zu finden. »Und jetzt esse ich ihn in Polen zum Abendbrot. Es muss mein Borschtsch-Tag sein.«

»In der Ukraine verstehen sie überhaupt nichts vom Barszcz«, blaffte Marta. »Den haben sie von uns übernommen, nur dass unserer eben besser ist.«

Obwohl Russland und die Ukraine schon seit einiger Zeit nicht mehr zusammengehörten, nahm ich ihr die Bemerkung krumm. »Ich weiß nicht«, griff ich zu einer Lüge. »Mir schmeckt der ukrainische eigentlich besser!«

»Da machen sich doch nur deine russischen Kolonialkomplexe bemerkbar«, konterte Marta überzeugt. »Alle unvoreingenommenen Leute geben zu, dass der Borschtsch in Polen besser ist. Du musst mal den Heringssalat probieren! Na, wie ist er?«

»Gut«, urteilte ich, als ich von dem Heringssalat kostete, den ich seit meiner Kindheit kannte.

»Der Fisch wird hier gefangen.« Marta wies mit der Hand in die Dunkelheit, als ob vor dem Fenster ein Kutter vorbeischwamm.

»Liegt Elblag denn am Meer?«

»An der Ostsee. Wusstest du das etwa nicht?«

»Weißt du denn, wo Urjupinsk liegt?«, fragte ich zurück.

»Ja. Das ist eine Stadt im Wolgograder Gebiet ...«

»Und ohne deine Funktionalsfähigkeiten?«

Endlich ging Marta der Nationalstolz aus, endlich brach sich ihre Neugier Bahn. »Du hast alles vergessen? Und all deine Fähigkeiten verloren?«

Ich nickte.

»Wie hast du dann die Hebamme umgebracht?«

»Ich hab’s halt geschafft ...«, antwortete ich vage. »Ich möchte nicht darüber reden ...«

»Du bist schon komisch.« Marta zündete sich eine Zigarette an und hielt auch mir die Schachtel hin. »Jemandem wie dir bin ich noch nie begegnet ...«

»Kennst du viele Funktionale?«

Schweigend nahm sie einen weiteren Zug. »Also, hier bei uns ...«, setzte sie mürrisch an. »Hier leben drei. Dzieszuk, Kazimierz und ich. Dzieszuk ist Koch. Nicht hier, sein Restaurant liegt am Stadtrand. Kazimierz ist Schneider. Zwei weitere können aus den Vororten hierherkommen. Kwitarz, der Fleischer ist. Und Krzysztof, ein Polizist. Erde-16 ist unbewohnt, Janus im Grunde auch, zumindest gibt es da keine Funktionale. Auf Antik lebt Saul. Er ist ein Glasbläserfunktional. Ein Sklave. Er ist gut ...« Das sekundenkurze Stocken verriet mir, dass Marta und Saul mehr verband als reine Bekanntschaft. »Aber sehr beschäftigt.«

»Das sind nicht viele«, fasste ich zusammen.

Erst jetzt begriff ich, wie kurz die Leine war, die die Funktionale an ihre Funktion band. Ich hatte wirklich das große Los gezogen: Um mich herum das riesige Moskau, dann noch Kimgim und Reservat, also eine moderne Metropole plus eine anheimelnde Stadt, die den Werken von Jules Verne und Charles Dickens entsprungen zu sein schien, und als Zugabe das warme sanfte Meer. Aber die Funktionale, die in kleineren Städten oder Dörfern lebten, mussten verdammt unglücklich sein.

Zum Beispiel Wassilissa in ihrer Schmiede.

Oder Marta in ihrem Turm.

»Dazu kommt noch die Hebamme«, fuhr Marta plötzlich fort. »Die Person, die dich zum Funktional macht. Bei uns in Europa ist das ein Mann.«

»Lebt er hier in der Nähe?«

»Nein.« Marta sah mich erstaunt an. »Ich weiß es nicht. Aber was spielt das schon für eine Rolle, schließlich gehen Hebammen nicht an der Leine! Ich glaube, er lebt in Frankreich oder Deutschland, kommt aber hin und wieder hierher. Er hat mich damals zum Funktional gemacht.«

Wir tranken noch ein Gläschen.

