Acht

Wie macht man die Welt besser? Darauf hält jeder seine eigene Antwort parat. Dennoch wissen alle Menschen haargenau: In dieser besseren Welt brauchen sie nicht zu arbeiten, werden geliebt und von der ganzen riesigen, glücklichen Erde versorgt.

Bedauerlicherweise hat jedoch jeder einen eigenen Weg für den Aufbau dieser erstaunlichen Gesellschaft vor Augen. Bei genauerer Betrachtung kommt man dahinter, dass weder die Bemühungen der Philosophen noch die Anstrengungen der Soziologen etwas Überzeugenderes als die klassische Utopie hervorgebracht haben - in der selbst der bescheidenste Bauer mindestens drei Sklaven besaß.

Die Menschheit kann eben einfach nie genug an zweibeinigem Vieh haben. Es ist inzwischen zwar reichlich unmodern geworden, die eigenen Artgenossen in Sklaven zu verwandeln, und Roboter aus Zahnrädern oder Eiweiß können wir noch nicht bauen - aber sobald wir es gelernt haben, werden wir die Dinger auch besitzen.

Das ist unser Utopia.

Das die Menschheit verdient.

Nach wie vor stieg ich nicht hinter die Beziehungen zwischen Kotja und den Mönchen in dem buddhistischen Kloster. Wofür hielten sie ihn eigentlich? Und warum dienten sie ihm? Doch wie dem auch sei, am nächsten Morgen fand ich meine Kleidung in tadellosem Zustand vor, gewaschen und gebügelt, und als ich mein kleines Zimmer verließ, in dem ich geschlafen hatte, war im »englischen Salon« bereits das Frühstück angerichtet.

Das mit einer friedliebenden Religion überhaupt nicht in Einklang zu bringen war: Omelett, Salami, Würstchen...

»Was hast du nur mit diesen Mönchen gemacht?«, staunte ich und guckte Kotja an. Er vertilgte bereits seine Würstchen, die er vor jedem Biss in Ketchup ertränkte. Angezogen war er, als frühstücke er in einem Fünf-Sterne-Hotel, mit Hose, Jackett und einem frischen Hemd. Fehlte nur noch die Krawatte ...

»Wenn du wüsstest, wie viel Mühe mich das gekostet hat!«, erwiderte Kotja stolz. »Sie kochen mir zum Mittag sogar Hühnchen!«

»Ein lebendiges?«, fragte ich, während ich mir Omelett auftat, das zwar schon kalt geworden war, aber immer noch lecker aussah.

Kotja kicherte. »Illan schläft noch«, teilte er mir mit, obwohl ich mich nicht nach ihr erkundigt hatte. »Willst du warten, bis sie aufsteht, oder auf eigene Faust losziehen?«

»Lass uns noch frühstücken, dann mach ich mich auf die Socken«, entschied ich mit einem Blick hinaus zu dem kleinen Fenster. Die graue kalte Morgendämmerung zog herauf, die Bergspitzen lagen in rosafarbenem Licht. Am liebsten hätte ich jetzt Nicholas Roerich oder Helen Blavatsky gelesen.

»Ich bringe dich nach Moskau«, eröffnete Kotja mir.

»Einverstanden? Da gibt es drei bequeme Übergänge nach Orysaltan. Dort triffst du dann Andrjuscha ...« Er legte mir einen Umschlag hin. »Hier ist ein Brief. Du kannst ihn ruhig lesen, ich habe ihn nicht zugeklebt.«

Ich griff danach. Ach du liebe Güte, das war ja die reinste Antiquität: Die Marke war noch mit »Post der UdSSR« gekennzeichnet. Ungelesen steckte ich ihn die Tasche.

»In dem Brief bitte ich Andrjuscha, dich sicher nach Feste zu bringen und Kontakt mit einem der führenden Leute dort herzustellen. Inoffiziell natürlich. Aber dieser Weg ist erprobt, so ist die Sache schon oft gelaufen.«

»Ich habe immer gedacht, man dürfe sich nicht mit religiösen Fanatikern einlassen ...«

»Kirill, jetzt mach mal halblang!«, entrüstete sich Kotja.

»Fanatiker ziehen los und führen Befehle aus. Die Leute an der Spitze, das sind jedoch immer kluge Köpfe. Wenn wir den Herrschenden von Arkan etwas entgegenzusetzen hätten, würden die sich ebenfalls rasch auf ein Gespräch einlassen, da bin ich mir sicher.«

»Was muss ich herauskriegen? Und soll ich um Hilfe bitten?«, fragte ich, während ich in dem Omelett stocherte. Nein, irgendwie schmeckte es doch nicht.

»Selbstverständlich. Leg die Karten offen auf den Tisch ... gesteh ihnen, dass du ein Funktional bist, das die Verbindung zu seiner Funktion zerrissen hat. Und weil du der Freund eines Kurators bist, hast du ihn, also mich, überzeugt, ebenfalls gegen Arkan vorzugehen. Du hast mir von deinem Besuch auf Arkan erzählt und von dieser miesen Hebamme Iwanowa ... und hast mich damit auf deine Seite gezogen. Wir sind nunmehr bereit, etwas gegen Arkan zu unternehmen. Wir müssen bloß wissen, wie wir Menschen zu Funktionalen machen können ...«

»Oder umgekehrt.«

»Genau.« Kotja lächelte. »Außerdem müssen wir Fremde observieren und Durchgänge zwischen den Welten schließen ... und tausend andere Dinge. Wir sind jedoch bereit, eine Delegation aus Feste zu empfangen, ihren Transport hierher zu garantieren und sämtliche Reisekosten zu übernehmen.«

»Sie werden in unserer Welt völlig durchdrehen«, warnte ich.

