Seit der Mensch zählen kann, sind Erklärungen wesentlich einfacher geworden. »Eine Handvoll Recken hielt den überragenden Kräften des Gegners stand« - bei so einer Aussage kannst du nur mit den Achseln zucken. Eine Handvoll, das ist reichlich vage. Aber »dreihundert Spartaner gegen Zehntausende von Persern« - da sind die Größenverhältnisse sofort deutlich.
Ein »Geldsack« ist eine Sache, ein Multimillionär eine andere. Genau wie fürchterliche Kälte und minus vierzig Grad. Oder die Marathonstrecke und zweiundvierzig Kilometer.
Kein Wort, kein expressives Epitheton kann es mit der Kraft einer Zahl aufnehmen.
Zweiundzwanzig Kilometer.
Minus zehn Grad Celsius.
Diese Arithmetik jagte mir ehrlich gesagt nicht den geringsten Schrecken ein.
Den Winter liebte ich. Sogar den Winterurlaub. Ausländer mögen der unerschütterlichen Ansicht anhängen, »russische Mann sitzen in Winter in Hütte und trinken heiße Wodka aus Samowar«. Denn eigentlich ... eigentlich ist es ein ungeheures Vergnügen, im Winter in eines der Hotels im Moskauer Umland zu fahren. Selbst wenn du kein fanatischer Wintersportler bist, hat so ein Ort einiges zu bieten: Von Fahrten im Schneemobil oder Schlitten bis hin zu ganz banalen Spaziergängen an der frischen Luft. Und wie dir der heiße Tee danach schmeckt! (Gut, seien wir ehrlich, ein, zwei Gläschen Wodka sind dann auch nicht zu verachten.) Oder du ziehst im Schwimmbad deine Bahnen, wobei du durch die Glaswände auf die verschneiten Bäume schaust, schwitzt in der Sauna oder im Dampfbad ... Was ist? Eine Sauna oder ein Dampfbad gibt es nicht? Dann hast du das falsche Hotel ausgesucht ...
Zweiundzwanzig Kilometer - das ist nicht mehr als ein ausgedehnter Spaziergang an der frischen Luft.
Ich marschierte von Wassilissas Haus los und brachte dreihundert Meter hinter mich, bevor ich mich ein zweites und letztes Mal umdrehte. In dem Schneegestöber ließ sich das Licht in dem kleinen Fenster kaum noch erkennen. Etwa eine Minute wartete ich noch, dabei auf meiner Lippe herumkauend. Die Entfernung war im Grunde halb so wild. Die würde ich bewältigen. Es kam alles darauf an, mich nicht zu verirren. Hier konnten mir jedoch die Berge helfen. Laut Karte erstreckten sie sich als gleichmäßiger breiter Streifen zwischen den beiden Portalen. Sobald ich diese Kette überwunden hatte, bräuchte ich bloß noch geradeaus auf den Turm der anderen Zollstelle zuzuhalten. Die Sonne, die kaum durch die Wolken brach, stand noch nicht sehr hoch, folglich drohte mir die Gefahr absoluter Finsternis nicht. Ich würde es bis zum Turm schaffen.
Im Nachhinein wunderte ich mich allerdings über die Naivität, die wir beide, Wassilissa und ich, an den Tag gelegt hatten. Bei Wassilissa, die im warmen Charkow lebte, war diese Naivität ja verständlich, bei mir aber kaum.
Schuld war im Grunde der Wind, der den Schnee von den Hängen Richtung Flussbett trieb. Doch solange ich den ersten Gipfel noch nicht überquert hatte, bereitete mir der Weg wirklich keine Schwierigkeiten. Der Wind wurde zwar immer stärker und böser, aber ich erklomm unverdrossen den hart überfrorenen Hang. In der Senke, die hinter dem Berg lag, versank ich dann jedoch sofort knietief im Schnee. Noch ein Schritt, und ich steckte bis zur Taille in der Wehe.
Ich holte tief Luft und schaute mich verzweifelt um. Die vor mir liegende, fast runde Talsohle hatte einen Durchmesser von zwanzig bis dreißig Metern. Lächerlich! Nur dass ich sie eben unter einer dicken Schneeschicht durchqueren musste ...
Ich zog die Fäustlinge aus, schob die Hände unter die Kapuze und rieb mir kraftvoll die Ohren. Okay! Dann würde ich diese Senke halt irgendwie umrunden. Ich machte kehrt und kletterte verdrossen wieder auf den Bergkamm rauf. Den Kopf tief gesenkt, um die Augen gegen den Wind zu schützen, stapfte ich vorwärts und schlug auf einer höheren Ebene einen Bogen um das Tal. Der Felshang war mit einer tückischen, unter Raureif verborgenen Eisschicht überzogen, doch die billigen Moonboots stellten sich als rutschfest heraus.
Nachdem das Tal hinter mir lag, hob ich den Kopf. Genau in dem Moment - welch Ironie! - klarte der Himmel über Janus auf, und die Sonne brach ein wenig heller durch die Wolken, sodass ich die Bergkette vor mir deutlich erkennen konnte.
Die Berge hatten alle etwa die gleiche Höhe, fast, als seien sie mit einem gigantischen Hobel abgeschliffen worden. Die Fläche zwischen ihnen, all diese kleinen Täler, Senken oder Mulden, füllte eine dicke, feste Schneeschicht. Man bräuchte bloß eine Waffel mit Puderzucker zu bestäuben, dann hätte man im Miniaturformat das vor sich, was ich gerade sah.
Ich konnte ewig darüber rätseln, wie dieses Relief entstanden sein mag. Vielleicht würden mir die immer mal wieder wie aus dem Nichts auftauchenden Fähigkeiten eines Zöllnerfunktionals sogar verraten, wie eine solche Landschaftsformation hieß.
Doch so oder so musste ich die Hügelkette irgendwie überwinden. Und wenn mir der Weg durch die Täler versperrt war, musste ich halt oben lang, sozusagen über die Gipfel. Die waren zwar glatt, aber dafür bräuchte ich nicht ständig die Hänge ganz rauf und ganz runter ...
