Zwölf

Die Geschichte ist voll von Beispielen, wie eine technisch eher rückständige Zivilisation eine höher entwickelte besiegt hat. Die Barbaren eroberten Rom, die Horden Dschinghis Khans das alte Russland, Kuba konnte seine Unabhängigkeit gegenüber den USA behaupten, die Afghanen leisteten sowohl den Engländern als auch den sowjetischen Truppen erfolgreich Widerstand. Denn jeder Krieg ist zuallererst ein Krieg der Ideologien und erst in zweiter Linie ein Wettkampf um Reichweite und tödliche Wirkung des Eisens. Absurderweise verhält es sich mit der Ideologie zudem so, dass sie umso wirkungsvoller ist, je primitiver sie daherkommt, je stärker sie auf die Grundwerte einer Gesellschaft zurückgreift: die Verteidigung des eigenen Landes und Glaubens, die Bereitschaft, für den eigenen »Stamm« in den Tod zu gehen. Für die riesigen und starken Vereinigten Staaten ist der Tod von einer Million Menschen im Krieg nicht akzeptabel. Für einen kleinen totalitären oder religiösen Staat sind eine Million Menschen eine Kleinigkeit. Der Glaube entscheidet alles.

Hier fochten beide Seiten für ihren Glauben. Arkan, das seine utopische Welt von Funktionalen aufbaute und alle anderen Welten kontrollieren wollte. Und Feste, das ein theokratisches Metaimperium von einer solchen Solidität geschaffen hatte, dass es sich sogar Glaubensfreiheit leisten konnte. Und unabhängig davon, welche Risse es unter der Oberfläche dieser Ideologien geben mochte, im Moment trat sowohl die eine als auch die andere Seite stark und geschlossen auf.

Abgesehen davon fiel die technische Rückständigkeit kaum ins Gewicht. Arkan hatte zwar seine Technik, Feste jedoch seine Biotechnologie. Der alte Streit aller SF-Schriftsteller darüber, welche Form progressiver und lebensfähiger ist, dürfte damit gleich vor meinen Augen entschieden werden.

Aber verdammt noch mal, ich hatte mich nicht darum gerissen, der Klärung dieser Frage beizuwohnen!

»Raus!«, schrie der Kardinal mit überraschend lauter Stimme. »Wir müssen hier raus! Schnell!«

Ich sprang aus der Kutsche und fand mich inmitten von drei tänzelnden Pferden wieder. Für einen Städter von heute ein sehr, sehr unangenehmes Gefühl! Auch wenn die Frauen, wie ich mich überzeugen konnte, virtuos mit den Pferden fertigwurden. Sie zogen sich vor der Kutsche zusammen, um mit ihrem Körper und dem der Tiere unseren Rückzug zu decken.

Trotzdem hatte ich fürchterliche Angst.

Nach mir schoss Elisas Hund wie eine Kugel aus der Kutsche und sprang mir um die Beine. Ihm folgte Elisa, die anschließend dem Kardinal beim Aussteigen half.

Einen Moment lang standen wir wie angewurzelt da und starrten auf die Kuppel des Doms. Die Straße, in der die Kutsche stand, stieß hundert Meter weiter auf die hohe weiße Mauer mit dem breiten Tor. Gerade schloss sich ganz langsam das Tor. Die Menschen davor rannten weg, vielleicht Pilger, vielleicht aber auch Bettler, die damit ihren angestammten Posten aufgaben. Abermals ratterten MPis los, diesmal bereits mehrere Waffen. Immer wieder hatte ich den Eindruck, das Geräusch der Schüsse würde verebben, doch nach ein paar Sekunden fielen dann weitere Gewehre ein. Ich stellte mir sogar vor, wie das alles ablief, wie aus dem offenen Portal die bis zur Unkenntlichkeit beschleunigten Soldatenfunktionale in ihren Schusswesten herausdrängten, die Waffen in der Hand ... Ihnen stürzten sich die winzigen, furchtlosen Hunde entgegen, die ihnen an die Kehle sprangen, ins Gesicht, an die Hände, ihnen stürmten die Frauen in den bunten Uniformen mit ihren naiven Spielpiken entgegen ...

»Worauf warten die denn noch?«, presste Rudolf hervor. »Wird’s bald ...«

Plötzlich schoss jemand über die Mauer, ein Fremder, die dunkle Figur eines Menschen, der auf einer Rauchsäule zu reiten schien. Hinter ihm tauchte erst eine zweite, dann eine dritte Figur auf. Der Kardinal bekreuzigte sich flugs. Unwillkürlich ahmte ich seine Geste nach, auch wenn mir klar war, dass das da vor mir keine Höllenteufel waren, sondern nur die arkanischen Soldaten mit ihren Raketenrucksäcken.

