Achtzehn

Aus unerfindlichen Gründen glauben wir gern, Menschen, die uns gefallen und auf die wir womöglich sogar eifersüchtig sind - all diese erfolgreichen Sportler, populären Schauspieler, berühmten Sänger und reichen Geschäftsleute -, seien permanent glücklich. Die Boulevardpresse wiederum lebt dann einzig und allein davon, uns eines Besseren zu belehren: Sie hat sich scheiden lassen, er trinkt, die beiden haben sich geprügelt, er hat sie betrogen. Wir lesen das, der eine angewidert, der andere mit entzückter Neugier. Und wir lesen dergleichen nicht etwa deshalb, weil das Leid und die Sünden all dieser VIPs so groß wären. Sondern weil allein dieser in der Zeitung en détail verbreitete Schwachsinn imstande ist, uns zu trösten. Sie sind genau wie wir. Sie trinken Champagner für tausend Dollar, wir chilenischen Wein. Sie fahren nach Österreich in einen Wintersportort, wir zu unserer Schwiegermutter auf die Datscha. Ihnen spendet ein ganzes Stadion Beifall, uns lobt unsere Frau dafür, dass wir den Müll runtergebracht haben. All das hat jedoch nicht die geringste Bedeutung, wenn sie an der gleichen Sehnsucht leiden, an der gleichen Schwermut, an der gleichen Eifersucht und an den gleichen Herabsetzungen.

Wir bemerken nicht einmal, wie wir selbst die Feder spannen, die sie zwingt, Sammlerweine zu trinken, obwohl sie von denen keine Ahnung haben und eigentlich viel lieber ein Bier hätten, die sie zwingt, in Courchevel rumzupöbeln und sich mit Journalisten zu prügeln. Denn je hartnäckiger du einen Menschen mit der Nase in seine Probleme stößt und ihn anbrüllst: »Du bist doch genauso ein Schwein wie wir!«, desto entschlossener will er kontern: »Nein, nicht genauso eins - ein viel größeres!«

Ich betrachtete den jungen, attraktiven und klugen Mann, den nahezu die gesamte Bevölkerung dieser kleinen Welt verehrte, und begriff, dass er nicht besonders glücklich war. Die unsichtbare Zange der Verantwortung, des Neids und der Ungleichheit hielt die Menschen hier ebenfalls gepackt, wenn auch nicht so fest wie bei uns. Insofern hatte er entweder Glück gehabt oder er durfte es sich als Verdienst anrechen, trotz allem ein netter Kerl geblieben zu sein.

»Du willst mir doch nicht weismachen, du seist unglücklich?«

Dietrich grinste. »Noch nie in meinem Leben habe ich das getan, was ich gern tun wollte. Wegen der Familientradition. Wenn dein Urgroßvater in den Hungertagen all seine Lebensmittelvorräte verteilt und damit die Stadt gerettet hat, wenn dein Großvater den ersten Stausee angelegt hat, wenn dein Vater vierzig Jahre lang Friedensrichter war, dann erwarten alle von dir, dass du ...« Er verstummte.

»... große Taten vollbringst?«

»Nein! Wenn es doch wenigstens große Taten wären! Kannst du dir eigentlich vorstellen, wie gern ich mit dir zu diesem Turm gehen würde? Aber das werde ich nicht tun. Auf mich wartet nämlich ... Arbeit. Die darin besteht, ein genauso aktiver, großzügiger, geduldiger und innovativer Mann zu sein wie meine Vorfahren. Es muss diesen höchst achtbaren Al Dietrich geben, an den sich im Notfall sowohl die Stadt als auch jeder einzelne Mensch wenden kann. Das geht so weit, dass ich verpflichtet bin, eine kluge, arme und hässliche Frau zu heiraten.«

Ich lachte.

»Du findest das komisch. Aber das ist nun mal Tradition. Genau wie all die Legenden der Prostituierten über Soldaten, die sich in eine von ihnen verliebt haben. Nur ist das hier bitterer Ernst, die Dietrichs haben sich immer kluge Frauen aus einfachen Familien gewählt. Die hässlich waren.«

»Aber die Bibliothekarin sieht gut aus«, sagte ich unbedacht.

Dietrich wurde rot.

»Magst du einen Wein?«

»Was für eine Frage!«

Er entkorkte eine Flasche und schenkte uns beiden ein Glas Rotwein ein. »Sie sieht gut aus«, murmelte er. »Und sie ist aus einer reichen Familie. Mit der Herrscherdynastie verwandt.«

»Immerhin ist sie klug. Damit wäre wenigstens eine Bedingung erfüllt.«

»Du bist ein Blödmann, wenn auch aus einer anderen Welt«, knurrte Dietrich.