Insofern verzweifelte ich nicht. Achselzuckend senkte ich wieder den Kopf, um mein Gesicht gegen den Wind zu schützen, und kletterte vorsichtig über die rutschigen, vereisten Felsen. Plötzlich hallten in mir tatsächlich Termini wie »kryogenes Gefüge, Hydrolakkolith und Thermokarst« wider. Sprach da jenes enzyklopädische Wissen, das mir einst zur Verfügung gestanden hatte? In dem Fall wäre die Wissenseinspeisung allerdings unvollständig gewesen, ohne Dechiffrierung. Ich hatte die Fachbegriffe parat, hätte mir jedoch nicht mal im Traum anmaßen wollen, sie zu erklären.
Na, wenn schon. Schließlich nahm ich nicht an einer Quizshow teil. Um ans Ziel zu gelangen, musste ich die Füße bewegen, nicht die Zunge.
Und so bewegte ich meine Füße, stiefelte einen steinigen Pfad entlang, der immer wieder in schneeverfüllte Senken führte (dort war der Wind schwächer), aber auch rauf zu den Gipfeln (hier fiel der Schneesturm fröhlich mit neuer Kraft über mich her). Der warme und dreckige Moskauer Winter mit seinem feuchten, grauen Schnee kam mir jetzt nahezu idyllisch vor. Noch sehnsüchtiger erinnerte ich mich an die Gässchen in Kimgim und die Pferdeschlitten, die ungelenken Polizeipanzerwagen mit Alkoholantrieb und die Pärchen, die in altmodischen Anzügen spazierengingen, die weder für Hast noch Gedränge taugten.
Der Winter ist eine ausgesprochen angenehme Jahreszeit. Wenn er auf den Wind verzichtet ...
Nach etwa einer halben Stunde rutschte ich das erste Mal aus und fiel hin. Da ich mich nicht verletzt hatte, stapfte ich munter weiter. Als meine Füße das zweite Mal wegglitten, prallte ich mit dem Steißbein heftig auf den Fels und schlitterte in eine Mulde, wo ich fast bis zur Taille im Schnee versank.
Angst hatte ich keine. Ich fluchte bloß, während ich im Schnee lag, ein Gefühl, als ob sich unter mir Morast oder Treibsand befänden. Dann kroch ich zurück auf den Fels. Als ich mich hinhockte, ging kaum Wind. Ich zog die Handschuhe aus, nahm den Rucksack ab und öffnete ihn. Hatte Wassilissa mir nicht auch eine Thermoskanne eingepackt?
In der Tat, das hatte sie. Ich entdeckte eine kleine Metallflasche. Der Tee war nur lauwarm, denn Wassilissa hatte keine Zeit mehr gehabt, den Samowar aufzusetzen.
Dafür hatte sie in den Tee einen Schuss Kognak oder Whisky gegeben. Nach dem ersten Schluck erlitt ich prompt einen Hustenanfall. Ich schnupperte an der Flüssigkeit. Hmm, nein, das war kein Whisky, das war Rum. Bei der Kälte tat der natürlich gut - doch sollte ich ihn besser mit Vorsicht genießen.
Ich aß einen unter diesen Temperaturen steinhart gewordenen Kringel und nagte an einem Stück gefrorener Schokolade. Irgendwann blickte ich auf die Uhr. Oho! Ich war bereits seit zwei Stunden auf Janus!
Welche Strecke hatte ich in dieser Zeit zurückgelegt? Luftlinie vielleicht fünf Kilometer. Höchstens.
Das Ergebnis behagte mir nicht. Mit jeder Minute würde meine Müdigkeit wachsen. Die Kälte würde mir zusetzen, ich würde schneeblind werden. Ich würde immer langsamer vorankommen. Der Wunsch zu schlafen übermächtig werden. Wie lange musste ich noch durchhalten bis zum Ziel? Sechs Stunden? Acht? Zehn?
Wenn ich noch einmal ausrutschte, dann würde ich mir das Bein ... nein, nicht brechen, sondern bloß verrenken. Zu Hause würde ich mich in einem solchen Fall einfach einen Abend lang ausruhen - und fröhlich weiter durchs Leben hinken.
Hier würde ich einfach sterben.
In dem Moment packte mich zum ersten Mal Angst.
Wir Großstädter rechnen ständig mit Gefahren, allerdings nur mit ganz bestimmten, den üblichen gewissermaßen. Mit einem besoffenen Rowdy in einer Tordurchfahrt, einem Geisterfahrer, einem Terroristen im Flugzeug, mit von einer nahe gelegenen Fabrik verpesteter Luft. Unsere Gefahren gehen in der Regel auf die Zivilisation und den Menschen zurück. Erdbeben, Tsunamis und Überschwemmungen kümmern uns normalerweise nicht. Selbst in den Städten, in denen die Natur perfiderweise hin und wieder zuschlägt, wie zum Beispiel in Tokio oder Los Angeles, fürchtet der Durchschnittsbürger eher die Kündigung als die Tücke der Elemente.
Wir gehen davon aus, dass wir uns die Natur untertan gemacht haben, und holen ihre Meinung nicht ein. Wer jedoch fern der Stadt lebt, hat für die Gefahren der Metropole nur ein mitleidiges Lächeln übrig. Er weiß, wie leicht und schnell vierzig Grad Kälte jemanden umbringen, wie ein Bergrutsch Häuser in Schutt und Asche verwandelt, wie ein Erdbeben jeden Hinweis auf Menschen auslöscht.
Für die anderen ist es freilich besser, wenn sie nichts davon wissen.
Ich rappelte mich hoch, stülpte mir die Handschuhe wieder über und wunderte mich, wie schnell die Wärme aus ihnen herausgekrochen war. Im Unterschied zu meinen Händen waren die Fäustlinge bereits eiskalt. Das würde mir eine Lehre sein. In Zukunft würde ich die Handschuhe unter meine Jacke stecken, wenn ich sie auszog.
Als ich wieder auf den Kamm kraxelte, kam es mir so vor, als ob der Wind zugenommen hatte oder kälter geworden war. Das Thermometer bestätigte diesen Eindruck allerdings nicht. Minus zehn Grad. Anscheinend kam es mir nach der Pause nur kälter vor.
Ich marschierte weiter.
Die Berge schienen kein Ende zu nehmen. Was auf der Karte kinderleicht aussah, stellte sich in der Realität als vereiste Steinbuckel heraus, die sich mir in den Weg stellten. Ich setzte meinen Weg durch das eisige Gestöber fort, das mir mal Schneebrei ins Gesicht trieb, mal mit heftigen, fiesen Schlägen meinen Rücken traktierte. Zweimal fiel ich noch hin, wobei ich einmal fast bis zum Hals einsank. Ich brauchte lange, um mich wieder aus dem Schnee herauszuarbeiten.