»Ausgeschlossen ist das nicht!«, bestätigte Kotja amüsiert. »Sie könnten sich aber auch in Demut üben, beten - und sich anpassen.«

»Und erhalte ich darauf eine Antwort? Auf der Stelle?«

»Wohl kaum.« Kotja schüttelte den Kopf. »Bürokraten triffst du überall. Selbst unter Kirchenleuten. Leg einfach unsere Position dar und kehre nach Orysaltan zurück. Dort bleibst du entweder bei Andrjuscha - er ist ein sehr gastfreundlicher Mann -, oder du fährst weiter nach Moskau. Ehrlich gesagt, habe ich keine Ahnung, wo es für dich sicherer ist.«

»Und wie soll ich die Verbindung mit dir halten?«

»Ich spüre, wenn du wieder in unsere Welt eintrittst«, antwortete Kotja. »Aber sicherheitshalber ... falls ich plötzlich meine Fähigkeiten verlieren sollte ...«

Er holte ein Lederetui für Visitenkarten aus seiner Tasche - ein für den früheren Kotja absolut unvorstellbares Accessoire - und händigte mir eine silbrige Karte aus.

Darauf stand nur eine Nummer. Eine lange Nummer.

»Ein Satellitentelephon«, erklärte er. »Warum auch nicht? Weshalb sollten wir die moderne Technik ignorieren?«

»Hm.« Ich steckte die Karte ein. »Toll.«

Kotja und ein Satellitentelephon, das war ebenfalls eine erstaunliche Kombination. Das stellte sogar die Tatsache in den Schatten, dass er der Kurator für die Funktionale auf unsere Erde war ...

»Ich selbst habe keineswegs die Absicht, in der Zwischenzeit die Hände in den Schoß zu legen«, informierte mich Kotja. »Gleich werde ich einen Politiker treffen ...«

»Dima?«, brillierte ich mit meinen profunden Kenntnissen.

»Du bist genau wie der Mann, der einen Chinesen kennt«, kicherte Kotja, »und dann einen zweiten trifft, dem er erklärt: ›Ich bin ein Bekannter von Herrn Sun Win. Kennen Sie ihn?‹ Nein, Kotja. Ich werde jemanden treffen, der wirklich wichtig ist. Pjotr Petrowitsch ... falls dir der Name etwas sagt.«

»Richte Sascha, seinem Referenten, einen Gruß von mir aus«, erwiderte ich.

Kotja verschluckte sich und fixierte mich mit unverhohlener Verwunderung. »Oho ... und wann hast du ... ach, egal. Kannst du zufällig eine Krawatte binden?«

Der Tasche seines Jacketts entnahm er eine aufgerollte Seidenkrawatte, die golden schimmerte und mit kaum erkennbaren violetten Fischen bedruckt war. Ein offenkundig teures Stück.

»Ja«, antwortete ich. »Das mache ich für meinen Vater auch immer. Ständig bittet er entweder meine Mutter oder mich darum.«

»Ich hab’s nie gelernt«, gestand Kotja.

Schweigend legte ich mir die Krawatte locker um den Hals und knüpfte einen einfachen Windsorknoten.

»Danke«, sagte Kotja, nachdem er sich die Krawatte über den Kopf gezogen hatte. »Nimm meine Jacke. Nur im Hemd kommst du in Moskau jetzt nicht mehr weit. In der Innentasche ist Geld ...«

Die Jacke lag auf einer Bank vor der Wand. Wirklich warm war sie nicht, eher etwas für den Übergang, aus festem grauem Stoff und mit Knöpfen. Aber vermutlich würde ich mich ja nicht lange in Moskau aufhalten.

»Mal überlegen, zu wem schicken wir dich jetzt?«, dachte Kotja laut nach. »Möglichst jemand, der noch nichts über dich weiß.«

»Wenn er ein Funktional ist, wie sollte er dann nichts über mich wissen?«, äußerte ich meine Zweifel. »Ist das überhaupt denkbar, Kotja? Ich habe den Eindruck, sie alle lesen die Wöchentliche Funktion.«

»Nein.« Kotja schüttelte den Kopf. »Es gibt auch welche, die ganz bewusst Abstand zum Leben der Funktionale halten und gewissermaßen ›Menschen spielen‹. Dann gibt es desinteressierte, die schon ein paar Hundert Jahre leben und nur noch ihre Hobbys im Kopf haben, zum Beispiel das Sammeln von Briefmarken mit Orchideendarstellungen, die Zucht seltener Panzerwelse im Aquarium, die Erstellung von Porträts großer Schriftsteller in Kreuzstickerei ... Und es gibt analphabetische Funktionale.«

»Analphabetische?«, japste ich.

»Genau. In der Regel aber nur in Afrika oder Asien. Ich werde dich jedoch über Moskau nach Orysaltan schleusen ...« Kotja dachte mit gerunzelter Stirn nach. »Danila würde dich durchlassen, aber er würde dich auch erkennen. Anna müsste dich nicht unbedingt erkennen, aber ... Halt! Nikolenka! Der erkennt dich mit Sicherheit nicht!«

»Warum nicht?«, fragte ich misstrauisch.

»Er hat einen alternativen Informationszugang für sich gefunden.« Kotja setzte das durchtriebene Lächeln eines Menschen auf, der das Geheimnis eines nur ihm bekannten Zaubertricks nicht vor der Zeit zu lüften gedachte. »Keine Sorge, mit ihm ist alles in Ordnung, er ist ein guter Zöllner. Ihr wäret Kollegen gewesen, bald bestimmt auch dicke Freunde geworden, er lebt ganz in der Nähe, in Marjina Roschtscha. Hier ist seine Adresse ...«

Er zog eine weitere Visitenkarte aus der Tasche, schrieb rasch und ohne groß überlegen zu müssen etwas auf die Rückseite und reichte sie mir. Ich las: Von der Frauenklinik Nr. 9 gehst du ... Es folgten drei Zeilen mit Anweisungen. Unwillkürlich schoss mir der Gedanke durch den Kopf, dass ein derart bemerkenswertes Gedächtnis verdächtig ist. Vermutlich hatte Kotja schon vorab alles entschieden, wohin und zu wem er mich schicken würde. Die Show hatte er dann nur abgezogen, um mir die Bedeutung des Ganzen klarzumachen.