Was dann geschah, überstieg jede Vorstellungskraft. Von der Kuppel des Peterdoms lösten sich nach und nach die steinernen Wasserspeier. Halt! Wieso aus Stein? Wie lebendig gewordene Figuren aus einem Horrorfilm breiteten sie ihre Flügel aus und stürzten sich auf die Soldaten. Erneut ballerten die MPis los. Einer der Steinvögel trudelte mit einem langgezogenen Krächzen nach unten. Die Zahl der Tiere lag jedoch weit über der der in die Luft aufsteigenden Soldaten. Gebannt verfolgte ich diese apokalyptische Luftschlacht. Schreie waren zu vernehmen, ausgestoßen sowohl von den Männern, die von den Krallen der Steinvögel zerfetzt wurden, als auch von den Steinvögeln, die in den Auspuffgasen der Raketenranzen aufleuchteten. Wer waren sie, diese unglückseligen Vögel, die sonst als reglose Hüter des Vatikans dienten? Adler? Fledermäuse? Wiederauferstandene Pterodaktylen?

Es ertönte ein dumpfes Krachen. Hinter der Mauer erhob sich eine Säule aus Staub und Rauch. Der Boden unter unseren Füßen bebte, in den Häusern klirrte das Glas. Ich vermutete schon fast, die Arkaner hätten ihre Artillerie durch das Portal gebracht, doch da stieß Rudolf einen Seufzer der Erleichterung aus: »Na endlich!«

»Was ist das?«, fragte ich.

»Wir können den Turm eines Zöllners nicht zerstören«, erklärte der Kardinal, »aber er ist jetzt hundert Meter tief in die Erde verfrachtet worden, in einen Schacht, und von oben mit Schwefel- und Salpetersäure geflutet worden. Herr ... erbarme dich deiner Diener, die ihr Leben für dich gaben ...«

»Steh hier nicht wie angewurzelt rum!« Elisa knuffte mich. »Beweg dich!«

Die beiden wollten schnellstens weiter, in Richtung der Mauern des Vatikans, hin zur heiligen Stadt, die über jenem Steinbruch erbaut worden war, der den Arkanern eben zum Verhängnis geworden war - und zu einem Sammelgrab für die Landeeinheiten, Gardistinnen, Hunde und Steinvögel.

Wenn du einen Rattenbau nicht zustopfen kannst, setz ihn unter Wasser.

Nein, ich konnte die Herrschenden dieser Welt nicht verurteilen. Ihre Art, gegen den Feind vorzugehen. Vor allem weil ja gerade mein Erscheinen die Konfrontation heraufbeschworen hatte.

Trotzdem fiel mir unwillkürlich die kleine Uhrenhandlung des Zöllners Andrej ein, seine Uhren, in denen anstelle der Kuckucke hölzerne Krähen lebten, er selbst, dieser wortverliebte Mann im orientalischen Hausmantel.

Eine Atombombe zerstört ein Portal.

Aber was ist mit Säure, die in einen Turm strömt?

Natürlich wollte ich glauben, der Turm stürze in den anderen Welten nicht ein. Und der Zöllner, der seinen unliebsamen Zugang in die gegen die Funktionale revoltierende Welt eingebüßt hatte, würde fortan ein ruhiges Leben führen, seine Uhren reparieren und mit den »Moslems« darüber streiten, wessen Glaube besser ist.

Wir rannten die Straße hinunter. Die berittenen Gardistinnen störten ein wenig mit ihrer Absicht, uns von allen Seiten Deckung zu geben. Die Farben tanzten mir vor den Augen. Unweigerlich drängte sich mir der Gedanke auf, die bunten Uniformen hätten neben der rein dekorativen auch eine weitere Funktion, nämlich die Aufmerksamkeit der Angreifer auf die Gardistinnen zu lenken.

Der Kardinal schnaufte bereits schwer. Ihm machten das Alter und die prachtvolle Soutane zu schaffen.

Vielleicht hätten wir doch lieber die Kutsche nehmen sollten?

Vielleicht bestand auch gar kein Grund mehr zu dieser Rennerei, schließlich waren die Soldaten liquidiert, die Attacke abgewehrt, die Feinde vernichtet. Oder etwa nicht?

In dem Moment sah ich etwas, das selbst die Arkaner mit ihren Raketenrucksäcken, die zum Leben erwachten Wasserspeier sowie die Hölle, die sich unter der Zollstelle aufgetan hatte, noch in den Schatten stellte.

Ich sah, wie ein neues Portal entstand.