Nach vier Stunden, als ich mehr oder weniger am Ende meiner Kräfte war und mich allmählich Verzweiflung beschlich, erwies sich Janus mir gegenüber plötzlich gnädig. Der Wind legte sich, von einer Sekunde zur nächsten, als hätte jemand einen Knopf gedrückt und damit einen gigantischen Ventilator ausgeschaltet. Die Schneewolken verzogen sich, die Sonne glomm als matte Glühbirne am Himmel (wir Metropolenkinder lieben es halt, Naturerscheinungen mit technischen Gegebenheiten zu vergleichen). Der Horizont, bis eben hinter Schneewänden zusammengequetscht, weitete sich mit aller Kraft aus.
Da sah ich auch, dass ich die Berge fast hinter mir gelassen hatte.
Vor mir erhob sich - schon gar nicht mehr so weit weg, vielleicht noch vier, fünf Kilometer - ein tadelloser Turm aus weißem Stein mit gezahnter Spitze. Am ehesten erinnerte er an die entsprechende Figur in einem schlichten Schachspiel.
Da ich hoffte, weit hinter mir als gelben Funken das kleine Fenster in Wassilissas Turm auszumachen, drehte ich mich um. Aber nein, natürlich konnte ich es nicht mehr sehen.
»Alles halb so wild ...«, murmelte ich. Nur in der Stadt wird ein Mensch, der mit sich selbst spricht, belächelt oder voller Abscheu angefeindet. Mitten in der Ödnis, sei diese nun aus Sand oder Schnee, ist jedem klar, wie wichtig eine lebendige Stimme ist, und so fängst du an, mit dem einzigen Menschen in deiner Nähe zu sprechen, mit dem treuesten aller Zuhörer, mit dir selbst.
Fünf Minuten später machte ich mich dank der Windstille bereits an den Abstieg des letzten Bergs. Alle Gefahren lagen hinter mir, jetzt war es wie in dem Kinderlied: »Nur der Himmel, nur der Wind, nur die Freude liegt vor uns.« Auf den Wind konnte ich allerdings verzichten, der Himmel und die Freude genügten mir vollauf. Gleich würde ich an die Tür klopfen ...
Und wenn der Zöllner mich nicht reinließ? Oder wenn er versuchte, mich festzunehmen? Schließlich erhielten alle Funktionale diese Dreckschleuder von Zeitung.
Achselzuckend beschloss ich, mich mit den Problemen erst zu befassen, wenn sie auftauchten. Immerhin hatte die Zeitung ja keinen Aufruf veröffentlicht, mich zu verhaften. Und nach allem, was ich über die Moral der Funktionale wusste, mischten sie sich nicht in die Angelegenheiten anderer ein. Ein Gastronomenfunktional kocht, ein Friseurfunktional schneidet Haare, ein Polizistenfunktional schnappt Leute und lässt sie nicht wieder frei.
Auf der ebenen Fläche gestaltete sich das Vorwärtskommen absurderweise viel schwieriger. Auf dieser Seite der Berge lag Schnee. Nicht sehr hoch, meist bis zu den Knöcheln, höchstens bis zu den Knien. Trotzdem behinderte er mich. Ich ließ den Kopf aber nicht hängen und durchpflügte eine Zeit lang weiter ungebrochenen Muts den Schnee.
Bis ich bemerkte, wie die Dunkelheit hereinbrach.
Dem Stand der Sonne zufolge blieben mir bis zum Einbruch der Nacht noch drei, vier Stunden. Nach seiner kurzen Verschnaufpause legte der Wind erneut los, noch dazu mit frischer Kraft. Die Wolken zogen sich in einem absolut undurchdringlichen Streifen am Himmel zusammen. Bald würde an Stelle der Sonne nur noch ein matter Fleck am Firmament stehen. Der Schnee fiel in schweren Flocken, fast schon Klumpen. Außerdem wurde es kälter, entgegen allen »zuverlässigen« Regeln, wonach es wärmer wird, sobald es schneit. Offenbar galten diese Regeln nicht für Janus.
Stur setzte ich meinen Weg fort. Es wurde immer dunkler, seit einiger Zeit schon nahm mir der Schneevorhang jede Sicht auf den Turm des unbekannten Zöllners. Ich stapfte weiter. Meine Beine blieben immer wieder im Schnee stecken. Meine Hände erfroren in den Fäustlingen. Als ich kurz stehen blieb und durchatmete, bemerkte ich, dass die Strickmütze auf meinem Kopf schweißgetränkt war. Ich nahm sie ab, warf sie nach kurzem Zögern einfach weg und schnürte stattdessen die Kapuze enger. Ich holte die Reste der in der Eiseskälte zerbröckelten Schokolade aus meinem Rucksack und aß sie auf. Dann biss ich ein Stück von dem angefrorenen Speck ab und trank den Tee aus der Thermoskanne aus. Er war inzwischen kalt.
Nach meinen Berechnungen lag höchstens noch ein Kilometer vor mir. Selbst wenn ich knietief im Schnee einsank und selbst wenn der Sturm anhielt, dürfte das nicht länger als eine halbe Stunde dauern. So ausgelaugt war ich noch nicht, den Kilometer würde ich noch schaffen.
Hauptsache, ich verlief mich nicht. Hauptsache, ich verfehlte den Turm nicht, lief nicht zehn Schritte entfernt an ihm vorbei.
Aber müssten mir hier nicht meine früheren Fähigkeiten helfen? Wenigstens ein bisschen! Ich hatte doch mal instinktiv gespürt, wohin ich gehen musste, hatte den Abstand zu meinem Turm mal auf den Meter genau angeben können!
Während ich weiterging, schneite es immer heftiger, wurde die Sicht immer schlechter. Ich harkte mit den Händen durch den grauen Vorhang, tastete mich vor, als ob ich in Gelee schwimmen würde, blieb alle fünf Minuten stehen, spähte umher und versuchte, etwas zu erkennen, ein Licht, eine Mauer, eine schwarze Silhouette am Himmel...
Nichts. Unter mir Schnee. Über mir Schnee. Um mich herum Schnee. Und die Dunkelheit, die immer mehr zunahm.