Oder sollte ein Kurator doch alle seine Zöllner kennen?

Vielleicht fand Kotja aber auch nur Gefallen daran, andere Welten zu besuchen und sich die interessantesten Übergänge einzuprägen?

Nein, ich konnte nicht mit jemandem einen Krieg der Welten anzetteln - und ihm dann nicht vertrauen! Außerdem blieb mir sowieso keine andere Wahl, als Kotja zu vertrauen ...

»Fehlt nur noch eine Satellitenaufnahme«, frotzelte ich.

»Die würde dir auch nicht helfen«, winkte Kotja ab. »Da würdest du nur einen hellen Fleck oder einen anderen Fehler bei der Darstellung sehen.«

Oho! Von solchen Dingen hatte ich keine Ahnung.

Aber wie viel hatte ich denn schon über das Leben der Funktionale in Erfahrung bringen können?

»Ich hoffe bloß, dieser Nikolai erkennt mich nicht ...«, murmelte ich.

»Dafür lege ich meine Hand ins Feuer. Die Geschichtchen der Funktionale sind ihm schnurzegal.«

»Werde ich seinen Turm sehen? Oder auch nur ... einen hellen Fleck?«

»Ich glaube, du wirst ihn sehen. Du musst dir einen Teil deiner Fähigkeiten bewahrt haben. Schließlich hast du auch Wassilissas Haus gefunden!«

Ich nickte. Einerseits wollte ich nicht aufbrechen, andererseits wünschte ich mir nichts sehnlicher, als endlich die normale, gewohnte Welt wiederzusehen.

»Also, ich suche diesen Nikolai ...«

»... und zeigst ihm die Visitenkarte. Wenn was ist, ruf mich an, dann erteile ich ihm einen Befehl.« Kotja grinste.

»Nikolai wird dir auch erklären, wie du zu Andrjuscha in Orysaltan gelangst. Dem gibst du den Brief und bittest ihn, für dich Gespräche mit den Regierenden von Feste anzuleiern.«

Ich nickte erneut, genau wie die chinesische Porzellanfigur aus dem Märchen von Andersen. Nicht umsonst wurde bei ihr betont, dass sie ständig nickte. Wer immer nur nickt, ist irgendwann zu nichts anderem mehr fähig.

»Hauptsache, diese verbohrten Pfaffen kommen nicht auf die Idee, den Platz der Arkaner einzunehmen«, sagte ich eher schon aus Beharrungsvermögen und nicht, weil ich es auf Streit mit Kotja abgesehen hatte.

In meinem Kopf herrschte ohnehin nur noch ein Gedanke: Moskau!

Wie mir das inzwischen alles zum Hals raushing, Charkow, Nirwana, Janus, Polen und überraschenderweise sogar Tibet! Auf einer seltsamen Route war ich durch drei Länder und drei Welten gerauscht, hatte immer wieder flüchtige Blicke nach links und nach rechts geworfen - und war bloß wütender und wütender geworden. Warum eigentlich? Hatte ich mir zu wenig Zeit genommen? Nein, im Grunde machten mir selbst solche Kurztrips Spaß. War es zu viel auf einmal? Kaum. Anja und ich waren mal im Autobus durch Europa gereist und hatten es genossen.

Ob eine Reise einen richtigen Anfang und ein richtiges Ende haben musste? Und einen nicht so überrollen und überrumpeln durfte?

Vermutlich.

Selbst Tibet bereitete mir keine Freude, und in Polen war irgendwie alles verquer gelaufen (mit dem sechsten Sinn wusste ich, dass Marta und ich, hätte die Polizei nicht dazwischengefunkt, eine ganz eigene Art gewusst hätten, den Abend ausklingen zu lassen).

Würde ich jetzt, unterwegs auf einer von vornherein abgesteckten und klaren Route nach Feste, mehr Gefallen an der Reise finden?

»Dann schick mich mal auf die Reise, Kotja«, sagte ich. »Also ... wenn ich aus deinem Arassultan zurück bin, dann hol mich sofort zu dir. Klar?«

Kotja nickte, stand auf und wischte sich die Lippen mit der Serviette ab. »Klar. Ich schicke dich an einen Ort ganz in der Nähe, bei der Frauenklinik ...«

Seine Hand glitt durch die Luft, als würde er Runen zeichnen. Seine Finger zogen blaue Feuer nach sich. Mir schoss unwillkürlich durch den Kopf, dass Kotja eine wandelnde Reklamefigur für ›Gasprom‹ abgeben würde.

Oder, wenn er in Amerika leben würde, für irgendeinen Comic-Helden.

Burner.

Ich kicherte, was mir einen argwöhnischen Blick Kotjas einbrachte.

Schon komisch.

Hundertprozentig traute ich ihm doch nicht über den Weg.

Und er mir auch nicht.

»Fertig«, verkündete Kotja und trat einen Schritt zur Seite. In der Luft loderte in weißem Feuer ein Schriftzug.

Ich machte einen Schritt nach vorn, sinnierte kurz darüber nach, was für eine perfekte Gelegenheit sich Kotja hier böte, wollte er mich tatsächlich umbringen. Ich könnte in einem Hochofen landen, am Boden des Baikal-Sees oder in den Tiefen des Uralgebirges, und das wäre es dann gewesen...

Im letzten Moment dachte ich daran, den Mund aufzumachen und einzuatmen, genau wie in einem Flugzeug beim Start. Wenn gleich Wasser oder glühendes Metall über mich hereinbräche, würde der offene Mund freilich auch nichts mehr ändern ...

Aber ich hatte Kotja zu Unrecht der Heimtücke verdächtigt.