Mit einem Mal hatte ich den Eindruck, als würden wir uns schon seit Jahren kennen. »Selber Idiot«, konterte ich deshalb bedenkenlos. »Was du tust, ist notwendig. Deine Heldentaten bestehen halt nun mal nicht darin, mit der Waffe in der Hand in die Berge hochzukraxeln. Vor allem da dir die Menschen-über-den-Menschen nichts getan haben ... Du hast deine Stellung und wirst verehrt. Und zwar völlig zu Recht. Also mach weiter. Züchte deine Orangen, bau eine Fabrik auf, erfinde was. Es gibt genug Dinge, um die du dich kümmern kannst. Statte eine Expedition aus. Die nicht bloß an der Küste des Festlands die Ruinen plündert, sondern weiter auf den Kontinent vordringt. Erstell Karten, die etwas taugen. Vielleicht seid ihr in eurer Welt ja nicht die Einzigen. Selbst wenn alle Kontinente untergegangen sind, existieren noch genug Inseln. Finde endlich heraus, wo ihr lebt ... in Grönland oder in Japan.«

Dietrichs Augen schienen zu leuchten. Sollte ihm das, was ich da eben vorgeschlagen hatte, tatsächlich noch nie in den Sinn gekommen sein?

»Auf dem offenen Meer ist es gefährlich«, sagte er dann. »Nur mutige Menschen bleiben nicht an der Küste, sondern stoßen ins Nichts vor.«

»Bei uns hat es auch solche mutige Menschen gegeben, und ich kann mir nicht vorstellen, dass sie bei euch ausgestorben sind. Finde Kapitän Van Tao. Er ist äußerst mutig. Und er braucht meiner Ansicht nach Geld. Zu allem Überfluss habe ich ihm auch noch fünfzehn Mark geklaut«, gab ich in einem Anflug von Offenheit zu. »Mit dem Kleingeld sogar mehr.«

»Ich werde es ihm zurückgeben«, versprach Dietrich mit einem Lächeln. »Und ich werde ihn fragen, wie mutig er ist.«

»Und heirate«, fügte ich noch hinzu. »Damit die Leute wieder wissen, woran sie sind. Die Besucher der Bibliothek zerreißen sich sonst ...«

»Da kommen doch nur sabbernde Kinder und alte Furzorgeln hin«, blaffte Dietrich.

»Kinder könntest du auch in die Welt setzen ...«

»Hör auf damit, ja?«, platzte Dietrich der Kragen. »Du führst dich auf wie mein Vater!«

»Ja und? Wenn ich aus der Vergangenheit komme, dann bin ich in gewisser Weise dein Vorfahr. Dann kann ich dir auch sagen, was du tun sollst.«

Seltsamerweise ließ sich Dietrich das Argument ernsthaft durch den Kopf gehen. Offensichtlich hielt er wirklich viel von seinen Vorfahren.

»Das gilt aber nur, wenn deine Theorie zutrifft«, erwiderte er nach einigem Nachdenken. »Insofern solltest du besser aufhören ... meinen großen Bruder zu spielen. Also, erzähl mir ein bisschen von dir. Von deiner Welt.«

»Was willst du denn hören?«, fragte ich. »Ich habe als Verkäufer gearbeitet - um es mal ganz unverblümt zu sagen. Ich habe Computer verkauft.«

»Was ist das?«

Ich erklärte ihm, was es mit einem Computer auf sich hatte. Dabei ließ ich mich so von dem Thema hinreißen, dass ich ihm im Schnelldurchgang auch noch die Vorund Nachteile von Vista im Vergleich zu XP erläuterte und ihm meine Position im ewigen Kampf zwischen Intel und AMD darlegte.

»Und das bezeichnest du als uninteressant?«, fragte Dietrich fassungslos. »Computerverkäufer - war es das, was du werden wolltest?«

»Natürlich nicht! Wer träumt denn schon davon, Verkäufer zu werden?«

»Bei uns ziemlich viele.«

»Die Mentalität ist eben eine andere ... Ich habe am Institut für Luftfahrt studiert. Fachrichtung Raumfahrt. Eine dumme Entscheidung, ein Kindheitstraum. Bei uns träumen alle Kinder davon, Unmengen Eis zu essen, Pilot zu werden oder Kosmonaut ...«

»Was ist ein Kosmonaut? Über Piloten habe ich schon mal etwas gelesen.«

Also musste ich auch das erklären.

Zu meiner Überraschung riss mich dieses Thema noch mehr mit. Ich hatte immer gedacht, ich hätte nach den drei Jahren Studium alles vergessen. Jetzt zeigte sich jedoch, dass irgendwo in meinem Gedächtnis noch alles vorhanden war. Die Erinnerungen waren angenehm, aber auch ein wenig schmerzlich, wie an eine Frau, die du mal geliebt und von der du dich in beiderseitigem Einvernehmen getrennt hast - da bleibt auch immer etwas Unausgesprochenes zurück.