Beim nächsten Halt hockte ich mich hin und presste die Hände gegen die Brust. Um mich herum tobte graue Kälte. Der Schneesturm, der mir anfangs pikende Körner ins Gesicht getrieben hatte, ließ zwar nicht nach, aber seine Berührungen wirkten jetzt sanfter, fast zärtlich.
So fängt es an, wenn man erfriert ...
Ich zog die Handschuhe aus und ließ sie entgegen allen guten Vorsätzen fallen, rieb mir lange die Augen und massierte mir die Wangen. Auf meinen Lidern hatte sich eine Eiskruste gebildet. Die Haut an meinen Wangen war bereits ganz taub und fühlte sich grob wie Zeltleinen an.
Ich hasse Kälte...
Als ich mir die Handschuhe wieder überstülpen wollte, fand ich sie nicht mehr. Der Wind musste sie weggeweht haben. Sie konnten hundert Meter entfernt liegen, aber auch nur einen. Egal, so oder so sah ich sie nicht.
Ich brach in schallendes Gelächter aus, denn für einen Schrei reichte meine Kraft nicht mehr.
Hatte ich es also doch nicht bis zum Turm geschafft. Hatten sie am Ende doch gesiegt. Die Labormaus, die aus einem der Käfige hatte ausbrechen können, war eben längst noch nicht in Sicherheit. Labormäuse überleben in freier Natur nicht. Und man braucht sie nicht mal zu jagen...
Zusammengekrümmt, das Gesicht aus dem Wind gedreht, lieferte ich mich wieder den Naturgewalten aus. Ich rieb mir mit der bloßen Hand übers Gesicht, versuchte meine Hand mit meinem Atem warmzuhauchen. Alle Kräfte waren auf ein Ziel gerichtet: nicht hinfallen. Denn wenn ich fiel, würde ich einschlafen. Sofort. Für immer.
Andererseits: Warum focht ich diesen Kampf überhaupt noch weiter?
Am Ende würde es ja doch auf meinen Tod hinauslaufen.
Das war so dumm. Die gesamte Strecke hatte ich bereits hinter mich gebracht. Diese beschissenen Hügel mit ihren dämlichen Hydrolakkolithen und dem Thermokarst hatte ich überquert.
Und dann hatte ich mich verlaufen. Vielleicht loderte zehn Meter von mir entfernt hinter der Steinmauer ein Feuer im Kamin, trank der Zöllner heißen Glühwein und schaute genussvoll ins wilde Schneetreiben hinaus ...
Der Wind zerrte heftig an meinem Arm. Indem ich mich mit einer Hand im Schnee abfing, verhinderte ich einen Sturz. Doch schon schubste er mich erneut. Anschließend packte er mich allerdings unter den Achseln und stellte mich wieder auf die Beine.
Der ... Wind?
Röchelnd spähte ich in die Dunkelheit. Meine eisverkrusteten Wimpern und die Dunkelheit ringsum machten es jedoch unmöglich, irgendwas zu erkennen. Einen Fuß vor den anderen setzen - das war das Einzige, womit ich dem Menschen, der mich da durch die Finsternis zog, zu helfen vermochte.
Aber wie kam ich eigentlich darauf, dass es ein Mensch war? Vielleicht handelte es sich auch um eines der hiesigen Monster. In Kimgim gab es Kraken, auf Janus vielleicht Eisbären ... wie sie Santa Claus vor seinen Schlitten gespannt hatte ... ach, nein, das waren ja Rentiere ... aber unser Väterchen Frost, dieser Kraftprotz ... zu dem könnten statt der Pferde durchaus Eisbären passen.
Mein Kopf hatte sich bereits abgemeldet. Meine Beine konnte ich kaum noch bewegen, tiefer und tiefer glitt ich in die Bewusstlosigkeit ab.
Mein letzter und zugleich schrecklichster Gedanke war: Und was, wenn ich das alles bloß träume?
Der Alkohol verbrannte meine Kehle, ein flüssiges Feuer rann mir die Speiseröhre hinunter. Keuchend und hustend stemmte ich mich auf die Ellenbogen hoch. Tränen schossen mir in die Augen, die ich beim besten Willen nicht weggeblinzelt kriegte. Das Einzige, was ich zweifelsfrei erkennen konnte, war, dass ich mich in einem Zimmer befand.
Ich lag auf einem groben, kratzigen Teppich, meine Sachen türmten sich neben mir. Der Mann, der mir den Alkohol eingeflößt hatte, zog mir gerade die Hose aus. Ich nahm nur seine Silhouette insgesamt wahr; etwas zu fokussieren, gelang mir immer noch nicht.
»Danke, Landsmann«, murmelte ich.
»Wieso Landsmann?«
»Wer sonst« - ich holte Luft - »würde einem erfrorenen Menschen ... reinen Alkohol geben.«
»Dann schon eher Landsmännin.« Eine Frau beugte sich über mich. Eine schlaksige Frau mit freundlichem Gesicht, noch jung, vielleicht Anfang zwanzig. Sie erinnerte mich an Nastja, nur dass sie irgendwie schlichter wirkte. Die unsichtbare Grenze, die zwischen einer atemberaubenden und einer hübschen Frau verläuft, hatte mich immer frappiert. Dasselbe Oval des Gesichts, dieselbe Form der Augen und der Nase, alles ist irgendwie ähnlich, doch ein paar Millimeter, die das Auge nicht mal wahrnimmt, verändern alles grundlegend.
Gerade diese Grenze zwischen schlichtem Liebreiz und Schönheit erlaubt es Frauen wiederum, mit ein paar Gramm Schminke wahre Wunder zu vollbringen.
Eine Zeit lang musterte die Frau mein Gesicht, dann nickte sie zufrieden. »Die Ohren werden dir vermutlich nicht abfallen. Kannst du gehen? Wenn es nicht weit ist?«
»Selbstverständlich!«, behauptete ich in übertrieben munterem Ton und versuchte aufzustehen. Die Frau bot mir ihre Schulter an. Selbst eine schlanke Figur hinderte ein Funktional weiblichen Geschlechts ja nicht, über Kräfte zu verfügen, die dem Ringer Iwan Poddubny zur Ehre gereicht hätten.