Tief inhalierte ich die frische Moskauer Luft, hustete und wurde mir mit einem Mal bewusst, dass Wasser nur unwesentlich schlechter gewesen wäre. Wie können wir diese Luft einatmen? Unser Leben lang?

Meine Augen fingen an zu tränen, allerdings nicht von der Luft, sondern weil mir das grelle Licht einer Laterne vor einem Tor direkt ins Gesicht schlug. Um mich herum war es noch dunkel, was mich nicht wunderte, schließlich war es in Moskau drei oder vier Uhr Stunden früher als in Tibet. Früher Morgen, später Herbst ...

Es schneite, winzige Krümelflocken, fast wie Grieß. Es war nicht kalt, es war schweinekalt. Ich stand vor einem vergitterten Tor, an dem ein Schild hing: Frauenklinik Nr. 9. In dem kleinen Häuschen des Wachmannes schimmerte Licht, ein paar Schritte vor dem Tor hüpfte ein junger Mann herum, der nicht gerade wettergemäß gekleidet war. Genau wie ich.

Als er sich umdrehte und mich erblickte, zeigte er sich in keiner Weise überrascht. »Die Frau?«, fragte er herzlich.

Ich linste auf das Schild. »Der Mann«, brabbelte ich völlig deplatziert. »Also, ich meine, ich bin der Mann. Und da ... genau, da drin ist meine Frau.«

Der andere Mann hätte momentan vermutlich jeden Unsinn akzeptiert.

»Das Erste?«

»Hmm«, brummte ich vage.

»Bei mir ist es der Zweite. Oder die Zweite.« Er kicherte. »Hör bloß nicht auf Ärzte. Letztes Mal haben wir eine Tochter erwartet und dann ... Ist dir kalt?«

Als ich unbestimmt mit den Schultern zuckte, drückte er mir eine kleine Metallflasche mit Schraubverschluss in die Hand. »Trink das.«

Noch immer umnebelt, trank ich gehorsam.

Der Kognak gluckerte mir schwer und heiß die Kehle runter. Mist! Schon am frühen Morgen zu saufen!

»Rauchst du?«

»Hmm.«

»Hier.«

Die Zigarette aus einer Schachtel starker, als Lizenzprodukt vertriebener Marlboro nahm ich mir bereits aus eigenem Entschluss. Schließlich musste ich den grauenvollen Geschmack im Mund irgendwie übertünchen. Bisher hatte ich noch nie am frühen Morgen Kognak getrunken - und ich hatte gut daran getan!

»Eine Tochter ist gut, zwei Söhne sind auch in Ordnung«, sinnierte der Mann. »Weißt du, ich würde auch bei der Geburt dabei sein, ehrlich, ich hab da keine Angst vor! Aber meine Frau will das nicht. Nachher liebst du mich nicht mehr, sagt sie, das hat’s alles schon gegeben ... Ist ein kluges Köpfchen, meine Frau, hat schon vorher alles über die Geburt gelesen ...«

Er trank einen weiteren Schluck Kognak. »Die Weiber sind doch alle blöd!«, fuhr er völlig unvermittelt fort. »Ich würde sie nicht mehr lieben! Was soll der Scheiß denn?«

Nachdem ich ein paar kräftige Züge an der Zigarette genommen hatte, sah ich mich verstohlen um. Also: Ich musste am Zaun der Frauenklinik vorbei ...

»Viel Glück«, wünschte ich. »Ich geh jetzt wohl. Ich hab ... die haben gesagt, es würde noch dauern. Ich soll mal nach dem Mittagessen wiederkommen, sagen sie.«

»Haben sie mir auch gesagt«, räumte der Mann ein. »Aber ich warte noch ein bisschen und rauch eine. Dann guck ich noch mal rein und hör, wie’s steht. Vielleicht haben sie sich ja geirrt? Ärzten darfst du einfach nichts glauben ...«

Zum Abschied schüttelte ich die mir entgegengestreckte Hand, dann ging ich an der Umzäunung entlang und ließ den mitteilungsbedürftigen Mann weiter auf neue Verlautbarungen seitens der unzuverlässigen Ärzte warten.

Seltsam, aber diese Begegnung hatte mich aufgeheitert. Lächelnd setzte ich meinen Weg fort.

Die Menschen ahnten nicht das Geringste von Funktionalen. Sie lebten ihr Leben und freuten sich daran. Arbeiteten und bekamen Kinder, fuhren in den Urlaub und sparten für ein neues Auto, grillten auf der Datscha Schaschliks und spielten mit Freunden Préférence. Funktionale rangierten für sie in der gleichen Kategorie wie Spiderman oder Transformer. Und es ist längst nicht ausgemacht, dass sie ihr Leben gegen unsere Wunder eintauschen würden ...

Obwohl: nein. Sie würden wohl schon tauschen. Denn es lockt eine außergewöhnliche Prämie, ein sehr, sehr langes Leben. Dieser Reiz dürfte alles andere überwiegen.

Wenn es doch bloß ein »Sowohl-als-auch« gäbe. Sowohl die Fähigkeiten als auch die Freiheit ...

Aber wollten Kotja und ich nicht genau das erreichen?

Nachdenklich rauchte ich meine Zigarette zu Ende und schnippte sie in eine Pfütze, da ich weit und breit keinen Papierkorb erspähte. Warum ein Mensch, wenn er seine Umwelt sowieso vermüllt, seine Kippe oder seine zerknüllte Chipstüte wohl immer zu anderem Müll schmeißt? Im Zweifelsfall in eine Pfütze oder eine Grube, an den Straßenrand oder in einen Graben. Und warum ziehen diejenigen, die ihren Müll mitten auf der Fahrbahn oder dem Gehsteig abladen, dann die allgemeine Empörung auf sich?

Vermutlich wissen tief in ihrem Herzen auch die schlimmsten Dreckspatzen, dass es kein schöner Zug ist, alles vollzumüllen.