»Wie alt bist du eigentlich?«, wollte ich wissen. »Entschuldige die Frage ...«

»Was schätzt du denn?«

»Zwanzig.«

»Stimmt.«

»Und du bist seit neun Jahren Funktional?«

»Ja.«

Das verschlug mir die Sprache. Aus unerfindlichen Gründen war ich mir sicher gewesen, man würde nur Erwachsene in Funktionale verwandeln. Wie musste sich dieses Mädchen gefühlt haben, als seine Eltern, Nachbarn und Lehrer es von heute auf morgen nicht mehr erkannten? Wie hatte Marta das weggesteckt, mitten in ihrer Heimatstadt, wo sie jedes Gässchen und jedes Lädchen kannte? Was hatte sie empfunden, als sie ihre Mutter oder ihren Vater sah?

»Genau deshalb liefere ich dich denen nicht aus«, erklärte Marta. »Selbst wenn du ein Mörder bist. Schließlich haben sie dich auch nicht gefragt, ob du überhaupt ein Funktional werden willst oder nicht!«

»Stimmt, sie haben mich nicht gefragt«, sagte ich. »Danke. Ich werde dir nicht lange zur Last fallen. Wenn es dich nicht stört, würde ich gern bei dir übernachten und morgen früh abhauen.«

»Einverstanden«, antwortete Marta, wobei sie mir fest in die Augen sah. »Du kannst bei mir schlafen.«

Doch schon im nächsten Moment veränderte sich ihr Blick. Sie packte mich beim Arm und drehte mich zum Fenster um. »Da! Der Typ auf dem Platz!«

Zwischen uns und Martas Haus stand ein Mann auf dem Platz. Er wirkte irgendwie gedankenverloren, als wüsste er nicht, wohin er jetzt gehen sollte, zur Zollstelle oder ins Restaurant.

»Das ist Krzysztof Przebyżyński«, informierte mich Marta.

»Der Policzyszt?«, hakte ich nach. Entsetzt bemerkte ich, dass ich bereits Zischlaute in Wörter einbaute, wo sie gar nicht hingehörten. Zum Glück fiel es Marta jedoch nicht auf - oder sie legte diesmal ein überraschendes Taktgefühl an den Tag.

»Ja. Er spürt, wo ich bin ...«

Der Polizist mit den vielen Zischlauten im Namen setzte sich in Richtung Zollstelle in Bewegung.

»Offenbar will Krzysztof mir Zeit geben«, vermutete Marta. Sie sah mich an und biss sich auf die Lippe. »Aus deinen Plänen auszuschlafen wird nichts«, konstatierte sie seufzend. »So leid’s mir tut.«

»Wird er mich entkommen lassen?«, fragte ich mit einem Nicken hin zu dem Polizisten.

»Nein. Es ist seine Funktion, Verbrecher zu schnappen.« Marta erhob sich und griff nach meiner Hand. »Komm mit ...«

Umgehend schoss ein aufgelöster Keller auf uns zu. Ich verstand zwar nicht, was er sagte, entnahm dem Ton jedoch, dass er befürchtete, Marta und ich seien mit dem Essen nicht zufrieden. Marta setzte ihm in schnellen Worten etwas auseinander, woraufhin der Kellner uns eine dem Personal vorbehaltene Tür öffnete. Über eine schmale, ausgetretene Treppe erreichten wir das Erdgeschoss und hasteten einen Gang entlang, vorbei an der Küche, in der Geschirr klapperte und verführerische Düfte lockten. Der Kellner schaute uns nach. Die nächste Tür - in den Hinterhof - war nicht abgeschlossen. An einem Müllcontainer streunte ein herrenloser Hund herum und untersuchte mit der Pfote einen auf eine Zeitung gelegten Haufen Essensreste. Hier roch es schon anders. Säuerlich. Selbst der Nieselregen schaffte es nicht, diesen Gestank zu besiegen. In der Nähe lag ein relativ schmaler Fluss mit einer steinernen Promenade und einer übermäßig breiten Brücke, als solle der Fluss noch in sie hineinwachsen.

»Dahin!« Marta wies kurz entschlossen auf die Brücke.

»Krzysztofs Leine ist fast bis zum Äußersten gespannt. Sieh zu, dass du noch einen Kilometer weiterkommst, dann kriegt er dich nicht mehr.«

»Und dann?«, fragte ich. »Ich habe kein Geld, keine Papiere ...«

Marta versenkte die Hand in der Tasche. Sie kramte eine Unmenge Münzen und ein schmales, von einer silbernen Büroklammer zusammengehaltenes Bündel Scheine heraus. Dazu packte sie noch das eingedrückte Päckchen Zigaretten und ihr Feuerzeug.