Weit hatten wir’s wirklich nicht, nur bis zum Bad. Einen Stock rauf und durch einen kurzen Korridor. Auf dem Weg dahin versuchte ich, meinen Brechreiz zu unterdrücken. Der Alkohol rumorte widerlich in meinem Magen, als habe er sich dort in einen Klumpen ekligen und zähen Kleisters verwandelt. Zweimal hatte ich bisher in meinem Leben reinen Alkohol getrunken, das erste Mal als Jugendlicher, als ich mit meinem Vater auf Jagd ging (ja, genau, so eine typisch russische Jagd, deren Ziel keinesfalls in der Tötung unglücklicher Tierchen besteht). Damals hat er mir »einen Schluck zum Aufwärmen« gegeben, nachdem wir in einem herbstlich kalten Fluss gebadet hatten. Das andere Mal hatte ich reinen Alkohol getrunken, als ich bereits erwachsen war. Eines Abends hatten meine Freunde und ich eine Flasche Wodka geleert, worauf wir - sämtlichen Erwartungen entsprechend - das Gelage fortsetzen wollten, jedoch zu faul waren, zum nächsten auch nachts offenen Supermarkt zu pilgern. Deshalb suchten wir eine Apotheke auf, die rund um die Uhr geöffnet hatte und gleich nebenan war, um einige Fläschchen mit einer »antiseptischen Flüssigkeit« für zehn Rubel das Stück zu erwerben, ein widerliches Zeug, das wir für reinen Äthylalkohol hielten, diese Freude aller Moskauer Saufbrüder ... Das Komischste daran war, dass wir in derselben Apotheke eine Flasche Perrier sowie einige heilkräftige, besonders pure Gemüsesäfte aus Deutschland kauften, um den Alkohol herunterzuspülen. Mineralwasser und Gemüsesäfte kamen uns weitaus teurer zu stehen als normaler Wodka. Vielleicht war der Alkohol damals nicht ganz so rein, vielleicht bekam den gesunden Säften aus Deutschland eine derartige Beimengung auch nicht und sie verbanden sich mit dem Alkohol zu einem Giftgebräu - jedenfalls wachte ich am nächsten Morgen mit dem schlimmsten Kater meines Lebens auf, der mich ein für alle Mal vom reinen Alkohol abbrachte.
Das Badezimmer der Frau überraschte mich mit unvorstellbarem Luxus. Selbst jetzt, wo ich vor Schwäche halbtot war, brachte ich murmelnd meine Begeisterung zum Ausdruck, kaum dass wir den funkelnden runden Saal betraten. Marmorwände, Bronzelampen, eine riesige, in den Boden eingelassene runde Wanne mit heißem Wasser, aus der Dampf aufstieg ...
»Zieh dir die Unterhose aus und steig ins Wasser«, befahl die junge Frau. »Ich komme gleich wieder.«
Ich genierte mich nicht, auch wenn an mir die traurige Vorahnung nagte, diese offen zur Schau gestellte Nacktheit würde jede Möglichkeit einer zukünftigen romantischen Beziehung im Keim ersticken. Welche Frau würde sich schon in einen Mann verlieben, der sich seinen abgefrorenen Arsch in ihrer Wanne aufwärmte?
Auf der anderen Seite: Wieso rechnete ich mir bei der Frau überhaupt Chancen aus? Sie war ein Zöllnerfunktional, ich ein Verbrecher auf der Flucht ... Ich konnte von Glück sagen, wenn sie mich nicht ans Messer lieferte.
Als ich in das heiße Wasser eintauchte, stöhnte ich vor Vergnügen auf. Die Größe der Wanne erlaubte es, dass ich mich lang ausstreckte. Auf dem Wasser schwamm ein kleines hermetisches Pult. Nach ein paar Experimenten mit den Knöpfen knipste ich in der Wanne erst ein Licht ein, dann wieder aus (mir stand der Sinn nicht nach dieser intimen Beleuchtung), bevor ich eine Wassermassage in Gang setzte: Vom Wannenboden schossen fadenförmig Luftblasen auf. Nicht dass mich plötzlich die Sehnsucht nach dem schönen Leben gepackt hätte, ich fühlte mich in dem sprudelnden, trüben Wasser einfach unbefangener.
Nach ein paar Minuten kehrte die Frau mit einem großen Becher Tee zurück. Dankbar nickend, trank ich ein paar Schluck. Der Tee war heiß und mit Honig gesüßt. Angeblich vernichtet ja heißer Tee die Heilkräfte des Honigs, aber das war mir egal.
»Und wie heißt du, Landsmann?«, wollte die Frau wissen, die jetzt neben der Wanne hockte. Sie trug abgewetzte Jeans und ein übergroßes kariertes Hemd und lief barfuß herum. Im Kino warten Frauen wie sie auf ihrer Ranch auf einen mutigen Cowboy ...
»Kirill.« Ich verzichtete auf eine Lüge.
»Hast einen seltenen Namen ... Landsmann.« Aus ihrer Stimme hörte ich Ironie heraus.
»Wie heißt du denn?«, fragte ich argwöhnisch zurück.
»Marta.«
»Ein ganz normaler Name.« Ich zuckte die Achseln.
»Wieso, gibt es den in Russland?«, fragte Marta verwundert.
»Ja ... wenn auch nicht oft ... Du bist also keine Russin?«
»Ich bin Polin!« Mit meiner Vermutung hätte ich mir beinahe ihren Zorn zugezogen.
»Verstehe.« Ich nickte. »Darauf hätte ich auch selbst kommen können. Außer Russen und Ukrainern sind nur noch Polen imstande, einem lebenden Menschen reinen Alkohol einzuflößen.«
»Ich kann nicht gerade behaupten, dass mich die Ähnlichkeit freut«, teilte Marta mir gallig mit. »Was ist mit deinen Fingern? Und deinen Zehen? Kribbeln die?«
Ich bewegte erst die Zehen, dann die Finger. »Alles in Ordnung«, beruhigte ich sie. »Allem Anschein nach bin ich noch mal mit heiler Haut davongekommen. Danke, dass du mich in den Turm gebracht hast.«
»Ich habe dich nirgendwo hingebracht.« Marta holte aus ihrer Brusttasche eine eingedrückte Schachtel Zigaretten und ein Feuerzeug. »Du bist allein reingekommen.«
Kurzerhand zündete sie gleich zwei Zigaretten an. Schon wieder eine Szene wie aus einem Film. In alten Hollywoodfilmen hatte ich sie hundert Mal gesehen, in der Realität aber noch nie. Ohne mich vorher zu fragen, steckte sie mir eine Zigarette in den Mund. Genüsslich nahm ich den ersten Zug. Meine letzte Zigarette hatte ich noch in Charkow geraucht.