»Und du willst mir weismachen, eure Welt sei uninteressant?«, brachte Dietrich hervor. »Ihr fliegt zum Mond und wollt auf den Mars fliegen. Eure Welt kann man an einem einzigen Tag durchqueren! Und du behauptest, sie sei uninteressant!«

»Vermutlich weil wir uns daran gewöhnt haben. Uns kommt das alles ganz normal vor.«

»Ihr seid echt bescheuert«, urteilte Dietrich. »Computer, Flugzeuge und Raketen. Der Mond!«

Er schüttelte den Kopf und schenkte uns Wein nach. Es war ein guter Wein, vermutlich aus eigenem Anbau, der im Keller gelagert wurde, in großen Fässern ...

»Es ist schon spät«, bemerkte Dietrich bedauernd. »Ich könnte die ganze Nacht mit dir verplaudern. Aber du willst morgen früh zum Turm hoch, oder?«

»Ja.«

»Da solltest du besser ausgeschlafen sein.«

Er hatte eben doch ein ausgeprägtes Verantwortungsgefühl.

»Gut.« Ich trank den Wein aus. »Vielen Dank ... für das Gewehr, und überhaupt für alles.«

»Ich werde dich morgen noch ein Stückchen begleiten«, sagte Dietrich leise. Um dann voller Inbrunst hinzuzufügen: »Wenn du wüsstest, wie gern ich zusammen mit dir hoch zu diesem Turm gehen würde!«

Der Morgen war entsetzlich.

Beim Aufwachen hörte ich, wie der Regen ans Fenster trommelte. Eigentlich ist es ja fabelhaft, auf diese Weise wach zu werden - wenn es Samstagmorgen ist oder Sonntag, du nirgends hin musst, noch ein bisschen liegen bleiben und schlummern kannst, bis du irgendwann den Fernseher anstellst und dir irgendeine dämliche Talkshow anguckst, während du das Frühstück machst, immer mal wieder auf die nasse Fensterscheibe schaust, über die dicke Tropfen rinnen, und all die Leute bemitleidest, die unter den Kuppeln ihrer Regenschirme durch die Straßen eilen ...

Mir jedoch stand etwas anderes bevor.

Ich wälzte mich aus dem Bett, zog die Gardine zur Seite und schaute zum Fenster hinaus. Graue Wolken lagen wie eine nasse Decke über den Berghängen, keine Menschenseele war unterwegs. Auf dem Fensterbrett weichten zwei Tauben in ihrem gesträubten Federkleid auf. Der Turm war nicht zu sehen, fast als existierte er tatsächlich nicht.

Ein guter Feldherr würde einen Soldaten bei diesem Wetter nicht in die Kugeln hinausjagen.

Zu bedauerlich, dass ich Feldherr und Soldat in einem war.

Ich ging hinunter und traf Dietrich im Esszimmer an. Als hätte er es gar nicht verlassen. Vielleicht entsprach das ja sogar den Tatsachen, denn auf dem Tisch stand eine weitere leere Weinflasche, der Aschenbecher auf dem Rauchtisch quoll über von Zigarettenkippen.

»Guten Morgen«, begrüßte mich Dietrich. Er sah wirklich unausgeschlafen aus. »Scheußliches Wetter heute.«

»Hmm«, gab ich zurück. Der Diener kam herein und deckte den Tisch. Frisch gepresster Saft, Tee, Brot, Käse und Wurst. Etwas Warmes gab es nicht zum Frühstück, aber meine Stimmung hatte mir sowieso den Appetit verdorben.

»Wollen wir unsere Expedition vielleicht auf morgen verschieben?«, fragte Dietrich. »Dann könnten wir uns auch besser vorbereiten. Ich könnte meine Leute fragen, vielleicht würde dich einer von ihnen begleiten.«

»Sie haben Angst vor dem Roboter. Vor dem Eisenmann.«

»Das sind doch Märchen«, meinte Dietrich verächtlich. »So etwas gibt es doch nicht.«

»In unserer Welt schon. Die Dinger sind natürlich noch nicht perfekt, aber es gibt sie. Maschinen aus Eisen, die sich bewegen können und von einem Computer gesteuert werden.«

»Und diese Maschine läuft auf zwei Beinen?«

»Ja ... so in etwa.«

»Diese Gerüchte halten sich schon rund fünfzig Jahre! In dieser Zeit wäre jede Maschine kaputt gegangen ... falls es sie denn überhaupt gegeben hat.«

Ich zuckte mit den Achseln und machte mir ein Brot mit einer Scheibe Käse und einer Scheibe Wurst.