Die Häuser standen hier dicht an dicht. Nicht sehr hohe Gebäude, zwei- oder dreistöckig, mit kleinen runden Balkons, die über der Straße hingen, und Fensterflügeln, die nach außen geklappt waren. Die Gassen waren nicht mehr als schmale Schlitze, Torbögen führten zu den Höfen. All das war derart zusammengezwängt und vom Staub der Jahrhunderte zementiert, dass man im Grunde nicht sagen konnte, wo ein Haus anfing und das andere endete.

Doch jetzt erzitterte die Straße vor uns. Als würden Milchzähne von einem durchbrechenden zweiten Zahn zur Seite gedrängt. Genauso - indem es die Wände wackeln ließ und den Putz zermalmte - zwängte sich zwischen zwei alte Häuser ein neues Bauwerk. Turm wollte ich es nicht nennen, Haus noch viel weniger. Es war einfach eine Mauer, schlecht verputzt, sodass die Ziegel stellenweise hervorlugten. Diese Mauer wurde jedoch immer breiter, schob die Nachbarhäuser zur Seite und legte sich im ersten und zweiten Stock Fenster sowie im Erdgeschoss eine Tür zu. Letztere, noch ganz schmal, vielleicht zwanzig Zentimeter, wirkte wie ein an den Seiten eingequetschtes Bild in einem nicht richtig eingestellten Fernseher, ein extrem schmales Türchen nur, gedacht womöglich für die Alice aus Carrolls Märchen, genauer für eine halbverhungerte Alice, die schon lange nicht mehr von dem Zauberkuchen gegessen oder von der Zauberflüssigkeit getrunken hatte.

»Eine Zollstelle!«, schrie ich und zeigte mit der Hand in die Richtung.

Die Gardistinnen trieben ihre Pferde vorwärts und jagten zu dem entstehenden Portal. Auch ihnen war es nicht entgangen!

Die Mauer schwoll an und schob mit einer wahren Kraftexplosion die Häuser auseinander. In dem einen Nachbarhaus barsten mit einem missbilligenden Quietschen Balkongitter, und die frisch gewaschene Wäsche auf der gerissenen Leine schwankte und segelte bis zum Kopfsteinpflaster hinunter. Aus der Balkontür tauchte eine dicke Frau im Bademantel auf, die, den verzweifelten Blick starr auf uns gerichtet, nach der Leine angelte, um ihre Wäsche zu retten.

Die Tür zur Zollstelle verbreiterte sich auf das normale Maß. Und sie flog weit auf.

Drei Männer - einer hockte, die beiden anderen standen hinter ihm - hielten ihr MPis im Anschlag. Ich sah Gesichter hinter getöntem Glas - die Soldaten trugen Helme mit heruntergelassenem Visier. Die armen Kampfyorkshire...

Ich warf mich auf das Kopfsteinpflaster und schützte meinen Kopf mit den Armen, als könnten meine Hände das Blei aufhalten.

Es krachte.

Klatschend drangen die Kugeln in lebendes Fleisch ein.

Die sterbenden Pferde wieherten.

Funkelnd zischten die Piken durch die Luft.

Bis zum letzten Moment hoffte ich, diese Faschingswaffen würden sich als etwas Gefährlicheres entpuppen, so wie die Wasserspeier auf dem Dom. Aber es blieben Piken.

Allerdings sehr spitze.

Eine durchschoss das Visier und bohrte sich in den Kopf des Soldaten. Er fiel zu Boden, feuerte aber weiter; die Kugeln zischten jedoch nur noch wild durch den Turm. Zwei weitere Piken nagelten den hockenden Schützen am Boden fest. Dem Dritten war noch nichts passiert und er ballerte weiter. Ich sah, wie eine Gardistin nach der nächsten fiel. Alle drei, die das Portal angegriffen hatten. Zwei andere Gardistinnen zogen den Kardinal fort, wobei sie ihm mit ihren Körpern Deckung gaben. Mich zog auch jemand mit einem Ruck hoch. Es waren Elisa und die dritte Leibwächterin.

»Weg hier!« Elisa riss sich ihren aparten Schmuck vom Hals und schleuderte ihn Richtung Portal.

Diesmal erwartete mich in der Tat eine Überraschung.

Die goldenen Bienen lebten. Sie lösten sich voneinander und sausten als surrende Wolke ins Portal. Die Schreie, die dann folgten, ließen mich annehmen, alle Waffen dieser Welt seien Kinderkram - im Vergleich zu diesen Bienen.

Die Yorkshire bemerkte ich nicht gleich. Sie stürzten sich nicht direkt auf den Feind, wie ich es erwartet hatte. Sie teilten sich in zwei Gruppen und postierten sich links und rechts der Tür, reglos an die Mauer gepresst. Sie warteten.

Ich hoffte aufrichtig, die Arkaner hätten sich vor dieser Invasion nicht allzu sehr mit der Polsterung ihres Hintern aufgehalten.