»Reich einem Russen den kleinen Finger, und er nimmt gleich die ganze Hand.«, grummelte sie. »Hier!«

»Behalt das Geld ... Du musst ja noch bezahlen.« »Die kennen mich. Schlag hier keine Wurzeln! Mach, dass du wegkommst!«

»Sag mir doch wenigstens, wie weiter!« Etwas Nassforsches oder Stures regte sich mit einem Mal in mir. »Wohin soll ich denn gehen?«

»Über die Brücke!« Marta nickte in die Richtung. »Schlag dich zum Bahnhof durch, setzt dich in den Zug und fahr nach Gdañsk! Da gibt es drei Portale, durch die du in dein Moskau gelangst, aber auch an jeden x-beliebigen anderen Ort! Lauf jetzt!«

»Was ist das bloß für ein Tag, dass mich schon die zweite Frau fortjagt!«, rief ich fast ernsthaft aus. »Danke ... Irgendwann komme ich zurück. Ganz bestimmt. Und dann bin ich dran, dich in ein Restaurant einzuladen.«

Sie zuckte bloß mit den Achseln. Verflixt noch mal, mir passte der Rhythmus des heutigen Tages wirklich nicht. Und ich hätte es weiß Gott vorgezogen, mich auf eine andere Art von Marta zu verabschieden!

Doch es wäre dumm gewesen, den Abschied noch weiter hinauszuzögern.

Deshalb drehte ich mich um und lief zur Brücke. Der Hund, der sich aus den Resten den appetitlichsten Happen ausgesucht hatte, kläffte mir mit vollem Maul nach.

O nein, das war heute mit Sicherheit nicht mein Tag. Nie zuvor hatte mich ein Hund angebellt, nicht mal ein herrenloser. Immer hatten sie gespürt, dass ich sie liebe!

Die Brücke wirkte für diesen kleinen Fluss und dieses kleine Städtchen wirklich zu breit und zu pompös. Genau wie die riesige katholische Kirche, die sich unversehens zu meiner Rechten erhob.

Ob darin das europäische Geheimnis bestand, das Russland ewig verschlossen blieb? Alles immer ein klein wenig besser zu machen als notwendig. Größer. Solider. Schöner.

Während ich über die Brücke eilte, gestattete ich mir einen Blick zurück. Marta war schon weg, bestimmt war sie ins Restaurant zurückgekehrt. Ob sie versuchen würde, den Polizisten aufzuhalten? Hmm. Wenn, dann nicht sehr nachdrücklich. Vielleicht würde sie zwei, drei Minuten mit ihm plaudern. Möglicherweise hatte der Polizist selbst ja gar kein Interesse daran, mich zu schnappen, und es war bloß seine Funktion, die ihn zur Jagd auf mich antrieb. Vielleicht gönnte er sich eine kleine Pause. Oder ließ es ganz bleiben. Andererseits: Ich war erstens ein Russe, den man in Polen ohnehin nicht allzu gern sah. Und zweitens ein flüchtiges Funktional, was meiner Popularität ebenfalls keinen Auftrieb gab.

Obwohl ausgerechnet der Mord an der Hebamme mir einen Vorteil verschaffte. Die mochte, wie sich erwies, niemand. Nirgends.

Die Stadt war in der Tat klein, unmittelbar hinter der Brücke begannen bereits Felder, die entweder tatsächlich aufgegeben worden waren, weil sich der Boden als unfruchtbar herausgestellt hatte, oder jetzt im Herbst einfach nur diesen Eindruck erweckten. Ganz wie in Russland rostete ein Haufen Schrott vor sich hin, etwas weiter weg lagen alte Reifen und verfaulte Bretter. Aber der Weg, der durch die Felder führte, war makellos asphaltiert, ideal für einen Sprint. Meine durchgeweichte Kleidung hatte Marta gegen Sachen eingetauscht, wie sie sie auch selbst trug: Jeans, Turnschuhe, ein dickes kariertes Hemd, die ländliche Uniform des 21. Jahrhunderts. Wer solche Sachen trug, wurde nolens volens zum Unsichtbaren. Und obwohl alle Stücke die Logos bekannter Firmen zierten, wirkten sie, als seien sie in Polen hergestellt.

Im leichten Trab bewegte ich mich über die mondbeschienene Straße vorwärts, immer weiter von der Stadt weg. In der Ferne leuchteten die Straßenlaternen wie eine Girlande zu Silvester. Hier musste eine Autobahn oder ein Gleis entlangführen. Die kalte Luft war sauber und süß, mit einem bitteren Hauch von alten Blättern und eines Feuers, irgendwo weitab. Eine solche Luft gibt es nur in einer Herbstnacht fern der Stadt.