»Und wo ist hier ein Turm?«, grummelte ich, während ich mich im Licht der wenigen Laternen umsah.

Ein Wohnhaus, eine Trafostation, noch ein Haus ...

Halt!

Das war gar kein Haus.

Das schmale, zweistöckige Gebäude mit einer Tür und drei Fenstern pro Etage war alles andere als ein Wohnhaus.

Das war eine weitere Variante eines Zöllnerturms!

Natürlich hätte mich das nach dem Haus von Wassilissa in Charkow nicht weiter verwundern müssen. Und eigentlich war es ja eher meine Behausung gewesen, die sich selbst in Moskau ungewöhnlich stilvoll ausgenommen hatte, ein richtiger Turm, wenn auch ein Wasserspeicher.

Aber bei Wassilissas Haus hatte ich den Geruch einer anderen Welt wahrgenommen. Ich hatte ihre Funktion gespürt. Außerdem hatte es von ihren Schmiedearbeiten gewimmelt.

Aber hier? Ein Haus wie jedes andere auch.

Nur reichlich heruntergekommen, ein proletarisches Haus, wie es so schön heißt.

Mit schmutzigen Gardinen vor den Fenstern, verkümmerten Blumen in den Töpfen und einer schiefen Antenne auf dem Dach.

Die Haustür war aus Holz, alt, mit Eisen beschlagen und vor kurzem gestrichen worden. Die billige braune Farbe blätterte jedoch bereits ab, darunter trat die alte blaue Farbe zum Vorschein. Ein primitives, mechanisches Zahlenschloss. Übrigens stand die Tür sowieso offen.

Aus dem Innern drang eine kreischende und erhobene Stimme an mein Ohr. »Das ist, nebenbei bemerkt, bereits der zweite Fall innerhalb von einem Jahr! Seit drei Stunden komme ich nicht ins Netz. Und Sie haben sich ewig geweigert, sich das überhaupt anzusehen!«

»Wozu wollen Sie überhaupt mitten in der Nacht ins Inter...«, setzte jemand mit müder Stimme an, um gleich darauf wieder zu verstummen.

Vorsichtig betrat ich das Haus.

Es stank nach Katzen. Leben dürften hier allerdings keine, bestimmt war das eine Imitation, eine Mimikry. Über ausgetretene Stufen gelangte ich zu dem kleinen Absatz im Hochparterre. Hier gab es nur eine einzige Tür. Auch sie stand halb offen. Durch das zerschlissene Kunstleder quoll Schaumstoff. An einer Schraube baumelte die Nummer: 1. Drinnen brannte Licht.

Nachdem ich in die Wohnung gelinst hatte, trat ich leise ein.

Unmittelbar hinter der Tür lag das Zimmer, einen Flur gab es nicht. Ein riesiges, vollgestopftes, aber erstaunlich sauberes Zimmer - das Realität gewordene Paradies eines computerverrückten Teenagers.

In einer Ecke stand ein großes, ungemachtes Bett. Die Kissen hätten mal aufgeschüttelt, die Decke glattgestrichen werden können. Offenbar fiel der Wohnungsinhaber nur in dieses Bett und versank sofort in einen Todesschlaf.

Die andere Ecke nahm ein Herd mit allen technischen Finessen ein, der nicht benutzt wurde. Auf der funkelnden Glaskeramikfläche thronte eine einfache Mikrowelle mit offener Tür. Direkt auf dem Glasträger des Apparats lag ein Viertel einer Pizza.

Die dritte Ecke gehörte einem soliden Bücherschrank. Knallige, zerlesene Science-Fiction-Romane gaben sich ein Stelldichein mit irgendwelchen technischen Nachschlagewerken, alles Taschenbuchausgaben, und seriösen dunkelgrünen Bänden akademischen Anstrichs.

Die vierte Ecke stellte das eigentliche Zentrum des Raums dar.

Hier war ein gigantischer Computertisch untergebracht. Der Tower war so groß, dass bequem ein passabler Server hineingepasst hätte. Zwei anständige Bildschirme. Drucker und Scanner. Eine Kaffeemaschine, bei der ich den Eindruck hatte, sie sei über ein USB-Kabel an den Rechner angeschlossen, wobei ich es dann aber vorzog, von einem Irrturm meinerseits auszugehen. Die Heizplatte unter der Kaffeetasse war jedoch mit Sicherheit an den Computer angeschlossen. Solchen Kram kannte ich, den verkauften wir zu Hunderten als Geschenk zu Silvester oder zum Tag des Vaterlandsverteidigers am 23. Februar, schließlich gab es kein hübscheres Präsent, das eine junge Systemadminstratorin ihrem jungen Systemadminstrator machen konnte.

All das fand auf dem Tisch problemlos und unaufdringlich Platz. Wie ich schon sagte, das hier war die wahre Schaltzentrale des Zimmers, selbst wenn es in der Ecke lag.

Vor dem Tisch befand sich ein Sessel.

Und zwar einer, wie er im Buche stand. Etwas verriet mir, dass diese gewaltige Konstruktion aus dunklem Leder, montiert auf neckische Rollen, nicht in jedem x-beliebigen Geschäft zu erwerben war. Dergleichen fertigte man gegen enormes Geld nach Maß in Italien an. Das war nicht schlicht ein Sitzmöbel, auf dem man den Hintern platzierte, sondern etwas wie ein Kokon mit überhoher Lehne, nach vorn gewölbten Ohrenpolstern und extrem breiten Armstützen. Man braucht sich nur mal ein Photo von Rockefeller oder Churchill an ihrem Schreibtisch anzuschauen und weiß, was ich meine.

In diesem Meisterstück der Möbelkunst saß indes weder der Halbwüchsige, der zum Zimmer gepasst hätte, noch der dickbäuchige Chef, der dem Sessel alle Ehre gemacht hätte. In dem Ledermonstrum hockte - gleich einer vertrockneten Nuss in der Schale - ein spindeldürrer, eisgrauer Greis mit in den Knien durchhängenden Hosen und einem schmuddeligen, kurzärmeligen Hemd.