Immerhin griffen die Arkaner nun nicht mehr an. Ich weiß nicht, was dabei die ausschlaggebende Rolle spielte, der selbstmörderische Mut der Gardistinnen, der Hinterhalt der blutdürstigen Yorkshireterrier oder Elisas Halsschmuck. Vermutlich doch Letzterer, die Schreie und das Jaulen im Inneren des Turms wollten und wollten nicht verstummen, dazu noch die Schüsse, die nahelegten, dass die in ihrem Schmerz irren Soldaten mit ihren MPis auf die Bienen ballerten.

Zu unserem Unglück tauchten jedoch auf dem Weg zum Vatikan neue entschlossene Figuren auf, die mich an den nicht gerade glücklichsten Tag in meinem Leben erinnerten, an den Tag nämlich, als ich Arkan einen Besuch abgestattet hatte.

»Hierher!«

Eine der Frauen trat eine Tür ein. Was hier entscheidend war - die Kraft und das Training oder das in dem gesegneten italienischen Klima spröde gewordene Holz -, vermag ich nicht zu sagen. Wir drangen in das fremde Haus ein. Eine Frau schrie auf und schob zwei kleine Kinder hinter sich. Der Kardinal schlug im Laufen das Kreuz über ihr und gab seinem Segen einen noch weit wertvolleren Rat bei: »Versteckt euch! Rasch!«

Die Frauen verbarrikadierten bereits die Tür, indem sie ein altes, wuchtiges Büffet davorschoben. Meiner Ansicht nach hätten sie sich das sparen können, schließlich standen die Fenster noch auf.

»Gibt es einen zweiten Ausgang?«, fragte ich die Frau, die ihre Kinder ins andere Zimmer brachte.

»Natürlich«, antwortete mir an ihrer Stelle Elisa. »Hast du geglaubt, wir würden uns in den Straßen Roms in eine Mausefalle treiben lassen? Vorwärts!«

Durch den Korridor.

Eine Tür.

Die Küche mit einem Kochtopf auf dem Herd, in dem es brodelte. Ein eingeschlagenes Fenster. Noch mehr Schüsse waren zu hören. Auf dem Boden lagen Spaghetti und ein zerbrochener Teller.

Mit einem Mal begriff ich, dass wir nur noch fünf waren. Eine Frau war zurückgeblieben, um unseren Rückzug zu decken.

»Sie wittern dich, Kirill.« Der Kardinal sah mich voller Mitgefühl an. »Wenn wir dich nicht verstecken können ... Elisa!«

»Schon verstanden«, erwiderte die Frau.

Ich hatte es ebenfalls verstanden - und diese Aussicht gefiel mir nicht.

Ein weiterer Korridor.

Eine Tür, die unter Elisas Schlag barst.

Eine schmale Gasse, in der sich die Dächer der Häuser fast berührten.

Wir rannten nicht mehr, das war hier kaum möglich. Außerdem bekam Rudolf kaum noch Luft.

»Was ist an dir nur so ... wichtig?«, fragte er keuchend. »Herr im Himmel ... wenn ich darauf bloß eine Antwort wüsste!«

»Auf welche Frage? Ob Sie mich umbringen oder nicht?«, fragte ich im Laufen zurück. Der Kardinal antwortete mir nicht, stolperte aber.

Erneut waren Schüsse am Himmel zu hören - und die Schreie lebendig gewordener Wasserspeier. Ich stellte mir vor, wie all das für die gottesfürchtigen Einwohner Vatikanstadts aussehen musste. Wie das Ende der Welt, mit Sicherheit ...

»Noch hundert Meter und dann nach rechts«, teilte Elisa mir mit. »Da sind die Kasernen der Polizei. Da wird es leichter. Halten Sie durch, Eure Eminenz.«

Der Kardinal blieb stehen und sah sie an. »Ich ... nehme den Befehl zurück«, meinte er überraschend.

»Selbst wenn sie ihn gefangen nehmen?« Elisa streifte mich kurz mit ihrem Blick.

»Wenn es noch einen Schatten des Zweifels gibt ...« Er beendete den Satz nicht, sondern bekreuzigte sich und wandte sich mir zu. »Kirill ... finde das Herz der Finsternis. Selbst das absolut Böse muss ein Herz haben.«

Ich nickte nur.

Wir stürzten schnellen Schrittes weiter. Eine der Gardistinnen spähte um die Ecke. Sie drehte sich um und winkte uns zu. Wir folgten ihr auf einen kleinen, von Häusern eingekeilten Platz. An einem Brunnen, der nicht mehr sprudelte, lag ein ekelhaft zerschmetterter Körper, aus dem Blut sickerte. Ein abgestürzter Steinvogel. Aber Feinde entdeckten wir keine.