»Soll ich dir eine Suppe kommen lassen?«, erkundigte sich Dietrich. »Oder Fleisch?«

»Nein, nicht nötig.«

»Ich habe mir überlegt, was du noch mitnehmen solltest. Eine Schnur.« Dietrich deutete mit einem Nicken auf eine Leine, die auf dem Tisch lag. »Sie ist natürlich nicht so dünn und bequem wie die der Menschen-über-den-Menschen. Aber sie ist stabil. Dann noch ein Jagdmesser.«

Ich lachte los. »Mit Klingen habe ich kein Glück. Eine Frau, ein Funktional, schenkt mir ständig Dolche, die sie geschmiedet hat.«

»Ein Schmiedfunktional?«

»Nein, sie ist auch Zöllnerin. Aber sie schmiedet, das ist ihr Hobby. Vielleicht will sie auf diese Weise zeigen, dass sie auch ohne ihre Funktionalsfähigkeiten etwas zustande bringt. Sie hat mir zwei Dolche geschenkt, und ich habe sie beide verloren. Ich habe sie nicht einmal gebraucht.«

»Es ist nicht schlimm, wenn du das Messer verlierst«, meinte Dietrich unbekümmert. »Aber ohne Messer solltest du auf gar keinen Fall in die Berge gehen. Dann Streichhölzer ...«

»Die habe ich selbst.«

»Vielleicht kannst du sie trotzdem brauchen. Eine Karte. Ich habe sie heute Nacht gezeichnet. Sie ist zwar nicht hundertprozentig genau, aber orientieren kannst du dich ohne weiteres an ihr. Kerzen. Eine sehr gute Heilsalbe. Wenn du fällst und dir eine Prellung zuziehst ... nur auf offene Wunden darfst du sie nicht schmieren, das brennt. Ein Satz Nachschlüssel. Wir haben mal einen Dieb geschnappt, ihm ordentlich eins verpasst und ihm sein Werkzeug abgenommen ...«

Ich brach in schallendes Gelächter aus. »Dietrich ... Al, ich kann mit Nachschlüsseln nicht umgehen. Ich bin kein Dieb. Außerdem gibt es dort bestimmt keine normalen Schlösser. Eher elektronische.«

»Und wenn schon ... sie sind ja nicht schwer. Und dann noch das.«

Ich wollte schon wieder loslachen. Aber als ich Dietrich ansah, verkniff ich es mir.

»Ein toller Regenschirm«, sagte ich.

»Natürlich ist es affig, mit einem Schirm in die Berge zu klettern«, meinte Dietrich. »Das ist mir auch klar. Aber anfangs ist der Weg noch ziemlich gerade. Was willst du da nass werden? Nachher schmeißt du ihn einfach weg, damit er dich nicht stört.«

Niemand begleitete uns, als wir das Anwesen verließen. Vermutlich hatte Dietrich auch das so angeordnet. Der Regen hatte ein wenig nachgelassen, es tröpfelte nur noch fein, eher ein Sprühregen.

»Das ist ein alter Weg«, erklärte mir Dietrich, während wir an den Orangenhainen entlangwanderten. »Bis hierher werden die Felder noch bestellt. Aber hinter diese Kurve wagt sich dann niemand mehr. Da stehen nur noch verwilderte Bäume, die wenig Früchte tragen ... und die erntet auch niemand.«

»Warum eigentlich nicht? Wenn den Turm doch eh niemand sieht?«

»Wegen der Geschichten vom Eisenmann. Und die Erde ist hier sowieso ... nicht gut. Steinig.«

Wir kamen an einen mit Gras und Büschen bewachsenen Felsblock, der sich irgendwann vom Berg gelöst haben musste. Ein kaum erkennbarer Pfad führte um ihn herum. Danach verlor sich der Weg mehr oder weniger, ihn benutzte offenbar wirklich kaum jemand.

»Hier verlass ich dich«, teilte Dietrich mir mit.

Wir blieben stehen.

»Vielen Dank für alles«, sagte ich aufrichtig. »Danke. Mir hätte nichts Besseres passieren können, als dich zu treffen.«

»Viel Glück, Kirill. Schade, dass du aus einer anderen Welt bist.«

So kann’s kommen. Du lernst einen Menschen kennen und merkst, dass er dein Freund werden könnte. Vielleicht sogar dein bester Freund. Aber das Leben treibt euch in andere Richtungen, und nur in Kinderbüchern bleiben Freunde allen Schwierigkeiten zum Trotz Freunde.

»Ich würde gern glauben, dass ich wirklich dein Vorfahr bin«, erwiderte ich. »Es muss doch einen Grund haben, dass wir uns so ähnlich sehen.«

»Ich hätte nichts dagegen. In unserer Familie gab es keine Helden, wir sind alle bloß unermüdliche Arbeitstiere.« Dietrich setzte ein schiefes Lächeln auf.