Der Tabak war stark. Ich schielte auf die Schachtel.
Die Marke kannte ich nicht. Eine polnische, offensichtlich eine billige.
In dem Moment fiel bei mir der Groschen.
»Ich bin selbst hier reingekommen?«
»Ja. Es hat an der Tür geklopft, da habe ich aufgemacht. Du bist dann zusammengebrochen. Wieso fragst du?«
»Ich kann mich nur noch erinnern, wie ich deinen Turm gesucht habe und schon halb erfroren war«, log ich, ohne mit der Wimper zu zucken. Genauer gesagt: Ich log nicht, sondern gab nur einen Teil der Wahrheit preis. »Ich war überzeugt, dass ich erfrieren würde.«
»Nein, du hast es aus eigener Kraft geschafft.« Marta schaute mich nachdenklich an. Anscheinend spürte sie, dass noch etwas in der Luft hing ...
»Reden wir eigentlich Polnisch oder Russisch miteinander?«, fragte ich.
»Russisch«, antwortete sie verärgert. »Als ob du nicht wüsstest, dass ein Zöllner mit jedem in seiner Muttersprache sprechen kann.«
»Ach ja.« Ich nickte. »Hast du die Zeitung schon gelesen?«
»Ja.«
»Und was gedenkst du jetzt zu unternehmen?«
»Wie heißt das doch noch gleich in euern Märchen?« Marta runzelte die Stirn. »Erst werde ich den jungen Helden im Dampfbad schwitzen lassen, dann mäste ich ihn, dann fress ich ihn ...«
»Mit der Hexe Baba Jaga hast du nun wahrlich keine Ähnlichkeit«, versicherte ich ihr. »Bist du schon lange Zöllnerin?«
»Seit neun Jahren. Als ich anfing, war ich noch das reinste Kind.« Sie inhalierte den Rauch fast so tief wie ein Mann. Neugierig betrachtete sie mich. »Komm wieder zu Kräften und geh, wohin du willst. Ich werde dich nicht aufhalten. Aber ich werde dich auch nicht verstecken, darüber solltest du dir klar sein!«
»Ich bin dir wirklich dankbar«, sagte ich ehrlich. »Wohin führen deine Türen?«
»Nach Elblag.«
»Kenn ich nicht ...«, nuschelte ich. »Ist das da, wo auch Kimgim ist?«
»Elblag ist eine Stadt in Polen!« Ich hatte den Eindruck, Marta verübelte mir meine Unbildung ein wenig. »Außerdem nach Janus. Nach Antik. Und nach Erde-16.«
»Was für eine Welt ist das?«, erkundigte ich mich.
»Bist du aufgetaut?«
»Hmm.«
»Dann komm raus. Zieh was über ...« Sie nickte in Richtung der Bademäntel, die an den Haken hingen, und verließ das Bad.
Der eine Bademantel war für Frauen, rosa mit aufgeprägtem Ornament, der andere für Männer, in Dunkelblau. Ich schielte zum Becher mit den Zahnbürsten rüber. Es waren zwei. Marta führte offensichtlich kein Eremitendasein.
Ohne Scham oder Ekelgefühl schlüpfte ich in den fremden Bademantel und folgte Marta. Das Bad und der Tee hatten mich durchgewärmt und mir die Lebensgeister zurückgegeben. Ein Rennen über hundert Meter würde ich noch nicht durchstehen, aber ich brauchte mich auch nicht mehr auf fremde Schultern zu stützen.
Neun Jahre sind neun Jahre. Wenn mein Turm mir kein richtiges Zuhause geworden war - dafür hatte ihm einfach die Zeit gefehlt -, dann war bei Marta alles komplett eingerichtet und gemütlich. Das Erdgeschoss musste ursprünglich ein ähnlich riesiger Saal wie bei mir gewesen sein, wurde jetzt aber von Regalen in zwei Zimmer unterteilt, die ihrerseits mit den unterschiedlichsten Sachen vollgestopft waren, angefangen von Töpfen mit bunten Blumen oder Kartons mit Limonade und Bier bis hin zu irgendwelchem Metallkram zweifelhaften Ursprungs und zusammengeknüllter, schmutziger Wäsche. Das allgemeine Chaos machte jedoch irgendwie den Eindruck von Gemütlichkeit und Bequemlichkeit. Über die Stufen der Treppe, die in den ersten Stock hinaufführte, schlängelte sich ein schmaler Webteppich. Weitere Läufer im Landhausstil bedeckten den Boden. Ich bemerkte noch eine Schale mit Milch, also musste hier auch eine Katze leben ...
»Komm her«, rief mich Marta.
Ich stellte mich zu Marta neben eine Tür. Sie riss sie weit auf. »Das ist Elblag«, verkündete sie.
Unwillkürlich hüllte ich mich fester in den Bademantel und trat etwas von der Tür zurück. Vor mir lag eine abendliche Stadt mit alten Häusern, Kopfsteinpflaster, altmodischen Straßenlaternen und Menschen, die an herausgestellten Tischen vor den Cafés saßen. Die Tür führte auf einen kleinen Platz voller Menschen.
»Es ist sehr hübsch«, versicherte ich. »Ist das das Stadtzentrum?«
»Ja.« Marta schloss die Tür wieder und ging zur nächsten, die sie mit der Ankündigung: »Janus!« öffnete.