»Irgendwas ... irgendwas stimmt hier nicht«, flüsterte der Kardinal, während er umherspähte. Der Hund auf seinem Arm knurrte mit einem Mal los, sprang runter und blieb stehen. Er nahm Witterung auf. Mit gefletschten Zähnen pirschte er sich langsam an eine absolut leere Grünfläche heran. Der Rasen war platt getreten, als habe auf ihm ein lang andauerndes Handgemenge getobt.

Aber Feinde waren keine da.

Überhaupt keine.

Zumindest keine sichtbaren!

»Das ist eine Falle!«, schrie ich, packte den Kardinal und zog ihn zur Seite.

Mein Fehler hatte in der Annahme bestanden, das technische Niveau Arkans entspräche dem der Erde. Im Grunde hätten mich bereits die funktionstüchtigen Raketenranzen davon abbringen müssen, schließlich brüteten unsere Geistesgrößen an denen auch schon viele Jahrzehnte, ohne dabei mehr zustande zu bringen als ein hübsches Spielzeug für die Herrschenden.

Arkan stand von diesen Raketenranzen abgesehen noch eine weitere erstaunliche Waffe zur Verfügung, jener alte Traum unserer Freimaurer und Dekabristen: die Unsichtbarkeit.

Über dem Rasen schien eine durchsichtige, elastische Membran zu vibrieren. In der Luft zeichneten sich die Silhouetten von Soldaten ab. Ein halbes Dutzend. Einige trugen MPis, zwei andere klobige, dickläufige Kanonen. Herr im Himmel, waren das Granatwerfer? Oder Flammenwerfer?

Der alte Yorkshire des Kardinals schraubte sich lautlos in die Luft. Aber entweder war er zu alt oder die Funktionale waren ihm haushoch überlegen. Sie schossen nicht mal auf ihn. Einer trat vor - und zog dem über dem Boden schwebenden Hund mit dem Kolben der MPi eins über. Ein stumpfer Schlag, der Hund fiel lautlos ins Gras.

»Diese Opfer sind nicht nötig«, hörte ich eine Stimme. »Wir haben keine Forderungen an die Regierung oder das Volk von Feste. Wir verlangen lediglich die Auslieferung eines Verbrechers.«

Mein Blick irrte von einem Soldaten zum nächsten.

Von denen hatte keiner gesprochen! Selbst durch die heruntergelassenen Scheiben ihrer Visiere hatte ich gesehen, dass kein Soldat die Lippen bewegt hatte.

Da gab es noch jemanden, und der hielt sich weiter im Schutz der Unsichtbarkeit verborgen.

Rudolf ging langsam vorwärts. Er sah auf seinen Hund und schüttelte den Kopf. »Feste liefert diejenigen, die hier Asyl erbeten, nicht aus. Wenn Sie diesen Menschen eines Verbrechens beschuldigen, verlangen wir Beweise.«

»Die Beweise wurden bereits vorgelegt.«

Ja, nun konnte es keinen Zweifel mehr geben. Da gab es jemanden, der es vorzog, unsichtbar zu bleiben.

»Das sind keine Beweise.« Rudolf schüttelte den Kopf. »Die Erfahrungen ... die wir im Laufe unserer Beziehungen gemacht haben, gestattet es mir nicht, auf leere Worte zu vertrauen. Mit dieser Demagogie kommen Sie vielleicht auf Demos durch.«

»Dann werden Sie sterben, denn wir holen ihn uns so oder so.«

Rudolf nickte. »Ja, ich hatte recht«, meinte er mit unverhohlener Erleichterung. »Sie brauchen ihn lebend. Lauf, Kirill!«

Das brauchte man mir nicht zweimal zu sagen. Ich stürzte nach rechts, dorthin, wo eine andere schmale Gasse zu den Polizeikasernen führte.

Hinter mir donnerte die »Kanone« in den Händen des Soldaten.

Das abgefeuerte elastische Plastiknetz erwischte mich nur noch mit dem Rand. Das genügte jedoch, denn die dünnen Fäden wickelten sich um meine Beine. Ich fiel hin - und sah, wie sich die drei Frauen in ihr letztes Gefecht warfen, zwei in den idiotischen bunten Uniformen, eine in einem jetzt noch viel idiotischeren weißen Kleid ...

Die MPis ballerten wieder. Nachdem ich gestürzt war, zögerten sie nicht, das Feuer zu eröffnen. Keine der Frauen, die dafür ausgebildet waren, den Kardinal zu beschützen, schaffte es bis zu den Soldaten. Vermutlich hätten sie gegen die besttrainierten Soldaten der Erde eine Chance gehabt. Gegen Funktionale oder gedopte Arkaner jedoch nicht.