»Und auf die kommt es an.«

»Pass auf dich auf.« Dietrich drückte mir fest die Hand, drehte sich um und ging zurück.

Letzten Endes war er doch der geborene Befehlshaber. Denn ein Befehlshaber ist nicht derjenige, der auf einem wilden Pferd vorneweg galoppiert. Es ist derjenige, der einen jeden in die richtige Richtung schickt. Und selbst rechtzeitig haltmacht.

Ich blieb noch kurz stehen, hielt den großen bunten Regenschirm unbeholfen über mich. Aber Dietrich drehte sich nicht noch einmal um, sondern entfernte sich mit jedem Schritt schneller.

Da setzte auch ich mich in Bewegung.

Jeder muss tun, was er tun muss. Jeder muss seinen eigenen Garten bestellen. Und es ist nicht meine Schuld, dass in meinem Garten blaue Bohnen wachsen.

Der Regenschirm leistete mir wirklich eine ganze Weile gute Dienste. Als der Regen einmal stärker wurde, stellte ich mich unter einen Baum, vom Schirm zusätzlich geschützt. Sobald der Schauer nachließ und wieder Sprühregen wich, marschierte ich weiter. Irgendwann wurde der Hang steiler, dichtes Gestrüpp behinderte mich - und damit wurde der Schirm endgültig zu einer Last.

Ich blieb stehen. Genau in dem Moment frischte der Wind auf und riss mir den Schirm aus der Hand. Wie ein riesiger Schmetterling stieg er kreiselnd in die regenfeuchte Luft auf und flog davon.

Flieg nur. Flieg über das Anwesen von Al Dietrich, lande in dieser ruhigen Stadt am Fuß der Berge, finde die Frau aus der Bibliothek, die ohne Schirm aus dem Gebäude eilt, und gleite in ihre Hand. Vielleicht wird sie erkennen, wessen Schirm das ist - und eines Tages zu dem Anwesen fahren, um ihn seinem Besitzer zurückzugeben.

Ich lächelte. Mannomann! Was ich doch für ein Romantiker war!

Dabei sollte ich heute meine fünf Sinne lieber beisammen haben ...

Während des restlichen Wegs drehte ich mich nicht noch einmal um und dachte an nichts Besonderes. Ich kraxelte den Berg hoch, folgte verschiedenen Pfaden, die von Tieren stammten oder vom Wasser, das über den Berg heruntergeströmt war. Zu meiner Freude hörte der Regen endgültig auf. Vielleicht lag das aber auch nur daran, dass ich bereits die Wolken erreicht hatte, die über dem Hang hingen, und mich in grauem dichtem Nebel fortbewegte. Es war leise, alle Geräusche wurden erstickt, selbst der Stein unter meinen Füßen fiel nahezu lautlos in die Tiefe. Jetzt nur keine Panik, das war ein ganz normaler Anstieg.

Der Hang wies etliche Terrassen auf. Das würde ich schaffen.

In dem Moment hörte ich ein Geräusch, das auf mich zukam.

Ein schwerer metallischer Gang. Über Steine scheppernde Schritte.

Wie angewurzelt blieb ich stehen. André hatte mir keine Lügenmärchen aufgetischt!

Es war wie in einem Albtraum, als ob ich eine solche Situation schon einmal durchlebt hätte, als ob ich mich an etwas erinnerte, das ich vergessen hatte, das mir nicht mehr im Gedächtnis präsent war. Durch den Nebel bewegte sich eine metallische Horrorgestalt auf mich zu.

Ich drehte mich um und wollte wegrennen. Natürlich rutschte ich sofort auf den Steinen aus. Es riss mir die Beine weg, ich fiel und stieß mir das rechte Knie auf, was mir Schmerzen durch das ganze Bein jagte. Ich schlitterte den Hang runter, schürfte mir das Kinn an einem Stein auf, grub die Finger in die Erde, fand jedoch nirgends Halt. Zitternd spürte ich, wie meine Füße ins Bodenlose glitten, wie sich unter mir ein Abgrund auftat.

Im letzten Moment gelang es mir, den Fall abzufangen. Meine blutigen, aufgerissenen Finger bohrten sich in die steinige Erde. Ich hätte mich auch mit den Zähnen festgebissen - wenn es da etwas gegeben hätte, wo ich hätte reinbeißen können!

Wie tief war dieser Abgrund?

Einen halben Meter?

Oder einen halben Kilometer?

Ab fünf Meter bestand der Unterschied ja ohnehin nur noch darin, wie lange mein letzter Schrei durch die Luft hallen würde.