»Das hätte ich auch so erkannt«, sagte ich, während ich in das Schneegestöber hinausstarrte. Durch die Tür wogte kalter Wind. Allein bei dem Gedanken, ich könnte in diesem Augenblick in jener Eishölle liegen, leichenstarr und mit aufgerissenen, vereisten Augen in die Dunkelheit blickend, zuckte ich zusammen. »Mach die Tür wieder zu!«
Zum ersten Mal hatte Marta einen ansatzweise mitleidigen Blick für mich übrig. Sie schloss die Tür. »Eine ekelhafte Erde, stimmt schon«, murmelte sie vor sich hin. »Im Sommer ist es nicht viel besser. Weißt du, dass da Menschen leben?«
Ich schüttelte den Kopf. »Mir hat man gesagt, Janus sei unbewohnt.«
»Einmal habe ich im Sommer ein Segel auf dem Fluss gesehen«, erzählte mir Marta. »Ein Boot, ganz erbärmlich. Nicht wie unsere. Dann gibt es noch wilde ...« Sie dachte kurz nach, bevor sie unsicher fortfuhr. »... Ziegen. Zumindest sehen sie noch am ehesten wie Ziegen aus. Ich habe mal eine erlegt, die sowieso ständig hinter der Herde zurückblieb, stolperte und fiel. In ihrem Hinterteil ...« Marta klopfte sich auf den eigenen straffen Hintern. »... steckte ein Pfeil. Mit einer Spitze aus Knochen.«
Etwas in ihrer Stimme überzeugte mich. Ungeachtet der Meinung der anderen Funktionale glaubte ich ihr, dass es auf Janus intelligentes Leben gab. Vielleicht Säugetiere, die über den Planeten zogen, und Wilde, die ihnen folgten. Denkbar war dergleichen. Irgendwelche ewigen Wanderer des Frühlings - nein, wohl eher des Herbsts -, die sich an der Grenze zwischen dem mörderischen Winter und dem sengenden Sommer eingerichtet hatten und sich von den Früchten ernährten, die ihnen diese unwirtliche Erde bot. Brüder aus einer Nachbarwelt. Wie sie wohl waren? Ob wir uns mit ihnen verständigen könnten? Anfreunden? Ob wir ihnen irgendwie helfen und etwas von ihnen lernen könnten?
Die Funktionale interessierten derartige Fragen nicht.
»Mitunter frage ich mich, ob nicht jede Welt des Multiversums besiedelt ist«, sagte Marta, fast als hätte sie meine Gedanken gelesen. »Nur sehen wir diese Menschen nicht in jedem Fall. Vielleicht wollen sie gar nicht, dass wir sie entdecken. Schließlich erkunden wir eine Welt nicht, wenn sie uns nichts zu bieten hat ...«
Sie trat an die dritte Tür heran und blieb nachdenklich vor ihr stehen. »Bist du mal auf Antik gewesen?«, fragte sie mich.
»Nein. Aber ich habe schon einiges darüber gehört.«
»Eine komische Welt.« Sie schnaubte. »In der würdest du nicht weit kommen. Sobald du durch die Tür treten würdest, würden ihre Bewohner auf dich aufmerksam werden.«
Hinter der dritten Tür war Tag, ein sonniger warmer Tag. Die Tür führte in eine schmale Gasse mit Steinhäusern - und zwar richtigen, nicht aus Ziegeln erbauten, sondern eben aus Stein -, die grob, aber solide wirkten, mit schmalen Spalten, bei denen es sich ebenso gut um unverglaste Fenster wie Schießscharten oder Lüftungsöffnungen handeln konnte.
»Das sind Warenlager«, erklärte Marta.
Das hatte ich auch schon geschlussfolgert. Die Portale fanden sich meist an unbewohnten Orten, die Tür nach Elblag, die in einen belebten Platz mündete, stellte eher eine Ausnahme von dieser Regel dar. Ach ja, und mein Turm, der hatte auch nicht gerade am entlegensten Fleckchen Moskaus gestanden. Anscheinend konnte der Durchgang in der Heimatwelt des Zöllners also an jedem x-beliebigen Punkt liegen. Beim Vordringen in andere Welten sollte er jedoch vorsichtig sein und sich abseits halten ...
»Wer sollte mich denn bitte schön hier bemerken?«, wollte ich wissen.
»Zum Beispiel diejenigen, deren Schritte du schon hören kannst, wenn du mal die Ohren aufmachen würdest.«
In der Tat, jetzt vernahm auch ich Schritte. Am Haus gingen zwei Männer vorbei, anscheinend ohne die Tür zu bemerken, ein dunkelhäutiger, muskulöser Kerl in einem weiten, weißen Hemd und weißen Hosen sowie ein Greis in dunklem Umhang. Aus unerfindlichen Gründen waren beide barfuß. Der jüngere hatte ein längliches, graues Etwas von offenkundig einigem Gewicht geschultert und erinnerte mich deshalb an einen Panzerbüchsenschützen aus einem Entwicklungsland, der seine »Vampir« oder »Tawolga« zum Einsatzort bringt. Den Eindruck machte allerdings der goldene Ring zunichte, der sich um seinen Hals spannte, mit einem versponnenen Muster verziert und anscheinend mit Brillanten besetzt war.
»Was sind das denn für welche?«, fragte ich, vom Anblick völlig gebannt. Bis auf die unglückseligen Bewohner Nirwanas und die Einwohner Kimgims, die sich sehr gut mit uns vergleichen ließen, hatte ich noch keine Menschen in anderen Welten zu Gesicht bekommen.
»Ein Herr mit seinem Sklaven«, antwortete Marta. »In der Nähe ist das Lager der Sargmacher. Der Mann ist offensichtlich nicht sehr reich, deshalb hat er eine Knochenurne vorab gekauft, ein großes Ding, aber ohne Gravur ... und vermutlich auch im Preis herabgesetzt.«
Ich schielte zu Marta hin. Ihr Gesicht wirkte völlig ernst.
»Und der Sklave, das ist der mit dem goldenen, brillantbesetzten Halsband?«, hakte ich nach.
»Wer sonst? Stört dich da etwas? Es ist halt ein reicher Sklave.«
»Und ein armer Herr? Kann er denn seinem Sklaven das Geld nicht einfach abnehmen?«
»Nein, das kann er nicht. Die Sklavenhaltergesellschaft hier ist sehr hochentwickelt. Ein Sklave darf durchaus Trüffel essen, Foie gras und schwarzen Kaviar, in einem weichen Federbett schlafen, Diener haben und sich Mätressen halten.«
»Und eigene Sklaven ...« »Nein«, widersprach Marta scharf. »Genau das darf er nicht. Das gehört zu den Privilegien eines Freien. Diese Gesellschaft ist wirklich seltsam.«
Ich schaute dem kräftigen Sklaven und dem Tattergreis nach. »Und die Knochen passen in dieses Gefäß?«
»Ja. Sie werden vorher zu Staub zermahlen. Zunächst überlässt man den Körper den Vögeln, Füchsen oder Fischen zum Fraß, das kann jeder nach Belieben entscheiden. Dann werden die Knochen eingesammelt, zerkleinert und in diesen Zylinder gegeben. Er wird auf dem Dach des Hauses aufgestellt oder auf dem Friedhof, falls das Haus nicht an Blutsverwandte vererbt wird.«
Ich erschauderte.