Sie gingen zu Boden, während Rudolf noch immer stand, schwankend und mit ausgebreiteten Armen, den Kopf in den Nacken zurückgeworfen und gen Himmel blickend, als suche er dort etwas. Ich sah, wie aus der im Rücken aufgerissenen Sutane mit Stößen von Blut das Leben wich.

Irgendwann sackte der Kardinal, der für die äußere Sicherheit Festes verantwortlich war, auf die Erde seiner renitenten Welt.

Es verstrich eine Sekunde, eine weitere, als ob die Arkaner befürchteten, die Toten würden sich wieder hochrappeln. Auf einen Befehl hin standen zwei Soldaten auf und kamen auf mich zu.

Die Toten erhoben sich nicht. Aber der von dem Kolben getroffene Hund zuckte, drehte den Kopf und bohrte in seiner letzten Bewegung die winzigen Zähne in den schweren, hohen Stiefel eines an ihm vorbeigehenden Soldaten.

Der schrie auf - wie kein Soldat der Welt schreien würde, der durch das harte Leder des Stiefels von einem Tier gebissen wurde, das höchstens drei Kilo auf die Waage brachte. Er wirbelte auf dem Absatz herum, schmiss die MPi weg und riss den Fuß mit dem daran baumelnden Hund hoch. Das Bein schwoll an, genauso wie die Figuren in den lustigen Disney-Zeichentrickfilmen anschwellen, wenn sie jemand aufpumpt. Im Unterschied zu diesen Figuren wirkte der Soldat jedoch gar nicht lustig. Der Schrei ging in ein Röcheln über, der aufgeblasene Körper klatschte aufs Gras.

»Und die Zähne der Ratte sind mit Zyankali getränkt ...«, zitierte ich flüsternd einen Passus aus einem alten Film, während ich versuchte, meine Beine von dem Plastiknetz zu befreien. »Mit Zyankali, mit Gift ...«

Natürlich hatte eher eine Schlange dem Terrier die Zähne geschenkt, die in dem Land der Gentechniker noch tödlicher waren als bei uns. Aber außer dieser alten Phrase kam mir im Moment nichts in den Sinn.

»Gift ... Gift ...«, flüsterte ich.

»Sie haben den Kardinal ermordet!«, erschallte es plötzlich von oben. Auf dem Balkon eines der Häuser stand eine Frau, die sich die Haare raufte, ohne dass sich das gekünstelt ausnahm. »Sie haben den Kardinal ermordet!«

Schon im nächsten Moment nahmen die Ereignisse eine radikale Wendung.

Die Bewohner, wie verschreckt sie auch gewesen sein mochten, hatten sich nicht unterm Bett versteckt, sondern verstohlen an Fenstern und Balkonen gelauert. In die Auseinandersetzung zwischen den Gardistinnen und diesen mysteriösen Besuchern hätten sie sich vielleicht nicht eingemischt. Doch der Mord an dem Kardinal brachte sie auf.

Auf die Köpfe der Soldaten hagelte es Blumentöpfe, Stühle, Kochtöpfe, Bretter und Weinflaschen, leere wie volle. Flaschen gab es besonders viele, sie krachten wie Granaten und trafen die Soldaten wie ein Glasschrapnell. Das rote Blut der Trauben vermischte sich mit dem Blut der Menschen.

Ein einziges Chaos. Die Soldaten schirmten ihre Köpfe ab und schossen nach oben, in Richtung Fenster. Vorerst hatte man mich vergessen.

Und ich hätte all diejenigen, die eben für mich gestorben waren, verraten, wenn ich diese wenigen Sekunden nicht genutzt hätte.

Ich versuchte nicht weiter, meine Beine aus dem Netz zu befreien - es war klebrig und spann mich nur immer fester ein -, und kroch zu der aufgedunsenen Leiche. Bei seinem Sturz war der Soldat auf der MPi gelandet. Ich stieß den Körper weg und schnappte mir die Waffe.

Irgendwie erinnerte die MPi an die legendäre Kalaschnikow. Zumindest fanden meine Finger von selbst den Hebel, mit dem ich auf Dauerfeuer umschaltete. Ich hockte mich hin, stemmte den Kolben gegen die Schulter und hielt die Luft an.

Dann schwenkte ich den Lauf und bestrich die Soldaten mit Blei.

Ich hatte nicht das geringste bisschen Mitleid mit ihnen. Keinerlei Skrupel. Ihr habt mich schon einmal gezwungen zu töten, ihr Schweine: die Rebellen in Kimgim, die Hebamme auf der Erde. Jetzt seid ihr selber an der Reihe. Denn mit dem Versteckspiel ist es aus und vorbei!