Und die Schritte kamen immer näher! Während meine Beine bereits im Nichts hingen, versuchte ich vorsichtig, den Hang wieder hochzurobben. Nur dass ich mich nirgends hätte festhalten können ...

Die Schritte verstummten. Ich riskierte es, langsam den Kopf zu heben.

Über mir stand ein Roboter.

Ein richtiger Roboter, so einer, wie er in Zeichentrickfilmen für Kinder auftritt.

Mindestens anderthalb Mal so groß wie ein Mensch. Ein metallischer, tonnenförmiger Körper, glatt, grau und nichtssagend. Dicke Beine, ebenfalls aus Metall, jedoch ziehharmonikaartig gearbeitet, die sich tadellos beugten, obwohl sie keinen Hinweis auf ein Gelenk erkennen ließen. Breite Füße, eher die Karikatur eines menschlichen Fußes, bei denen sogar die Zehen ausgeführt waren. Die Hände ... Genau wie die Füße, nur dünner, mit deutlich herausgearbeiteten, kegelförmigen Fingern. Und ein Kopf, der ebenfalls an einen Menschen erinnerte. An der Stelle des Munds saß eine dunkle matte Scheibe, ein kleiner Vorsprung mit zwei Löchern bildete die Nase, darüber saßen große Facettenaugen, die schwach schimmerten.

Ich spürte, wie die Kraft aus meinen Händen wich. Sollte ich meine Faust einfach öffnen? Vielleicht lagen ja nur ein, zwei Meter unter mir? Oder ein flach geneigter Hang, den ich problemlos runterrutschen konnte?

Der Roboter stand reglos da und starrte mich an.

»He, hallo!«, sprach ich ihn an. »Hallo-hallo! Es leben die drei Robotergesetze! Die hat Asimov sich ausgedacht. Einer von uns, ein Mann aus Smolensk, dieser Asimov! Ein Roboter soll den Menschen keinen Schaden zufügen und darauf achten, dass einem Menschen auch von niemandem sonst ein Schaden zugefügt wird ... sich unterordnen ... und auf sich aufpassen ...«

»Eine höchst eigenwillige Logik«, brachte der Roboter leise heraus. Seine Stimme klang lebendig wie die eines Menschen. Aber natürlich hatte sich sein Mund nicht bewegt.

Jetzt wollte ich meinen Griff erst recht lockern.

»Magst du Witze?«, fragte ich, ohne zu wissen, was ich da eigentlich von mir gab. »Wachen ein paar Bergsteiger in ihrem Zelt auf, weil ihr Freund schlecht träumt und schreit: ›Mach wenigstens den Finger krumm! Mach ihn krumm!‹ Sie wecken ihn ... und fragen ihn, was passiert ist. Da sagt er: ›Ich habe geträumt, dass der Schneemensch mir seinen Finger in den Arsch steckt und mich damit über einem Abgrund hält, und da habe ich ihn angeschrien: Mach wenigstens den Finger krumm!‹«

»Willst du mir damit vorschlagen, mich so zu verhalten wie der Schneemensch aus dieser Geschichte?«, fragte der Roboter. Kam mir das nur so vor oder schwang in der Stimme dieses Eisenriesen tatsächlich Ironie mit?

»Zieh mich jetzt endlich hoch!«, schrie ich. »Zieh mich hoch oder stoß mich in den Abgrund, aber steh hier nicht wie angewurzelt rum! Ich falle gleich!«

Ich begriff nicht mal, wie das alles vor sich ging, mein Bewusstsein schnitt das nicht mit. Mit unvorstellbarer Schnelligkeit streckte der Roboter seine Arme vor, packte mich am Unterschenkel und hielt mich vor sich. Eine Sekunde baumelte ich kopfüber in den Metallhänden, die mich fest und sanft zugleich hielten. Dann drehte der Roboter mich um und stellte mich auf festem Boden ab.

Danach stand der Roboter wieder reglos da. »Du wärst nicht gefallen«, meinte er mit ruhiger Stimme. »Ich hatte die Situation unter Kontrolle.«

»Dann bist du ... du gehorchst?«, stammelte ich endlich eine Frage heraus.

»Wie kommst du denn darauf?«, wollte der Roboter wissen. »Ich habe gesagt, ich hätte deinen Fall verhindert. Ich brauche dich noch.«

»A-ach ja-a?« Zum ersten Mal in meinem Leben fing ich an zu stottern.

»Und du wirst mich eventuell auch brauchen. Meiner Ansicht nach sind unsere Interessen weitgehend kongruent.«

Der Metallfinger kam auf mich zu und berührte die MPi.

»Das ist eine Waffe«, sagte ich.