Vor ihm standen zwei Männer in meinem Alter und in Arbeitskleidung, auf deren Rücken die Aufschrift Korbin-Telekom prangte. Zwischen dem Alten und den beiden Leuten vom Provider lag auf einer Ecke des Tischs irgendein Schriftstück.

»Ich werde die Quittung nicht unterschreiben«, verkündete der Alte mit offener Genugtuung. »Ich habe mit Ihnen einen Vertrag abgeschlossen, der mir Ihren Service rund um die Uhr garantiert. Aber ich saß drei Stunden ohne Netz da!«

»Zwei Stunden und zwanzig Minuten ...«

»Völlig einerlei! Sie brauchten zu lange für die Anfahrt und für die Reparatur!«

»Herr Zebrikow, Sie haben ein altes Haus, die Leitungen sind alle morsch ...«

»Dieses Haus wird euch noch alle überstehen, junge Herren!«, versicherte der Alte amüsiert. Da hat der verknöcherte Streithahn vermutlich recht, schoss es mir durch den Kopf. Das Haus wird noch sehr, sehr lange stehen...

In dem Moment streifte mich der Blick des Alten. Aufgrund meines Alters hielt er mich anscheinend ebenfalls für einen Techniker.

»Und was haben Sie dazu zu sagen?«, blaffte mich der Giftzahn barsch an.

»Ich bin aus einem anderen Grund hier, Nikolenka«, antwortete ich, wobei ich innerlich zusammenzuckte, als ich den alten Kläffer mit dieser vertraulichen Namensform ansprach. »Ich muss nur durch eine Tür rein, durch die andere wieder raus.«

Der Alte blinzelte.

Anschließend unterschrieb er wortlos die Quittung.

Einer der beiden jungen Männer schnappte sie sich, wobei er einen Seufzer der Erleichterung nicht zu unterdrücken vermochte, und beide Techniker marschierten zur Tür. Ich zwinkerte den beiden Geschundenen zu. Daraufhin verdrehte der Typ, der die unterschriebene Quittung an sich genommen hatte, leidgeprüft die Augen.

Verständlich. Es gibt nichts Schlimmeres, als in der Serviceabteilung zu hocken. Wenn du dann noch an so einen alten Querkopf gerätst, siehst du kein Land mehr.

Hinter den beiden Männern schlug die Tür zu, ihre Schritte klapperten über die Treppe. Allem Anschein nach hatten sie es eilig, von hier wegzukommen.

»Irgendwie erinnere ich mich nicht.« Mit zusammengekniffenen Augen fixierte der Alte mich. »Sind wir uns schon mal begegnet?«

»Nein.«

»Aha ...« Er sah mich unverwandt an, kam aber einfach zu keinem Schluss. »Bist du ein ... Funktional?«

»Ein ehemaliges.« Ich hielt es für besser, ihm die Wahrheit zu sagen.

»Verstehe. Hattest du es satt, an der Leine zu gehen?« Herr Zebrikow blinzelte mir zu. »Ach ja ... die Jugend. Glaubst du etwa, für mich war es immer ein Zuckerschlecken? Im Jahr 1866? Als Mensch, der nicht mehr ganz jung und vom Leben geschüttelt, aber trotzdem aufgeschlossen war und dann eine beschämend kurze Leine erhielt? Von 3007 Metern!«

»Oh ...«, stieß ich aus.

»Bis zur Mauer des Kremls kam ich, rein nicht«, führte der Alte so beleidigt aus, als sei er daran gewöhnt, tagtäglich in den Kreml hineinzuspazieren, um dort seine Arbeit zu verrichten. Oder war er vielleicht tatsächlich daran gewöhnt? Wer weiß, wer er einmal gewesen war ... »Gut, ich war nicht mehr ganz jung, aber ich bin von Natur aus umtriebig und freiheitsliebend. Glaubst du, das war leicht für mich? Aber ich habe die Zähne zusammengebissen! Gewartet, bis es Telephon, Radio und Fernsehen gab. Und jetzt sieht sowieso alles anders aus. Die ganze Welt erreiche ich jetzt, was kümmert mich da die Leine?«

Geduldig wartete ich, bis er zu Ende gekichert hatte. Unwillkürlich lugte ich über die Schulter des Alten und schaute auf den Bildschirm.

Es war schon komisch.

Soweit ich sehen konnte, war auf beiden Schirmen ein und derselbe Blog aufgerufen, ein elektronisches Tagebuch, diese populäre Beschäftigung junger Nichtsnutze und alter Müßiggänger.

Auf dem einen Bildschirm trat der Alte unter dem Namen einer Frau auf, in dem anderen unter dem eines Mannes. Beide Figuren stritten miteinander, was das Zeug hielt. Eine Unmenge - vermutlich realer - Menschen kommentierte das Geschehen.

»Das sind so meine Späßchen ...« Der Alte war meinem Blick gefolgt. »Missbilligen Sie das? Glauben Sie, ich würde meine Zeit verplempern?«

»Das geht mich ja nichts an«, antwortete ich.