Es lag etwas Unangenehmes, eine Art Déjà-vu, in diesem nächtlichen Lauf. Illan fiel mir ein, die vor Zei geflohen war. Und ich selbst, wie ich mich vor nur vierundzwanzig Stunden (kaum zu glauben!) vor den Spezialeinheiten Arkans in Sicherheit gebracht hatte.

Ich wechselte in Schritttempo über und zündete mir eine Zigarette an. Allem Anschein nach hatte Marta den hiesigen Polizisten überredet, keinen allzu großen Eifer an den Tag zu legen. Eine Zeit lang marschierte ich in Richtung der Straßenlaternen, rauchend und darüber nachdenkend, wohin ich jetzt eigentlich gehen sollte, nach Danzig oder besser gleich nach Warschau, wo es vermutlich mehr Zollstellen gab. Denn ohne Pass und Visum konnte ich es mir abschminken, über eine normale Grenze der Menschen zu gehen. Es sei denn, ich griff auf den Trick der Agenten aus den alten Filmen zurück und band mir Hufe von Kühen an Füße und Hände, um auf allen vieren den Kontrollstreifen hinter mich zu bringen...

Oh, oh! Es heißt doch wahrlich nicht umsonst, Rauchen schade der Gesundheit! Dass ich mich jetzt umdrehte, war nämlich reiner Zufall.

Der Herr Polizist mit dem sehr polnischen Vor- und Zunamen machte diesem alle Ehre, sah er doch aus wie ein Pan aus alten Karikaturen oder Illustrationen. Untersetzt, mit einem kleinen Bäuchlein, einem buschigen Schnurrbart und kurzen Beinen.

Des ungeachtet stürzte er mir in der altbekannten mechanischen Manier eines Polizistenfunktionals hinterher.

Ich gab Fersengeld. Meine nicht zu Ende gerauchte Zigarette flog in den Sand, der Wind kam mir gar nicht mehr kalt vor, sondern heiß. Ich Idiot! Dämlack! Was musste ich auch gemütlich vor mich hinschlendern?!

»He! He, Mann!«

Die Stimme klang weit weg. Ich drehte mich im Lauf um - und blieb stehen.

Pan Krzysztof Przebyżyński hatte mitten auf der Straße haltgemacht, als sei er voller Wucht gegen eine unsichtbare Mauer gerannt.

Vortrefflich.

Grinsend stolzierte ich ein Stück zurück. Zwanzig Meter vor dem Polizisten blieb ich stehen. Pan Krzysztof tigerte mit finsterer Miene nach rechts und nach links, ganz wie ein hungriger Tiger am Gitter seines Zookäfigs.

Und es gab ja in der Tat ein Gitter, wenn auch ein unsichtbares. Genauer: kein Gitter, sondern eine Leine. Den Fluch jedes Funktionals.

»Ist es weit bis zu deiner Funktion?«, erkundigte ich mich mit ausgesuchter Höflichkeit.

»Elf Kilometer und sechshundertzwanzig Meter«, brummte Krzysztof mürrisch.

»Wie ärgerlich«, entgegnete ich. »Wollest du mich etwas fragen?«

»Komm näher«, bat der Polizist.

Ich brach bloß in höhnisches Gelächter aus. Dann holte ich eine Zigarette heraus und zündete sie an.

»Hör mal, Mann ... wie heißt du überhaupt ...«

»Kirill.«

»Die kriegen dich sowieso!« Pan Krzysztof klopfte seine Taschen ab. »He! Hast du noch Zigaretten?«

Ich entnahm der Schachtel die Hälfte der noch verbliebenen Zigaretten und steckte sie mir in die Tasche. Nachdem ich ein Steinchen aufgeklaubt und in die Packung gesteckt hatte, warf ich sie dem Polizisten zu.

»Was für ein beleidigendes Misstrauen!«, entrüstete sich Krzysztof. »Du solltest dich ...«

»Schämen?«, bot ich an.