Ich merkte nicht mal, wie plötzlich alles um mich herum langsamer lief. Die Sachen segelten träge aus den Fenstern herab, die Kugeln drangen langsam in die Schusswesten der Soldaten ein, die zerfetzten Körper plumpsten wie in Zeitlupe zu Boden. Mein Herz schien stillzustehen, während das Blut in meinen Adern brodelte. Die MPi in meinen Händen bewegte sich so rhythmisch und zielsicher auf und ab, als schlüge ich Nägel ein. Es schien nicht viel zu fehlen, und ich würde erkennen, wie die Kugeln aus dem Lauf krochen.

Meine Funktionalsfähigkeiten waren zurückgekehrt. Ohne jeden Turm, ohne Funktion, die von mir geboren wurde und die mich gebar, und ganz ohne Leine, diese energetische Nabelschnur, hatte ich einfach in den beschleunigten Rhythmus umgeschaltet.

Auch mein Blick hatte sich verändert. Nein, ich sah keine Auren, von denen der Kardinal gesprochen hatte. Aber ich identifizierte mit unumstößlicher Sicherheit unter den Toten zwei Funktionale; einen der beiden hatte der Yorkshire des Kardinals umgebracht. Sie sahen ... irgendwie anders aus. Vielleicht klarer.

Außerdem bemerkte ich noch den regenbogenfarbigen Nebel, der wie eine Seifenblase im Wind schaukelte. Was war das? Ein Tarnfeld? Eine Membran? Ich hatte keine Ahnung, aber es war genauso perfide wie dieses Scheißding, das die Soldaten anfangs verborgen hatte. Und in dieser Blase hielt sich immer noch jemand versteckt.

Ohne den Blick von dem Unsichtbaren zu wenden, ertastete ich am aufgedunsenen Körper des Soldaten (wenn der bloß nicht platzte!) die Scheide und zog die Klinge heraus. Mühevoll, aber immerhin erfolgreich zerschnitt ich die klebrigen Fäden und erhob mich.

»Komm raus, du Schwein!«, schrie ich. »Komm endlich raus!«

Ich hegte keinen Zweifel daran, dass sich in der Blase ein Funktional verschanzt hatte. Das genauso beschleunigt war wie ich. Weshalb es auch meine Worte verstehen musste.

»Sehr eindrucksvoll!«, erwiderte der Unsichtbare. »Aber jetzt sollten wir wieder Vernunft walten lassen. Schließlich sind wir doch erwachsene ...«

Ich schoss auf die Stimme. Die MPi gab eine kurze Salve ab und verstummte. Aber entweder hatte ich keinen einzigen Treffer gelandet oder meinem Feind stand nicht nur die Unsichtbarkeit, sondern noch ein anderer Schutz zur Verfügung.

Eins hatte ich immerhin erreicht. Der Feind riskierte es nicht, das Gespräch fortzusetzen. Stattdessen loderte in der Luft ein Schriftzug auf, und es knallte leicht, als platze die Blase. Derjenige, der meine - glücklos verlaufene - Ergreifung befohlen hatte, verschwand auf demselben Weg wie Kotja, wenn er sich zwischen den Welten bewegte. Und genau wie dieser mied er den ehrlichen Kampf.

Ein Kurator? Hatten sie zu meiner Festnahme einen Kurator geschickt? Oder irgendein anderes hohes Tier aus Arkan? Denn einfache Funktionale, was auch immer sie sein mochten, beherrschten solche Tricks nicht.

In einem Punkt zumindest war ich mir sicher: Die Stimme kam mir zwar vage bekannt vor, gehörte aber nicht Kotja. Wenigstens handelte es sich hier also nicht um einen Hinterhalt seinerseits. Aber wozu hätte Kotja auch ein doppeltes Spiel spielen sollen, nachdem er mich erst vor den polnischen Polizisten und dann auf Janus vor der Kälte gerettet hatte? Nein, Verfolgungswahn ist ja schön und gut - wenn er sich in Grenzen hält.

Ich ging zum Kardinal. Kopfschüttelnd sah ich Rudolf ins Gesicht. Ein Mann, den vier oder fünf MPi-Geschosse getroffen haben, stirbt sehr schnell.

Die Frauen waren ebenfalls tot. Ich kniete mich neben Elisa, drehte sie auf den Rücken und streckte ihre Arme lang neben ihrem Körper aus. Zwei Kugeln hatte sie abbekommen, eine in den Bauch, eine ins Herz. Ich musste froh sein, dass sie wenigstens einen raschen Tod gefunden hatte.

Wenn all das im Kino oder in einem Buch passiert wäre, wäre Elisa jetzt selbstverständlich noch am Leben. Sie würde mir ergreifende und pathetische Worte zuflüstern, etwas in der Art von Rudolfs Floskel: »Finde das Herz der Finsternis«. Vielleicht: »Das ist genau wie in dem Buch ... einer für alle und alle für einen.« Daraufhin würde ich fortgehen, mir auf die Lippe beißend, mit Tränen in den Augen und nach Rache dürstend, ein einsamer, stolzer und unbeugsamer Mann ...