»Ich weiß. Ich würde dir empfehlen, die Patronen nicht leichtsinnig zu vergeuden, indem du versuchst, mich zu beschädigen. Waffen dieser Art können mir nichts anhaben.«

»Ich hatte nicht vor ...« Ich verstummte. Wozu sollte ich ihm das erklären? Als ich gesehen hatte, mit welcher Geschwindigkeit sich dieser Koloss bewegte, war mir klar geworden: Ob ich auf ihn mit einer MPi oder mit einem Korkenzieher losging, war völlig einerlei.

»Gut.«

Abermals wechselte der Roboter mit unvorstellbarer Schnelligkeit die Position und setzte sich hin. Die kleinen Steine knirschten unter dem Metallkörper.

»Frag!«, befahl der Roboter. »Ich weiß, dass Menschen nicht handeln können, ohne vorher eine Reihe überflüssiger Fragen zu stellen.«

»Und du wirst mir antworten?«, hakte ich nach.

»Das hängt von den Fragen ab.«

Seine Logik konnte ich jedenfalls nicht bemängeln. Schade, dass seine Erbauer den guten alten Asimov so außer Acht gelassen hatten.

»Du bist ein Roboter?«

»Ich bin ein Roboter. Oder sehe ich etwa nicht so aus?« Mit Sicherheit hatte er einen Sinn für Humor! Das beruhigte mich. Ich linste in den Abgrund und erschauderte. Der Boden war nicht auszumachen. Rasch zog ich mich vom Abgrund zurück und setzte mich dem Roboter gegenüber. Die MPi nahm ich ab und legte sie abseits hin, eher der Bequemlichkeit halber, als um meine Friedfertigkeit zu demonstrieren.

»Bist du von hier? Bist du von den Bewohnern dieser Welt geschaffen worden?«

»Nein. Nein.«

»Bist du von Menschen geschaffen worden?«

»Ja.«

»Hast du einen Sinn für Humor?«, fragte ich zu meiner eigenen Überraschung.

»Woher sollen wir armen Metaller den denn haben?«, antwortete der Roboter melancholisch.

»In welcher Welt bist du geschaffen worden?«

»Welche Klassifikation kennst du?«

»Die der Funktionale ... die Welten des Multiversums.«

»Dann wird dir die Bezeichnung nichts sagen. Die Funktionale haben unsere Welt nicht in ihre Klassifikation aufgenommen.«

»Warum nicht? Ist sie ihnen unbekannt?«

»Sie trafen auf allzu schmerzlichen Widerstand, als sie versuchten, sie zu erobern.«

»Ist das hier die Heimatwelt der Funktionale?«

»Ja.«

»Der Turm in deinem Rücken, haben den die Funktionale gemacht?«

»Er ist nicht in meinem Rücken. Ja, das haben sie.«

»Beschützt du ihn?«

»Sehe ich so aus?«

»Willst du ihn zerstören?«

»Erforschen. Eventuell zerstören. Das hängt von seiner Bestimmung ab.«

»Anscheinend habe ich einen Verbündeten gefunden«, sagte ich. »Bist du schon lange hier?«

»62 Jahre, vier Monate und drei Tage.«

»Nicht zu glauben!«, bemerkte ich. »Du siehst wie neu aus.«

»Leider ist dem nicht so. Ich bin beschädigt. Ich bin allein übriggeblieben, am Anfang waren wir zu dritt. In zwei Monaten und sechs Tagen versiegen meine Energiequellen endgültig, dann höre ich auf zu funktionieren.« Er verstummte. »Obwohl ich das Wort funktionieren nicht mag.«

»Verstehe. Erzählst du mir von deiner Welt?«

»Nein. Diese Informationen hätten für dich keine Bedeutung. Wir stellen für deine Welt oder überhaupt für Menschen keine Gefahr dar. Unsere Lebensweise würde dir merkwürdig vorkommen, eventuell sogar abstoßend. Das könnte unserer Zusammenarbeit im Wege stehen.«

»Aber bei euch gibt es Menschen? Normale Menschen? Werden sie von den Maschinen unterdrückt?«

»Ja. Ja. Nein. Jetzt müsste ein Lachen folgen, aber meine Möglichkeiten der Lautnachahmung sind begrenzt. Ich habe mal versucht zu lachen, aber das hat die Menschen erschreckt.«

»Kein Wunder ...« Ich erschauderte bei der Vorstellung. »Die Menschen hätten vermutlich sogar dann Angst, wenn du ein Lied über eine Heuschrecke singen würdest ... Du bist halt sehr groß und ... ziemlich eisern. Auch wenn du verdammt wie ein Mensch aussiehst!«

»Ich bestehe aus Titan und Flüssigkeramik«, erklärte der Roboter. »Aber mein Bewusstsein ist von einem Menschen kopiert worden.«

»Das gibt’s doch nicht«, brachte ich heraus. »Jetzt fällt mir übrigens nichts mehr ein, was ich dich noch fragen soll!«

»Wie schön, dass du weißt, wann ein Verhör zu Ende ist. Damit ist die Reihe an mir, Fragen zu stellen. Einverstanden?«

»Sicher.«

Von dem Roboter ging etwas Warmes aus, etwas Weiches, das fast lebendig wirkte. Der Nebel um uns löste sich auf, ich merkte, wie meine Kleidung langsam trocknete.