Krzysztof seufzte und hockte sich hin. Er zündete sich eine Zigarette an. »Nein, das nicht«, antwortete er seufzend. »Am Ende kriegen sie dich doch ... Bei dem, was du auf dem Kerbholz hast ... lässt man dich doch nicht laufen. Greift seine eigenen Brüder an!«

»Was faselst du denn da?!«, explodierte ich. Ich hockte mich ebenfalls hin. »Ihr seid doch alle nur Bauern in einem Schachspiel! Ihr werdet von einer anderen Welt aus gesteuert!«

»Aus welcher?«

»Erde-1, Arkan. Sie führen in anderen Welten Experimente mit verschiedenen Gesellschaftsformen durch.«

»Also ... das habe ich nicht gewusst.« Krzysztofs Miene verfinsterte sich. »Wollen wir vielleicht zurück ins Restaurant? Wir setzen uns zusammen und du erzählst mir alles. Wenn uns wirklich irgendwelche Mistkerle zu ihrem eigenem Vorteil manipulieren ... wir Slawen müssen doch zusammenhalten, oder?!«

Entweder war ich von Natur aus naiv oder Polizisten verfügen über eine besondere Überzeugungsgabe, jedenfalls erwog ich einen Moment lang allen Ernstes diesen Vorschlag. Am Ende brach ich jedoch in Gelächter aus. »Das mit der Einheit der Slawen, das hättest du dir wirklich sparen sollen!«

»Stimmt«, räumte Krzysztof verärgert ein. »Aber ich wollte nichts unversucht lassen.«

Einander gegenüber sitzend, rauchten wir eine Weile.

»Ich gehe jetzt«, verkündete ich schließlich. »Richte deinem Chef aus, dass ich es nicht auf einen Konflikt anlege, mich aber auch nicht ergeben werde.«

»Mach ich«, versprach Krzysztof. Irgendwie recht bereitwillig.

»Die Leine stört dich, oder?«, fragte ich.

»Ja.« Krzysztof stand auf. »Deshalb gebe ich stets vor, sie sei bereits bis zum Zerreißen gespannt. Während ich eigentlich noch hundert Meter in der Hinterhand habe.«

Ich sprang hoch. Alles in mir spannte sich an. Würde ich das schaffen? Ja ... wahrscheinlich.

»Dann fang mich doch ... wenn du das kannst.«

»Außerdem ist es noch höchst vorteilhaft«, fuhr Krzysztof mit leisem Kichern fort, »wenn sich die Zonen mehrerer Polizisten überschneiden. Und sei es nur geringfügig. Dann kann man jemanden gut zu dritt in die Zange nehmen und jeden selbstgefälligen Vollidioten schnappen.«

Sie hatten mich von drei Seiten eingekreist. Die Straße nach Elblag versperrte Krzysztof, die, durch die ich gekommen war, eine Frau in mittleren Jahren mit einem so strengen Gesicht wie eine Busschaffnerin. Von der Feldseite her näherte sich im leichten, graziösen Lauf ein junger, schlanker Mann.

Natürlich hätten ihn weder seine Jugend noch sein graziler Körperbau gehindert, mich zu einem Teppich plattzuwalzen, über dem Knie auszuklopfen und vor die Tür zu legen.

Und hätte jene gute Frau namens Marta beschlossen, mir zu helfen, wie das alle netten Frauen in sämtlichen Hollywood-Filmen tun, nachdem der Held endgültig mit dem Rücken zur Wand steht, dann hätten die drei eben uns beiden eins übergezogen und uns anschließend in der Ecke abgestellt.

Drei Polizisten, das ist kein Spaß.

Ich sprintete quer übers Feld, in der Hoffnung, zwischen der Frau und dem anderen Mann durchschlüpfen zu können - denn Krzysztof würde seine Leine am Ende doch stören. Dabei hatte ich jedoch eins nicht bedacht: Nur weil ein Polizist keine Feuerwaffe trug, dies womöglich sogar prinzipiell ablehnte, hieß das nicht, dass er nur aus der Nähe gefährlich war.

Krzysztof holte aus, und der Stein - genau der, den ich in die Zigarettenschachtel gesteckt hatte - traf mich im Knie. Prompt knickte mein Bein weg, und ich fiel hin. Mein Fuß und der Unterschenkel ertaubten und kribbelten, als steckten sie in einem eisigen Brei.

»Ich habe dir ja gesagt, dass du uns nicht entkommst!«, rief Krzysztof in tadelndem Ton. »Weshalb hast du uns gezwungen, dich zum Krüppel zu machen? Hältst du uns für so mies? Glaubst du, uns gefällt das?«

Als sie sich nach und nach um mich herum aufbauten, krümmte ich mich - nicht vor Schmerz, denn mein Bein tat nicht weh, ich spürte es einfach nicht mehr -, sondern vor Hilflosigkeit und Wut. Drei neugierige Gesichter hingen als dunkle Flecken über mir. Warum hatte ich mir bloß eine anzünden müssen! Wenn ich das hier überlebte, würde ich aufhören zu rauchen! Versprochen!