»Vernünftige Einstellung! Sie müssen wissen, junger Mann, von der Höhe der hinter mich gebrachten Jahre aus sehe ich klar und deutlich, dass jede menschliche Tat klein und nichtig ist. Liebe, Hass, Freundschaft, Glauben, Verachtung, Eifersucht, Wut, Patriotismus und Begeisterung - all unsere Gefühle verbrennen und verwandeln sich in nichts. Und ist es denn wirklich von Belang, ob man tatsächlich liebt ...« Er stockte, bevor er präzisierte: »Angesichts meines Alters muss ich die fleischliche Komponente der Liebe ausschließen ... oder ob man die Liebe nur imitiert, sich und seine Umwelt zwingt zu glauben, man sei von überirdischen Leidenschaften erfasst?«

»Ich weiß nicht. Aber ich glaube, es ist doch wichtig.«

»Sie sind noch jung«, urteilte der Alte mit väterlicher Wärme in der Stimme. »Hach, wie jung Sie noch sind ... Aber während des Kriegs gegen Bonaparte, da war ich sogar noch jünger als Sie, das reinste Kind, dabei ungeheuer hitzköpfig und draufgängerisch. Ich bin vom Gut meines Vaters direkt in den Krieg ausgebüchst und habe ein Jahr lang als Trommler gedient. Und ich hätte jeden auf der Stelle erschossen, der sich über meine Liebe, meinen Glauben oder meinen Patriotismus lustig gemacht hätte! Zum Glück haben sich die Zeiten jedoch geändert. Duelle sind heute außer Mode. Heutzutage ist ohnehin alles light. Liebe light, Glauben light, Patriotismus light. Ich will mich jedoch nicht beklagen! Es ist Sommer, die Sonne scheint, die Kinder rennen umher, die Vögel singen, Kriege und Epidemien gibt es nicht mehr. Alles geht seinen Gang! Alles wird immer besser in dieser besten aller Welten, wie schon der weise Voltaire gesagt hat ...«

»Es ist Winter«, bemerkte ich. »Und Nacht. Die Kinder schlafen, die Vögel sind in warme Länder gezogen. Aber Kriege und Epidemien gibt es anscheinend wirklich nicht. Dafür aber Terroristen und Aids.«

»Wohin wollen Sie?«, fragte der Alte scharf.

»Nach Orysaltan.«

»Das heißt Oryssultan, junger Mann. Das macht ...« Er runzelte die Stirn. »Ehrlich, ich weiß es nicht! Funktionale passieren gebührenfrei, aber Sie sind ein ehemaliges Funktional ... Ich berechne Ihnen den halben Preis.«

»Gut.«

»480 Rubel.«

Ich holte einen Fünfhunderter aus meiner Jacke und gab ihn ihm. »Sie brauchen mir nicht herauszugeben. Danke.«

»Und Sie brauchen mich nicht mit Trinkgeld zu beleidigen, ich bin nicht Ihr Lakai!«, erwiderte der Alte in strengem Ton. Aus einer Tischschublade kramte er eine Red-Bull-Dose voller Kleingeld hervor und händigte mir triumphierend vier Fünfer aus.

Die musste ich annehmen.

Danach erhob sich der Herr Nikolenka Zebrikow lustlos hinter seinem Tisch. In dem Namen »Nikolenka« schwang etwas entsetzlich Falsches mit, wie bei einem dieser Neureichen, die es sich einfallen lassen, auf altrussischen Adel zu machen. Dabei hatte er jedes Recht sowohl auf den nach heutigen Maßstäben süßlich klingenden Namen als auch auf sein Getue gegenüber den beiden Technikern. Wenn es denn stimmte, dass er von zu Hause ausgerissen war, um gegen Napoleon zu kämpfen ...

Und ich ... ich wunderte mich nicht mal mehr über diese Dinge! Woran man sich nicht alles gewöhnt!

»Folgen Sie mir«, sagte der Mann feierlich. »Wir müssen in den ersten Stock, in Wohnung Nr. 4 ...«

Wir gingen durch die Tür. In Zebrikows Schlepptau stapfte ich die schmutzige Treppe hoch. Im ersten Stock brannte eine schwache, schirmlose Glühbirne. Zwei Türen gingen hier ab, mit den Ziffern 3 und 4.

»Wohin geht’s durch Wohnung Nr. 3?«, erkundigte ich mich.

»Nach Antik.«

»Oh«, sagte ich mit verstehendem Gesichtsausdruck, »ein komischer Ort.«

»Eine zurückgebliebene, dämliche und primitive Welt! Wie kann man denn freiwillig auf den Fortschritt in Wissenschaft und Technik verzichten?«

»Und auch auf den gesellschaftlichen?«

»Gesellschaftlichen Fortschritt gibt es sowieso nicht, junger Mann.« Zebrikow schnaubte. »Nur mal dieses Beispiel: Im Jahre 1825 wollte ich nach Petersburg fahren, um eine bezaubernde junge Dame aufzusuchen und mit ihr den Almanach Nordische Blumen, die erste Ausgabe, zu diskutieren und mit Freunden einen draufmachen, so lange das Geld reichte ... Doch hier in Moskau, an der Manege, hatte sich eine Menge versammelt. Offiziere, die ich kenne. Blanke Säbel, alle drängen irgendwo hin ... Ich schreie ihnen zu: ›Was gafft ihr denn, Kanaillen?‹ Ich renne ihnen hinterher und versuche, sie zur Vernunft zu bringen ... Was dann weiter passiert ist? Das ist bekannt, oder? Irgendein Patentidiot hat bei der Vernehmung ausgesagt, ich hätte geschrien: ›Im Karree gegen die Kavallerie! ‹ Dem müssen die Ohren längst mit Haaren zugewachsen gewesen sein ... Doch egal, wie ich mich verteidigt habe, wie ich mich empört habe - ich war zusammen mit den Dekabristen dran. Ich wurde zum einfachen Soldat degradiert, habe im Kaukasus gegen die wilden Bergbewohner gekämpft ... So war das, mein junger Freund! Und jetzt sagen Sie mir, wodurch unterscheiden sich diese Ereignisse von vor fast zweihundert Jahren von den heutigen? Die Regierung ist dumm und bringt das Volk gegen sich auf, ehrgeizige Verschwörer scheren sich einen Dreck ums Volk, feige Wachposten beschuldigen jeden x-Beliebigen, nur um den eigenen Hintern zu retten, schnelle und ungerechte Prozesse, Willkür und Grausamkeiten im Kaukasus ... Und jetzt sagen Sie mir bitte, gibt es so etwas wie gesellschaftlichen Fortschritt, wie die Entwicklung der Gesellschaft - von einer schlechten zu einer guten, von einer grausamen zu einer humanen?«

Ich hüllte mich in Schweigen.