»Eine ungewöhnliche Welt«, bestätigte Marta. »Aber irgendwie kommen sie zurecht.«
Sie schloss die Tür und ging zum vierten und letzten Ausgang weiter. Da mir Erde-16, die einzige Welt, nach der ich mich erkundigt hatte, zum Dessert serviert wurde, machte ich mich auf einen erstaunlichen Anblick gefasst.
Dennoch hätte ich mir selbst im Traum nicht vorstellen können, wie erstaunlich er sein würde.
Es gab nur zwei Farben, rot und schwarz. Bis zum verblüffend nahen Horizont erstreckte sich eine zerklüftete Ebene. Vereinzelt erhoben sich glatte, vom Wind abgeschliffene Felsen aus rotem Gestein. Es roch nach Schwefel. Ein trockener heißer Wind trieb Staub über die Schwelle, roten und schwarzen.
Dunkelrot oder purpur war auch der Himmel, der tief und lastend über uns hing. Das sah nicht nach Wolken aus, eher nach einer straffen Membran, die sich hundert Meter über der Erde spannte. Ab und an leuchtete durch diesen purpurroten Baldachin hindurch ein helles Licht, als ob am Himmel ein lautloses Gewitter tobte.
»Herrgott!«, entfuhr es mir.
Aber was blieb mir anderes übrig, als mich an den nur hypothetisch existierenden Allmächtigen zu wenden? Sicher, ich hätte dreckig fluchen können. Aber in Gegenwart einer Frau ...?
»Mir kommt es auch manchmal so vor, als ob das die Hölle ist«, gestand Marta. Anscheinend interpretierte sie meinen Aufschrei allzu wörtlich.
Ich schielte zu ihr hinüber. Unverwandt starrte sie hinauf in den dunkelroten Himmel. Sie beleckte sich die Lippen, denn aus der schwarzroten Ebene wehte ein heißer, sengender Wind heran.
»Einmal habe ich gesehen ...«, setzte sie mit raunender Stimme an. »Also ich glaube, dass ich das gesehen habe. Dass etwas Weißes vom Himmel herabgefallen ist. Etwas ... wie ein großer weißer Vogel ...«
»Oder ein Mensch?«, fragte ich, denn ich ahnte, was sie dort gesehen hatte - oder glaubte, gesehen zu haben.
»Menschen haben keine Flügel«, antwortete Marta ausweichend.
»Bist du nicht rausgegangen, um es dir näher anzusehen?«
»Das Wesen war riesig. Doppelt so groß wie ein Mensch. Ich hatte Angst.« Lächelnd sah sie mich an. »Angeblich ist Erde-16 eine vulkanische Welt. Es wird empfohlen, von einem Besuch abzusehen. Jedem. Selbst den Funktionalen. Diejenigen, die sich weit ins Land vorgewagt haben, sind nie zurückgekommen.«
Die Ebene vor uns bebte merklich. Am Horizont schwoll langsam und träge eine Blase an, eine weiße Kuppel, die erzitterte und platzte. Über einen der roten Felsen mäanderte ein Riss.
Im Turm spürten wir nichts von dem Erdbeben - was das Ganze allerdings noch grauenhafter wirken ließ.
»Das kommt hier öfter vor ...« Plötzlich griff Marta nach meiner Hand. »Und jetzt auch noch das ...«
Über der Ebene erhob sich ein langes, gedehntes Heulen. Als ob tausend Stimmen zu einem gepeinigten und hoffnungslosen Klageschrei verschmölzen.
»Was ist das?«, fragte Marta. »Was um alles in der Welt ist das?«
Ich schluckte. In der Ferne verebbte der Schrei. Ich fühlte mich wie Doktor Watson, der Sir Henry eine Erklärung schmackhaft machen wollte, an die er selbst nicht glaubte, als ich sagte: »Vulkane erzeugen manchmal seltsame Geräusche ...«
Marta drehte sich mir zu. Einen Moment lang taxierte sie mich mit finsterem Gesichtsausdruck. »Ich habe die russische Verfilmung vom Hund von Baskerville auch gesehen«, kanzelte sie mich ab.
»Schon gut«, beschwichtigte ich sie. »Aber ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass du eine Tür in die Hölle geöffnet hast, wo Engel vom Himmel fallen und unter der Erde die sündigen Seelen klagen.«
Die nächsten Sekunden brachte Marta keinen Ton heraus.
Und dann lächelte sie und schloss die Tür. »Du hast starke Nerven«, konstatierte sie. »Fast jeder klappt bei dem Anblick zusammen. Vor allem wenn der Geysir gerade ausbricht.«
»Und worum handelt es sich bei dieser Erde wirklich?«
»Verbranntes Land. Fumarolen. Geysire. Vulkane. Du kriegst da kaum Luft. Ein ...« Sie stockte. »... ein Wissenschaftler hat mir mal erklärt, früher hätte unsere Erde ebenfalls so ausgesehen. Dann hätten sich die Wolken jedoch verzogen und die Vulkane seien erloschen. Aus irgendeinem Grund ist das auf Erde-16 nicht passiert. Die Welt taugt überhaupt nichts. Außerdem strahlt sie.«
»Bitte was?«
»Sie strahlt. Ist radioaktiv verstrahlt. Wie in Tschernobyl.«
»Stark?« Sofort wurde ich nervös. Marta konnte das ja egal sein, schließlich war sie ein Funktional, aber ich ...
»Nein. Du brauchst keine Angst zu haben. Wenn du nicht dort lebst, nicht auf der Erde schläfst und die Luft nicht lange einatmest, passiert dir nichts.«
Anscheinend hatte ich bei Marta Pluspunkte gemacht, nachdem ich mich von der gespenstischen Szenerie auf Erde-16 nicht hatte einschüchtern lassen. Zumindest sah sie mich jetzt wesentlich freundlicher an. »Hast du Hunger?«, erkundigte sie sich sogar.
»Natürlich.«
»Gut. Dann treib ich jetzt ein paar Sachen für dich auf ...« Sie verstummte kurz, fuhr dann aber fort: »Und wenn du willst, lade ich dich nach Elblag zum Abendessen ein.«
»Ich bin nicht daran gewöhnt, dass mich Frauen einladen.«
»Na und?« Ich meinte aus ihrer Stimme eine gewisse Enttäuschung herauszuhören.
»Nichts, ich werd mich halt dran gewöhnen«, sagte ich seufzend.