Der Mann trat mich leicht in die Seite. Wofür er sich von Krzysztof einen Schlag auf den Hinterkopf einfing. »Was soll das? So ein Verhalten ziemt sich nicht für einen gebildeten Menschen!«

»Ich stelle nur sicher, dass er nicht simuliert«, maulte der Mann beleidigt.

»Wer es mit mir zu tun kriegt, der simuliert nicht mehr«, behauptete Krzysztof stolz. »Falls du es nicht weißt: Ich werfe eine Stahlkugel aus zwanzig Metern Entfernung durch eine Autotür! Glatt durch!« Daraufhin bot er mir seine Hand an. »Steh auf.«

Hast du dich schon mal vor drei wenig freundlichen Bürgern am Boden gewälzt? Selbst wenn die nicht die Absicht haben, dir kurzerhand die Rippen zu brechen?

Vielleicht ja schon, dergleichen kommt schließlich tagtäglich vor. Falls dem so ist, wirst du dich noch daran erinnern, wie wenig Vergnügen darin liegt. Wem es noch nie passiert ist, der möge auf mein Wort vertrauen. Und ruhig von einer Probe aufs Exempel absehen.

»Steh auf«, wiederholte Krzysztof. »Wir wollen dir doch nichts Böses, das dürfte dir doch klar sein ...«

Natürlich wäre ich aufgestanden. Was blieb mir denn anderes übrig? Dieser junge Heini hätte mir sonst bloß noch ein paar Tritte verpasst - bevor ich mich am Ende doch hochgerappelt hätte.

Genau in dem Moment funkelte am dunklen Himmel eine lange, helle Latte auf und sauste auf Pan Krzysztofs Schädel nieder. Zum ersten Mal in meinem Leben durfte ich mich davon überzeugen, dass der Ausdruck, jemandem gehen die Augen über, keine rhetorische Figur ist. Pan Krzysztof traten die Augen förmlich aus den Höhlen, und er fiel um wie ein Sack Kartoffeln. Die Latte setzte zur zweiten Runde an, landete schwungvoll im Gesicht des jungen Kerls und barst knackend, um anschließend, als abgebrochener Knüppel, gegen die Schläfe der Polizistin zu donnern.

Mühevoll setzte ich mich hoch, umgeben von drei reglosen Körpern. Angesichts der Unverwüstlichkeit von Funktionalen allgemein und von Polizistenfunktionalen im Besonderen mussten die Schläge als meisterhaft verbucht werden.

»Du Arsch!«, stieß ich finster aus, während ich den Mann betrachtete, der die Überreste der Latte in Händen hielt. »Du mieses Arschloch!«

»Ich habe dich gerettet, und du bezeichnest mich als Arschloch?«, empörte sich Kotja, während er seine Brille zurechtrückte. »Da guck sich doch mal einer diese Missgeburt an!«

Es war allerdings niemand da, der mich hätte angucken können, denn die drei Polizisten lagen immer noch kreuz und quer am Boden.

»Warum musste es denn so primitiv sein?«, fragte ich gallig. »Mit einer Holzlatte über die Birne ... bei deinen Möglichkeiten ... als Kurator?«

»Was haben meine Möglichkeiten damit zu tun?« Kotja warf den Knüppel weg. »Es gibt nichts Zuverlässigeres als einen Holzknüppel! Wenn du mir nicht glaubst, warte, bis sie aufwachen, und frag sie selbst!«

»Das ... spare ich mir ...« Ich versuchte aufzustehen, doch ohne Kotjas Arm ging es nicht. »Mist! Mein Bein ist ganz steif.«

»Entschuldigst du dich bei mir, dass du mich so angepflaumt hast?«, fragte Kotja.

»Niemals! Schließlich wolltest du mich ersticken!«

»Hab ich’s mir doch gleich gedacht ...« Kotja machte eine Handbewegung, und vor ihm erschien in der Luft ein sonderbarer leuchtender Schriftzug. »Gehen wir!«

»Und wohin bitte schön?«, tat ich immer noch unerschrocken, obwohl die Polizistin bereits stöhnte und sich rührte.

»Zu mir nach Hause.«

Eine andere Wahl blieb mir nicht. Ich stützte mich fester auf Kotjas Schulter und tat einen Schritt hinein in die grün lodernden Feuerbuchstaben, diese futuristische Werbung.

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