»Wie heißt du?«

»Kirill. Ich habe nicht nach deinem Namen gefragt, entschuldige ...«

»Das macht nichts. Nenn mich Roboter. Aus welcher Welt kommst du?«

»Von der Erde. Die Funktionale nennen sie Demos.«

»Das habe ich vermutet«, stellte der Roboter zufrieden fest. »Ich habe dich kaum schockiert, und du kennst das Wort Roboter. Du konntest nur aus einer technisch entwickelten Welt kommen. Wie bist du hierhergekommen?«

»Ich bin ein ehemaliges Funktional. Ein Zöllner.«

»Ehemalige Funktionale gibt es nicht. Selbst wenn du die Verbindung zu deiner Funktion zerrissen hast, hält sich in dir eine veränderte Wahrscheinlichkeit.«

»Eine veränderte Wahrscheinlichkeit?«

»Ich bin an der Reihe, Fragen zu stellen«, rief mir der Roboter in Erinnerung. »Ja, eine veränderte Wahrscheinlichkeit. Invertierte Zeit. Ein lokales Chronoklasma. Nicht realisierte Realität. Intertemporäre Fluktuation. Das kommt aus der Quantenphysik.«

»Davon habe ich noch nie etwas gehört«, brummte ich im Ton eines Fachmanns für Quantenphysik.

»Aus unserer Quantenphysik. Es ist das, was die Funktionale mit den Menschen machen, wenn sie sie in Wesen verwandeln, die ihnen ähneln. Sie durchtrennen ihre Verbindung mit der Realität und geben ihrer Existenz eine Wahrscheinlichkeitskomponente ... Das interessiert hier nicht. Du weißt nicht genug, um die Theorie zu verstehen, von der ich im Übrigen auch keine profunden Kenntnisse habe. Gut, du bist also ein ehemaliges Funktional. Warum hast du die Verbindung zu deiner Funktion zerrissen? Normalerweise ist die Existenz eines Funktionals doch nicht zu verachten. Aus Liebe?«

Ich blickte in die zart schimmernden Facettenaugen und erinnerte mich daran, dass in dieser wandelnden Metallsammlung etwas von einem Menschen steckte. »Ja.«

»Die übliche Geschichte, soweit ich weiß.« Der Roboter berührte sanft meine Schulter. »Funktionale verlieren im Laufe der Zeit die Fähigkeit zu lieben ... und unterschätzen die Kraft dieses Gefühls stets. Hast du deine Fähigkeiten vollständig eingebüßt?«

»Nein. Manchmal brechen sie durch. Ich glaube, das passiert in den Fällen, wenn ich vor einer wichtigen Wahl stehe.«

»Richtig. Du bist nicht ganz in deine Welt zurückgekehrt, Kirill. Du bist nach wie vor ein Hindernis für das freie Fließen der Zeiten. Ein Sandkorn im Ozean, das die Wellen tragen.«

»Du bist ja ein Dichter ...«

»Ich war es. Aber das ist nicht von Belang. Willst du dich rächen?«

»Ich will die Erde für die Funktionale dichtmachen. Genau, wie ihr eure Welt gegen sie abgeschottet habt, oder Feste.«

»Wir haben das anders gemacht als Feste. Feste führt Krieg. Wir haben uns auf dem Niveau feiner Raumstrukturen isoliert. Niemand wird jemals wieder in unsere Welt eindringen, und wir werden sie nie wieder verlassen können.«

In der Stimme des Roboters lag Trauer.

»Das tut mir leid.«

»Danke. Das ist nicht von Belang. Ich bin kein richtiger Mensch und empfinde kein echtes Heimweh. Aber das, was während des Eroberungsversuchs geschehen ist, billige ich nicht. Ein Mensch, dessen Bewusstsein dem meinen zugrunde liegt, ist durch die Funktionale gestorben. Ich möchte den Funktionalen einen solchen Schaden zufügen, dass sie dergleichen nie wieder tun können.«

»Unsere Wünsch stimmen überein«, murmelte ich. »Nur will ich auch noch nach Hause ...«

»Ich muss dich warnen, dass die Chancen dafür verschwindend gering sind.«

»Ich weiß.«

»Dann sind wir Verbündete.«

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