In dem Moment traf meine Schulter ein aus einem der Fenster geschleuderter Topf. Ein stinknormaler Nachttopf aus schwerem Porzellan. Nur gut, dass er mich nur streifte, und gut, dass er leer war.

Die Zeit schaltete auf ihr normales Tempo zurück. Und in dieser Echtzeit war kein Platz für vollmundige Phrasen, heilige Schwüre und laute Totenklagen.

Lasst die Toten ihre Toten begraben. Ich war mir sicher, dass Rudolf und Elisa mich verstanden hätten.

Ich warf die MPi mit dem leeren Magazin weg und schnappte mir eine neue Waffe. Die gefallenen Soldaten trugen kleinere Rucksäcke. Ich nahm mir einen und suchte ihn aufmerksam nach Einschusslöchern ab. Wenn ich später auch noch Patronen in ihm fände ...

Und jetzt musste ich Land gewinnen, bevor die wütenden Bewohner aus ihren Häusern stürmten. Es würde mir wohl kaum gelingen, der Menge zu erklären, dass ich einer von ihnen war und nicht zu den Soldaten gehörte ...

Zunächst rannte ich die Gasse hinunter, die zu den Kasernen führte. Die Richtung war mir wundersamerweise noch im Gedächtnis. Ich hätte keine Sekunde länger darauf warten dürfen: Hinter mir klapperten Türen und ertönten Stimmen. Aber anscheinend verfolgte man mich nicht.

Nach fünfzig Metern blieb ich stehen.

Wohin lief ich da überhaupt?

Würden die Polizisten mich nicht für einen Feind halten? Würden sie nicht irgendwelche Malteser Kampfmäuse auf mich loslassen, mich für alle Fälle mit ihren Hellebarden erledigen?

Worauf hoffte ich denn eigentlich, wenn ich mich hinter den hiesigen Landsknechten versteckte? Es würde nur noch mehr Leichen geben, neue Kämpfe.

Die Arkaner hatten mich unter Beobachtung. Mehr noch, sie konnten ein Portal direkt vor meiner Nase öffnen. Sie würden so lange Druck ausüben, bis die Kardinäle einsahen, dass sie einen zu hohen Preis für mich zahlten und dass ein kleines Geschäft mit dem Teufel das geringere Übel darstellte. Und auf diesen Gedanken würden sie unweigerlich kommen, wenn man ihnen in Aussicht stellte, direkt unter dem Petersdom eine Thermonuklearbombe zu zünden.

Ich weiß nicht, was mich zu meinem nächsten Schritt bewog, die Verzweiflung oder die erneut überraschend durchgebrochenen Funktionalsfähigkeiten. Jedenfalls hob ich die Hand und betrachtete den Stahlring, das letzte Relikt meines Turms. Nein, mit dem hatte all das natürlich nichts zu tun. Bei ihm handelte es sich nur um fünf Gramm Metall. Aber er half mir ... mich daran zu erinnern, was die mir angetan hatten. Wut zu entwickeln. Diesem feigen Unsichtbaren, der ein Blutbad in den friedlichen Straßen Roms angerichtet hatte, ebenbürtig zu werden.

Ebenbürtig - oder überlegen.

»Ich muss zum Herzen der Finsternis«, sagte ich. »Ich muss zu ihren Wurzeln vorstoßen, sie finden und verbrennen. Niemand ... darf ... sich ... so ... aufführen.«

Ich fuhr mit der Hand durch die Luft, wobei ich meinen Zeigefinger ausgestreckt hatte, als würde ich auf ein riesiges Touchpad schreiben. Keine Ahnung, was genau ich da »schrieb«. Keine Ahnung, wie das vor sich ging. Kotja hatte gesagt, er brauche eine Art Fixpunkt, er müsse bereits an dem Ort gewesen sein, zu dem er sich bringen wollte, oder den Menschen kennen, dem er folgen wollte. Ich brauchte etwas anderes. Etwas absolut Außergewöhnliches.

Meine Hand hüllte ein blaues Leuchten ein. Vom Zeigefinger riss sich eine Flammenzunge los, die in der Luft schlingerte. Ich fuhr mit der Hand durch den Raum, und die Inschrift leuchtete auf, geschrieben in einer Sprache, die es auf der Erde nicht gab und nicht geben durfte. Runen, Hieroglyphen oder arabische Zierschrift. Vielleicht auch einfach nur ein Ornament. Geheimnisvoll, hypnotisierend, Raum und Zeit durchdringend ...

Ich fasste die MPi bequemer und trat in das sich öffnende Portal.

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