»Nein, nein und noch mal nein!«, stieß Zebrikow inbrünstig aus. »Deshalb bin ich mit meiner heutigen Situation zufrieden. Die Kette, an der ich hänge, erstickt mich nicht. Die Wunder der Technik, die weltweite Vernetzung, die erstaunlich freie Moral - in alldem sehe ich echte Erfolge des Menschengeschlechts. Aber nicht in den gesellschaftlichen Institutionen, die einzig und allein der Unterdrückung des Pöbels und der Selbstbeweihräucherung der herrschenden Klasse dienen.«

»Also läuft alles aufs Internet hinaus?«, fragte ich.

»Ja«, bestätigte Zebrikow in provokantem Ton. »Aufs Internet. Aufs Fernsehen. Aufs Telefon. Auf Computer. Darin zeigt sich die Größe des menschlichen Geistes! Und hinter dieser Tür liegt Veros! Herzlich willkommen!«

»Wie finde ich den Zöllner Andrjuscha?«, fragte ich.

»Ach, Sie wollen weiter zu unseren Tataren?« Zebrikow nickte. »Ich werde es Ihnen erklären.«

Er steckte die Hand in die Tasche, kramte eine Zeit lang darin herum und zog schließlich einen Schlüssel heraus. Einen uralten, massiven Schlüssel. Anscheinend hatte sich sein Zuhause nach und nach modernisiert, seine Mimikry an die Umwelt vollzogen, solche Kleinigkeiten wie einen Schlüssel dabei jedoch nicht verändert.

Oder konnten sich Schlüssel vielleicht nicht verändern? Er öffnete die Tür und streckte feierlich die Hand aus. »Sehen Sie!«

Licht ließ mich blinzeln, denn hier war der Morgen schon angebrochen. Der Turm (oder wie sah das Gebäude in jener Welt aus?) stand wie üblich isoliert, ringsum gab es kleine, nicht sehr hohe Bauten, die allem Anschein nach nicht zum Wohnen gedacht waren. Vielleicht Garagen (aber was sollte es auf Veros für Garagen geben?) oder kleine Scheunen. Die meisten von ihnen hatten etwa mannshohe Kuppeln und einen winzigen Zaun. Interessant ...

Zu meiner Freude stand auch dieser Turm auf einer kleinen Anhöhe und bot eine passable Aussicht. Die Stadt fing etwa in zweihundert Metern an. Eine absolut unbekannte Stadt, die Moskau in keiner Weise glich, mit zahllosen Türmen von vage vertrauten Konturen.

»Sind das Minarette?«, rief ich aus.

»Natürlich. Hier werden Sie unser Russland nicht finden, junger Mann. Hier sind nur Tataren und Finnen, Wjatitschen und Kriwitschen ... Moskowien, wenn wir es einmal so nennen wollen, nimmt nur einen kleinen Raum ein und ist größtenteils von Mohammedanern bewohnt. Glücklicherweise sind das jedoch nicht solche Heißsporne wie bei uns.« Der Alte schnaubte. »Sehen Sie da vorn die blaue Kuppel?«

»Ja.«

»Das ist der Tempel des Propheten Isa.«

»Christus der Heiland?«, erriet ich.

»Genau. Ein in der Stadt geachteter, schöner Ort. Gehen Sie zum Tempel, verlaufen können Sie sich dabei gar nicht. Dann stellen Sie sich vors Tor. Schauen Sie in Richtung zehn, elf Uhr. Sie werden ein höchst originelles Türmchen mit einer Uhr, einem Vogel und unten einem kleinen Laden sehen.«

Ich starrte Zebrikow an. Der unfreiwillige Held des Dekabristenaufstands schien etwas zu verbergen. Genauer, mir etwas vorzumachen. Irgendwas stimmte hier nicht.

»Ist es da ... gefährlich für mich?« Ich nickte in Richtung Stadt.

»Wenn Sie sich anständig aufführen, dann nicht. Es ist eine Stadt wie jede andere auch. Nicht besser und nicht schlechter als unser Moskau ... Ach ja! Brauchen Sie Devisen?«

»In kleiner Menge«, bestätigte ich. »Um etwas zu essen. Oder ein paar Andenken zu kaufen ...«

»Ja, ja, die Andenken ...« Der Alte wiegte ernst den Kopf. »Ich glaube, wenn Sie tausend Rubel wechseln, müsste das reichen. Das belastet Ihr Budget doch nicht zu sehr?«

Die Summe, die Kotja mir in die Jacke gesteckt hatte, überstieg kaum fünfzehn-, zwanzigtausend Rubel. Das war zwar nicht gerade wenig, aber auch nicht übermäßig viel.

Ich gab Nikolenka einen Tausender. Mit einem Mal krächzte der Alte, kratzte sich den Nacken - und ging langsam die Treppe hinunter, sein Angebot eindeutig bereuend. Ich wartete geduldig auf seine Rückkehr und erhielt einige blau-grüne Scheine sowie eine Handvoll kleiner silbrig glänzender Münzen.

»Neunhundert und ein paar Zerquetschte in Tenge«, sagte Zebrikow. »Der Rubel und der Tenge stehen heute fast gleich.«

»Und was ist mit der Sprache?«

»Stimmt, Sie haben Ihre Fähigkeit des Zungenredens ja eingebüßt.« Der Alte kicherte. »Aber keine Sorge, man wird Sie schon verstehen! Und umgekehrt genauso! Schließlich passieren Sie eine Zollstelle.« Eine Windbö, die plötzlich von jenseits der Tür hereinwehte, ließ ihn erschaudern. »Was ist, wollen Sie jetzt gehen oder nicht?«

»Ich gehe«, antwortete ich rasch.

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